Politik

Wahl-Krimi in der Türkei: Entscheiden Deutschland-Stimmen über Erdogans Schicksal?

Lesezeit: 4 min
15.05.2023 10:36  Aktualisiert: 15.05.2023 10:36
Das Rennen um das Präsidentenamt zwischen Amtsinhaber Erdogan und seinem Herausforderer Kilicdaroglu war knapp - und geht wohl in eine zweite Runde. Am Ende könnten die Stimmen der Deutschtürken das Zünglein an der Waage sein.

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Nach 20 Jahren an der Macht muss sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan voraussichtlich erstmals einer Stichwahl stellen. Beim Stand von rund 95 Prozent der ausgezählten Wahlurnen im Inland und rund 37 Prozent im Ausland liege Erdogan bei 49,49 Prozent der Stimmen, sagte der Chef Wahlbehörde, Ahmet Yener, in Ankara am Montagmorgen (Stand 3.00 Uhr MESZ).

Erdogan unter 50-Prozent-Marke gefallen

Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu kam demnach auf 44,79 Prozent. Beide verfehlten damit die absolute Mehrheit von 50 Prozent. Die Endergebnisse wurden noch nicht verkündet. Es war unklar, wann damit zu rechnen ist.

Der Termin für eine Stichwahl ist der 28. Mai, Wählerinnen und Wähler mit türkischem Pass in Deutschland und anderen Ländern würden bereits zwischen dem 20. und 24. Mai ihre Stimme abgeben können.

Dem Drittplatzierten Sinan Ogan von der ultranationalistischen Ata-Allianz könnte bei der Stichwahl eine wichtige Rolle zukommen, sollte er eine Wahlempfehlung abgeben. Ogan wertete daher sein schwaches Abschneiden (rund 5,3 Prozent) als Erfolg. Mit seinen Anhängern will er nun beraten. „Wir werden niemals zulassen, dass die Türkei in eine Krise gerät“, sagte Ogan in der Nacht zu Montag.

Erdogans Regierungsallianz liegt bei Parlamentswahl vorn

Die Wahlbehörde gab das Ergebnis der Parlamentswahl zunächst nicht bekannt. Es zeichnete sich jedoch ab, dass Erdogans Regierungsallianz ihre Mehrheit verteidigen konnte. Der Präsident hat seit der Einführung eines Präsidialsystems 2018 weitreichende Befugnisse, das Parlament mit seinen 600 Abgeordneten ist dagegen geschwächt.

Die Wahl galt als richtungsweisend. Es wird befürchtet, dass das Nato-Land weitere fünf Jahre unter Erdogan noch autokratischer werden könnte. Kilicdaroglu trat als Kandidat für ein breites Bündnis aus sechs Parteien an. Er verspricht die Rückkehr zu einem parlamentarischen System, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Auch international wurden die Entwicklungen in der Türkei aufmerksam beobachtet wegen ihrer Bedeutung für Konflikte in der Region wie dem Syrien-Krieg und für das Verhältnis zur EU und Deutschland. Schon zu Beginn der Abstimmung gab es Zweifel an den von der Staatsagentur Anadolu veröffentlichten Zahlen.

Die oppositionellen Bürgermeister der Metropolen Istanbul und Ankara beschuldigten die Regierung, die Werte von Erdogan zu schönen. Kilicdaroglu warf Erdogans Partei AKP vor, die Auszählung in Hochburgen der Opposition mit Einsprüchen zu blockieren. Erdogan warf der Opposition wiederum „Raub des nationalen Willens“ vor.

Erdogan angezählt – Opposition kämpferisch

Auch wenn Erdogan in zwei Wochen noch immer gewinnen kann – für den 69-Jährigen ist das Ergebnis ein Rückschlag. Seit er 2003 zunächst zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, hat er jede landesweite Wahl gewonnen. Seit 2014 ist er Staatspräsident. Die Aura des Unbesiegbaren geht ihm durch die Stichwahl verloren. Erdogan zeigte sich in der Nacht zu Montag dennoch gut gelaunt vor jubelnden Anhängern in Ankara und stimmte ein Lied an.

Der 74-jährige Kilicdaroglu trat in der Nacht gemeinsam mit den Parteichefs seines Sechser-Bündnisses vor die Presse. „Erdogan hat trotz seiner Diffamierungen und Beleidigungen nicht das Ergebnis erreicht, das er sich erwartet hatte“, sagte er. Alle Seiten sehen sich nun mit einer vollkommen neuen Situation konfrontiert – eine Stichwahl gab es noch nie. Der Präsident wird erst seit 2014 direkt vom Volk gewählt.

Alle Augen schauen nun auf die Große Nationalversammlung in Ankara. Erdogans islamisch-konservative AKP und ihr ultranationalistischer Partner MHP werden dort ihre absolute Mehrheit voraussichtlich halten können.

Kommt es zur Regierungskrise?

Sollte Kilicdaroglu bei einer Stichwahl gewinnen, könnten sich Parlament und Präsident theoretisch blockieren, was zu einer Regierungskrise führen könnte. Erdogan scheint dieses Szenario schon für den Wahlkampf in den zwei Wochen vor der Stichwahl nutzen zu wollen. Er sei sich sicher, dass die Wähler in einer Stichwahl „Sicherheit und Stabilität“ bevorzugten, sagte er in der Nacht.

Zwar kann der Präsident ohne Zustimmung des Parlaments ein Dekret erlassen, verabschiedet das Parlament aber ein Gesetz zum selben Thema, würde das Dekret ungültig. Es kommen in jedem Fall schwierige zwei Wochen auf die Türkei zu. Die Landeswährung Lira könnte durch die unsichere Situation weiter an Wert verlieren.

Der Wahlkampf stand auch im Zeichen des verheerenden Erdbebens vom 6. Februar in der Südosttürkei. Wie hoch die Wahlbeteiligung in den betroffenen Regionen war, wird sich am Ende der Auszählung zeigen. Die Wahl lief nach einer ersten Einschätzung der zuständigen Behörde ohne Probleme ab. Oppositionspolitiker meldeten kleinere Zwischenfälle aus verschiedenen Provinzen.

Entscheiden die in Deutschland lebenden Türken die Wahl?

Der Wahlkampf galt als unfair, auch wegen der medialen Übermacht der Regierung. Erdogan hatte die Opposition scharf attackiert und seinen Gegner etwa als „Säufer“ und „Terroristen“ bezeichnet. Die Opposition hielt mit einer positiven Kampagne dagegen. Auch vor der Stichwahl wird Erdogan auf die meisten Medien und die Regierungsmehrheit im Parlament bauen können.

Erdogan wirbt vor allem mit Wahlgeschenken, wie der Erhöhung von Beamtengehältern und Großprojekten in Infrastruktur und Rüstungsindustrie. Kilicdaroglu verspricht, Korruption und Inflation zu bekämpfen und das Land zu demokratisieren. In der Migrationsfrage schlägt er einen nationalistischen Ton an. Die rund 3,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien will er zurückschicken und das Flüchtlingsabkommen mit der EU neu verhandeln.

Insgesamt waren rund 64 Millionen Menschen zur Stimmabgabe aufgerufen, davon rund 3,4 Millionen im Ausland. Die türkischen Auslandswähler in 73 Ländern hatten ihre Stimmen schon vom 27. April bis 9. Mai abgeben können. Ihre Stimmzettel trafen am Freitag in Ankara ein, wo sie unter Aufsicht von Vertretern aller Parteien bis zur Auszählung am Sonntag verwahrt werden.

In Deutschland leben 2,3 Prozent aller wahlberechtigten Türken. Das entspricht etwa 1,3 Millionen Türken. Unter ihnen zeichnete sich bis zum Wochenende eine hohe Wahlbeteiligung ab: Rund 733.00 Personen gaben in Deutschland laut den vorläufigen Zahlen der türkischen Wahlbehörde ihre Stimme ab. Insgesamt lag die Wahlbeteiligung bundesweit bei etwa 48,8 Prozent, wie die Augsburger Allgemeine berichtet.

In der Vergangenheit erzielte Erdogan unter den in Deutschland Wahlberechtigten sehr gute Ergebnisse. Bei der letzten Präsidentenwahl vor fünf Jahren kam er in Deutschland auf 64,8 Prozent, deutlich mehr als im Gesamtergebnis der Türkei von 52,6 Prozent.


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