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Weihnachten – das Fest der Liebe und der Missverständnisse

Lesezeit: 5 min
24.12.2022 08:00
Weihnachten, das Fest der Liebe, ist auch ein Fest voller Missverständnisse und vom Zeitgeist beeinflusster Rituale. Was uns Weihnachten wirklich lehren sollte berichtet Ronald Barazon in seiner Kolumne.
Weihnachten – das Fest der Liebe und der Missverständnisse
Szene aus einer Weihnachtskrippe. (Foto: dpa)

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Weihnachten ist die Periode mit der größten Anzahl von Ehescheidungen im Jahr. Das spüren die Rechtsanwälte schon in den Tagen davor. Zu den Feiertagen kracht es in vielen Familien besonders stark und so folgt eine weitere Welle zum Jahresschluss und im Januar. Warum? Geht es doch um das Fest der Liebe, also um das genaue Gegenteil von Scheidung.

Eine andere Frage: Warum bricht vor und zu Weihnachten ein Kaufrausch aus, warum müssen alle näheren und ferneren Verwandten, Freunde, Bekannte, Kollegen und beruflichen Kontakte beglückt werden? Unklar ist auch, was genau zu Weihnachten gefeiert wird? Die Geburt von Jesus. Was verbinden die Lieder singenden, Geschenke verteilenden und Braten verzehrenden Festteilnehmer mit Jesus? Wird überhaupt über Jesus nachgedacht?

Das I von „Ich liebe dich“ wird großgeschrieben, das d klein

Dass Weihnachten in vielen Familien nicht das Fest der Liebe ist, sondern das Fest des Streits, hat seinen nachvollziehbaren Grund. Alle erwarten Tage der Harmonie, des Zusammengehörens, der gegenseitigen Aufmerksamkeit, der Empathie, kurzum, der Liebe. Wie soll sich dieses Glück plötzlich ereignen, wenn das ganze übrige Jahr Gleichgültigkeit oder vielleicht sogar Aggression, also das genaue Gegenteil von Liebe, herrscht? Dieses Wunder findet nicht statt. Und wenn, vom Kerzen- und Lebkuchenduft berauscht, die Menschen einander um den Hals fallen, der Friede hält nicht lange. Womit beim Fest der Liebe ein elementares Grundproblem der Gesellschaft aufbricht. Es fehlt das Verständnis für den anderen, das Eingehen auf die Persönlichkeit des anderen.

Diese Feststellung für sich ist eine Beobachtung, aber keine Erklärung. Auch diesem Phänomen ist mit der Frage nach dem Warum zu begegnen. Der Grund liegt in dem Satz „Ich liebe dich“, in dem das Ich mit großem I und seit der letzten Rechtschreibreform das Du bezeichnender Weise mit kleinem d geschrieben wird. Der oder die Liebende erwartet von dem oder der geliebten Anderen, dass diese oder dieser die eigenen Erwartungen erfüllt, in der Weise Glück verbreitet, wie man es sich selbst vorstellt. Beim Start einer Beziehung scheinen die besten Voraussetzungen vorhanden zu sein. Bestätigen sich die Annahmen in der Praxis, dann kommt es zu den lang harmonisch anhaltenden, beglückenden Verbindungen, die auch zu Weihnachten tatsächlich feiern.

Ist dies nicht der Fall, dann wächst die Wut auf den Partner oder die Partnerin, die nicht entsprechen. Diese Wut macht sich vornehmlich dann Luft, wenn das Feiern der Liebe auf dem Programm steht. Da sieht man die Mängel überdeutlich und schlägt zu.

Besonders locker wird attackiert, wenn im Hintergrund eine vermeintlich wunderbare Alternative lauert. Dass gegenüber dieser so genannten Alternative der gleiche Fehler gemacht wird und nur das Ich zählt und nicht das Du, merken die Akteure auf dem trügerischen Weg zu einem besseren Leben nicht. Und marschieren prompt zum Scheidungsanwalt, beenden die aktuelle Pein, um einige Jahre später wieder in der gleichen oder einer anderen Anwaltskanzlei zu landen.

Geschenke zu Weihnachten sind kein Ersatz für Empathie im Lauf des Jahres

Ein verwandtes Phänomen ist der zu Weihnachten ausbrechenden Eifer, alle zu beschenken. Bei den näher stehenden Verwandten und Bekannten sind es möglichst teure Objekte, die den lange vernachlässigten Personen dargebracht werden. Die Schenkenden beobachten dann gespannt die Entfernung des mühsam angebrachten Schmuckpapiers und hoffen auf einen Aufschrei der Begeisterung, der aber nur verhalten und schal erklingt. Der schönste Diamant oder die teuerste Krawatte machen nun einmal den allwöchentlichen, gemeinsamen und sogar kostenlosen Ausflug in die Natur oder die trauten Sonntagsessen zu Hause nicht wett. Und die Enttäuschung der Schenkenden kippt in Wut.

Weniger dramatisch, aber nicht weniger peinlich, ist die Verteilung von so genannten kleinen Aufmerksamkeiten an Adressaten, die nur in den Genuss von Gaben kommen, weil sie auf Listen von vergessenen, aber doch bitte nicht zu vergessenden Komparsen im Leben der Schenkenden aufscheinen. Da werden in speziell für diesen Zweck geschaffenen Geschäften Objekte erworben, mit denen die Empfänger nichts anfangen können, die aber aufbewahrt werden, bis sie als lästige Staubfänger nach einiger Zeit doch entsorgt werden. Besser wirken Spenden, die zwar selten ehrlich den Adressaten gewidmet sind, sondern eher das eigene Wohltäter-Ego streicheln sollen, aber vielleicht einen guten Effekt haben.

In den Kinderzimmern sammeln sich die Reste einst kostbarer Geschenke

Eine Ausnahme in dieser sonderbaren Inszenierung sollten die Kinder bilden, die freudig erregt auf die Stunde der Geschenke warten. Allerdings bietet auch dieser Teil des Festes ein Zerrbild. Die Sprösslinge stürzen sich tatsächlich aufgeregt auf die Päckchen und Pakete unter dem Weihnachtsbaum. Allerdings nur, um zu überprüfen, ob das Christkind oder die Eltern tatsächlich und verlässlich das angeforderte, neueste I-Phone und die modernste Spielkonsole geliefert haben. In reichen wie in armen Haushalten werden die Kinder ständig mit Geschenken verwöhnt, sodass zu Weihnachten das laufend eingehaltene Niveau übertroffen werden muss. Schließlich ist Weihnachten etwas Besonderes.

Die Geschenkeflut verwandelt so manches Kinderzimmer in einen Ramschladen, in dem die amputierten Barbie-Puppen neben den kaputten Computern von vorgestern und den einäugigen Brummbären verkommen. Und all das nur, weil viele Eltern nicht mit den Kindern spielen, sondern sie versorgen, beschäftigen, abschieben und letztlich versuchen, sie mit Geschenken zu bestechen. Und wieder die Frage nach dem Warum? Weil zu viele sich nur mit sich selbst beschäftigen, mit dem Ich aus dem „Ich liebe dich“ und der Suche nach dem Glück, das neuerdings Lebensqualität heißt. Dabei würden sie die Erfüllung im spielenden, lernenden, erforschenden Zusammensein mit den Kleinen finden.

Jesus ist der Verkünder des Friedens. Die Erlösung erfolgt erst zur Endzeit der Menschheit

Weihnachten ist nicht nur eine Veranstaltung zum Kaschieren menschlicher Schwächen und zur Förderung des Einzelhandels. Weihnachten ist die Feier zur Geburt von Jesus, der in der christlichen Religion als der im Alten Testament den Juden verheißene Messias gilt, der die Welt von allem Übel erlösen wird. Beim Propheten Micha liest man: „Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk gegen das andere ein Schwert aufheben, und werden hinfort nicht mehr kriegen lernen.“

Der gleiche Satz steht bei Jesaja, der auch prophezeit: „Es wird da kein Löwe sein, und wird kein reißendes Tier darauf treten noch daselbst gefunden werden; sondern man wird frei sicher daselbst gehen.“ Und weiter bei Jesaja: „Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen und die Leoparden bei den Böcken liegen. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben.“ Für die Juden ist der Messias noch nicht gekommen, für die Christen ist es Jesus.

Im Jahr des Ukraine-Kriegs kann man leider nicht erklären, dass die Prophezeiungen der jüdischen Propheten erfüllt wären. Auch in den vergangenen zweitausend Jahren seit Jesus Geburt haben die Völker ständig gegen andere das Schwert erhoben und Kriege geführt. Somit wird Jesus vom Christentum auch nicht als der endgültige Erlöser verstanden, sondern als der Verkünder des Friedens auf Erden. Jesus werde zur Endzeit der Menschheitsgeschichte wiederkehren und alle zum Jüngsten Gericht rufen, bei dem die Gerechten belohnt und die Sünder bestraft werden.

Diese als Parusie bezeichnete Periode bis zur Wiederkehr des Erlösers eröffnet den Menschen die Möglichkeit, die Zeit zwischen der Geburt Jesus vor 2000 Jahren und dem nicht näher datierbaren Ende zu nützen, um den Frieden vorzubereiten.

Dieses Konzept trägt auch dem Umstand Rechnung, dass keine Person, sei sie noch so überragend, im Alleingang die Welt befrieden kann. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen jeder und jede Einzelne ständig an der Verbesserung der Lebensumstände arbeiten. Womit wir wieder bei den Schwächen der aktuellen Weihnachtsfeiern angekommen sind. Wie man nicht erwarten kann, dass ein Messias wie mit einem Zauberstab plötzlich für Frieden in der Welt sorgt, so ist auch ein Weihnachtsabend nicht in der Lage, die Scherben von Beziehungen zu kitten oder die fehlgeleitete Erziehung von Kindern zu korrigieren. Das sind Aufgaben, die laufend zu erledigen sind, und deren Erfüllung man, wenn man will, zu Weihnachten feiern kann.

Die Verkündung der bereits erfolgten Erlösung ist kontraproduktiv

In diesem Sinne ist es auch schlüssig, die Geburt Jesus zu feiern, also die erste Ankunft des Messias auf Erden, die den Auftakt zum verkündeten Friedensprozess bedeutet. Leider bezeichnet die christliche Religion den Tod Jesus am Kreuz als die schon erfolgte Erlösung. Diese Deutung verleitet zur Annahme, dass der, die Einzelne keine besondere Leistung mehr zu erbringen habe, nachdem die entscheidende Aufgabe ohnehin schon erfüllt sei. Unter dem Motto: „Man muss ohnehin nichts tun, für die Erlösung ist schon gesorgt.“ Auf diese Weise findet eine Einladung zum Schlendrian statt, zur Missachtung der eigentlichen Aufgabe des Menschen, auf die Erde und ihre Bewohner zu achten. Eine ähnliche Wirkung haben auch die Prophezeiungen des Alten Testaments, wenn verkündet wird, dass eines Tages der Messias alle Probleme lösen und für Frieden sorgen werde.

Es wäre hilfreich, würden die beiden Religionen und mit ihnen auch alle anderen ständig verkünden, dass die Menschen auf Erden Respekt und Empathie für einander und den Globus zu pflegen haben und selbst konstruktive Leistungen erbringen müssen. Ein derartiges Verhalten sollte in den Kirchen, Synagogen, Moscheen und Pagoden als gottgefällig gepriesen werden, statt auf die Einhaltung von oft sinnentleerten Ritualen zu pochen.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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