Die Zentralbanken haben die Leitzinsen deutlich erhöht. In den USA liegt die Federal Funds Rate inzwischen in der Spanne von 5 bis 5,25 Prozent – so hoch wie zuletzt im Jahr 2006. Die EZB hat auf 3,75 Prozent angehoben.
Die Marktteilnehmer erwarten aufgrund der abflauenden Inflation und der schwelenden Bankenkrise allenfalls geringe weitere Zinserhöhungen. Etwa soll der Leitzins laut dem Market Probability Tracker der Fed Atlanta um weitere 0,25 Prozentpunkte steigen, bevor er zum Jahresende wieder unter die 5-Prozent-Marke sinkt.
Der Ökonom Thorsten Polleit hält es für denkbar, dass die Fed bereits in den kommenden Monaten mit Zinssenkungen beginnt – also früher als von den Märkten erwartet. „Das Geldmengenwachstum ist in den USA bereits negativ (M2 fiel im April 2023 um 4,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr) und im Euroraum wächst die Euro-Geldmenge M3 nur noch mit 1,9 Prozent zum Vorjahresmonat“, schreibt der Degussa-Chefvolkswirt auf DWN-Anfrage und fügt hinzu: „Es ist ein klares Indiz, dass sprichwörtlich die Liquidität in den Volkswirtschaften versiegt.“
Deflatorische Wolken am Horizont
Wenn nun auch das Bankkreditwachstum in die Knie gehen sollte – was die erhöhten Leitzinsen nahelegten – „dann wird es nicht lange dauern, und deflatorische Wolken werden sich am Horizont zeigen und einen Kurswechsel der Geldpolitik erzwingen“.
Der Vermögensverwalter Incrementum befürchtet einen Wirtschaftsabschwung und eine markante Korrektur an den Finanzmärkten. „Viele verlässliche Indikatoren – Zinsstruktur, ISM, LEI, Geldmengenentwicklung – deuten auf eine baldige Rezession hin“, schreiben die Liechtensteiner im „In Gold We Trust Report 2023“. Vier Konjunkturindikatoren, die sich bislang immer als zuverlässig erwiesen hätten, signalisierten derzeit eine Rezession. Darunter seien der US-Konjunkturindex LEI sowie der negative Zinsspread zwischen dreimonatigen und zehnjährigen US-Staatsanleihen.
Das vielfach erwartete „soft landing“ werde von Tag zu Tag unwahrscheinlicher. Viele Marktteilnehmer würden übersehen, dass sich geldpolitische Kursänderungen erst mit zeitlicher Verzögerung in der Realwirtschaft bemerkbar machten. „Es wird noch einige Quartale dauern, bis die Folgen der Zinsanhebungen der letzten 14 Monate vollständig erkennbar sind“, schreibt Incrementum.
Ein Warnzeichen sei unter anderem die zuletzt sinkende Kreditvergabe an Unternehmen und Verbraucher in der Eurozone. „Angesichts dieser Entwicklungen ist das Platzen der sogenannten ,Everything Bubble’ ein sehr realistisches Szenario“, schreibt Incrementum.
Der US-Staat habe über verschiedene Kanäle die wirtschaftsdämpfende Wirkung der geldpolitischen Straffung abgemildert. Dieser habe etwa ein Guthaben von 700 Milliarden US-Dollar auf einem sogenannten „Treasury General Account“ bei der Fed abgebaut und im vergangenen Jahr in das Bankensystem gepumpt.
Die Summe entspreche in etwa der Bilanzverkürzung der Fed bis zum Beginn der US-Bankenkrise im März. „Der Abbau des Guthabens auf dem TGA ist eine der Hauptursachen, warum die Finanzierungsbedingungen trotz der markanten Zinserhöhungen weiterhin expansiv sind“, erklären die Liechtensteiner.
Geldüberhang ist größtenteils abgebaut
Thorsten Polleit befürchtet, dass die Zentralbanken die Zinsen zu kräftig erhöhen. „Die Zentralbankräte orientieren sich bei ihrer Zinspolitik aktuell vor allem an der laufenden Inflation, weniger oder gar nicht an der Geldmengenentwicklung.“
Die sinkenden Geldmengenwachstumsraten dies- und jenseits des Atlantiks stellten bereits einen kräftigen Rückgang der Inflation in Aussicht, erklärt Polleit. Laut seinen Berechnungen braucht es im laufenden Jahr 1 Prozent Wirtschaftswachstum und 6,5 Prozent Güterpreisinflation, um den Geldmengenüberhang komplett abzubauen. Als Daumenregel gelte hierbei, dass die Güterpreisinflation umso geringer ausfalle, je höher das Wirtschaftswachstum.
Die Gefahr bestehe, dass die Notenbanken die Geldmengen erneut stark ausweiteten, um etwa strauchelnde Staaten und Unternehmen über Wasser zu halten. Das würde zu einem neuen Inflationsschub führen. „Dass es irgendwann genau dazu kommt, halte ich zwar für wahrscheinlich, aber ich kann nicht sagen, wann“, erklärt Polleit.
Auch der Vermögensverwalter Incrementum erwartet kurzfristig sinkende Inflationsraten, aber hält mittel- bis langfristig eine zweite Inflationswelle für „sehr wahrscheinlich“. „Obwohl ein Einbruch der Finanzmärkte disinflationär, mitunter sogar deflationär ist, wird die Antwort darauf hochinflationär sein: Quantitative Easing, Yield Curve Control und Zinssenkungen“, schätzen die Liechtensteiner.
Langfristig spreche zudem vieles für expansive Staatsausgaben, die über die Notenpresse finanziert würden. Incrementum nennt etwa die zunehmende fiskalische Dominanz und Budgetdefizite, Energiepreis-Subventionen, die Energiewende und Dekarbonisierung sowie die Aufrüstung im Zuge des Ukraine-Kriegs.
Angebotsseitig würden die Staaten den internationalen Handel durch Sanktionen beschränken, Firmen würden Lieferketten zunehmend auf Kosten der Effizienz regionalisieren, der Handel werde durch ökologisch motivierte Gesetze eingeschränkt und die Erwerbsbevölkerung schrumpfe in den OECD-Ländern und in China. Diese Faktoren könnten das Güterangebot verknappen und somit das Preisniveau nach oben treiben.
Wie können Anleger reagieren?
ETF-Fans sollten indes trotz der schlechten Nachrichten die Ruhe bewahren. Laut Vermögensberatern sollten sie auch in einer Rezession an der passiven Anlagestrategie festhalten und keine ETF-Anteile verkaufen.
Gleichwohl ist andauernde Inflation auch eine Gefahr für ETF-Anleger. Historisch gesehen gab es Inflationsphasen, in denen die Aktienmärkte real bis zu 20 Jahre seitwärts verliefen. Wer nicht über die Nerven verfügt, eine Inflation auszusitzen, oder einen zu kurzen Anlagehorizont hat, könnte daher einen Rohstoff-ETF oder Edelmetalle ins Portfolio nehmen. Junge, nervenstarke Anleger können aber auch zu 100 Prozent in Aktien investieren, sagen Finanzwissenschaftler.
Market-Timer sollten indes nicht auf Aktien vertrauen, schreibt Incrementum. „Abseits der Modellwelt sind sinkende Leitzinsen kein positiver Indikator für die Aktienmärkte.“ Zentralbanken neigten dazu, Zinsen erst abzusenken, wenn sich die Konjunktur bereits abgeschwächt habe. In einer solchen Situation könnten Investoren nervös werden und Aktienbestände verkaufen, wodurch die Kurse sinken könnten. Etwa habe der S&P 500 seit 1960 in allen größeren Zinssenkungszyklen im Schnitt 28,4 Prozent an Wert verloren.
Auch in Rezessionen rentierte der US-Aktienmarkt negativ – und zwar in allen Phasen des Wirtschaftsabschwungs. Incrementum untersuchte dabei die Rendite des S&P 500 in den ersten und letzten drei Monaten sowie in der Mittelphase einer Rezession. Erst nachdem die Rezession endete, legte der S&P 500 wieder zu. Incrementum verwendete dabei die Rezessionsdefiniton des US-Forschungsinstituts NBER, auf die sich auch die Fed stützt.
Der Vermögensverwalter rät daher zu Gold als Rezessions-Hedge. Das Edelmetall sei in den acht großen Rezessionen der vergangenen 50 Jahre im Schnitt um 10,6 Prozent im Preis gestiegen. Rohstoffe performten hingegen sechs Monate vor und nach der Rezession positiv, aber während des Abschwungs negativ.
Market-Timer könnten zudem Anleihen mit hoher Restlaufzeit beziehungsweise Duration ins Portfolio nehmen, um auf Zinssenkungen zu spekulieren. Solche Trades sind aber nur sehr erfahrenen Investoren anzuraten.