Wirtschaft

Das wahre Problem mit Chinas Wirtschaft

Chinas Wirtschaft ist auf einem stetigen Konjunkturabschwung. Beobachter sind sich einig: die BIP-Raten werden vergangene Jahre nicht übertreffen. Doch der BIP-Wachstumsindex ist nur ein Teil der Gründe für Chinas gegenwärtigen Wirtschaftstrend. Auf welche Probleme muss China eingehen, um die Balance von Investitionen und Ersparnissen für sich wirksam zu machen?
Autor
avtor
22.09.2023 09:33
Aktualisiert: 22.09.2023 09:33
Lesezeit: 4 min

MAILAND: Chinas anhaltender Konjunkturabschwung hat eine Vielzahl unterschiedlicher Erklärungen ausgelöst. Doch haben die Prognosen weitgehend Eines gemeinsam: Während die kurzfristigen Daten relativ stark schwanken – die jährlichen Wachstumsraten wurden durch die Folgen der drakonischen Null-COVID-Politik der Behörden verzerrt –, gehen die meisten Beobachter davon aus, dass der Trend beim chinesischen BIP-Wachstum weiter nach unten zeigen wird. Der Internationale Währungsfonds etwa erwartet, dass das Wachstum 2024 lediglich 4,5 % erreichen und bis Ende des Jahrzehnts auf 3 % sinken wird. Das ist mehr als in den meisten hochentwickelten Volkswirtschaften, aber meilenweit entfernt von den zweistelligen Wachstumsraten von vor einem Jahrzehnt. Doch ist das Wachstum nur ein Teil der Geschichte.

Natürlich ist der Fokus darauf verständlich. Seit Jahrzehnten entfällt ein erheblicher Anteil des globalen BIP-Wachstums auf China. Und die Größe der chinesischen Volkswirtschaft – eine wichtige Determinante der Fähigkeit des Landes zum Ausbau seiner militärischen Kapazitäten – wird erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung des Machtgleichgewichts mit seinem wichtigsten Rivalen, den USA, haben. Doch ist das Wachstum nicht der einzige – und vermutlich nicht mal der wichtigste – Kanal, über den die chinesische Wirtschaft die übrige Welt beeinflusst. Eine womöglich noch größere Rolle spielt das Gleichgewicht zwischen Ersparnissen und Investitionen.

Ein charakteristisches Merkmal der chinesischen Volkswirtschaft sind ihre außerordentlich hohen Investitions- und Sparquoten, die 40 % vom BIP übersteigen. Dies ist doppelt so viel wie in der Europäischen Union und den USA und sogar mehr als in anderen asiatischen Ländern mit hohen Sparquoten wie Japan und Südkorea.

Die Investitionen – insbesondere in qualitativ hochwertige Infrastruktur – haben eine integrale Rolle dabei gespielt, Chinas hohes BIP-Wachstum aufrechtzuerhalten. China hat in Rekordzeit das weltgrößte Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnnetz errichtet. Selbst Mittelstädte haben heute S-Bahn-Linien, und Chinas zahlreiche glitzernde neue Flughäfen lassen die alternden Terminals in den USA und Europa schlecht aussehen.

Doch hat Kenneth Rogoff von der Universität Harvard zu Recht darauf hingewiesen, dass derartige Investitionen abnehmende Erträge generieren. Am besten lässt sich das anhand der Probleme des Bausektors illustrieren. Im vergangenen Jahrzehnt wurde in China so viel Wohnraum geschaffen, dass pro Person bereits etwa 40 m2 zur Verfügung stehen – etwa so viel wie in Deutschland oder Japan. Anders ausgedrückt: China hat den Kapitalstock eines entwickelten Landes aufgebaut und erfüllt faktisch die Wohnraumnachfrage, bevor es das entsprechende Einkommensniveau erreicht hat.

Dies schränkt das Potenzial künftiger Investitionen, weitere Einkommenszuwächse zu befeuern, stark ein. Der Bau zusätzlicher Wohnungen würde an diesem Punkt lediglich weitere Geisterstädte hervorbringen – funkelnagelneu und leer stehend. Und aufgrund der langen Lebensdauer des zusätzlichen Bestands an Wohnraum – und der Infrastruktur im Allgemeinen – wird sich das so schnell auch nicht wesentlich ändern.

Natürlich dürfte Chinas Regierung in der Lage sein, neue Wege zur Unterstützung des Bausektors zu finden, indem sie z. B. Infrastrukturprojekte findet, denen man zumindest den Anschein verleihen kann, als wären sie sinnvoll – etwa in den ärmeren, ländlichen Provinzen im Inland. Doch insgesamt dürften die Investitionen von nun an allmählich sinken.

Japan sah sich vor einigen Jahrzehnten mit einem ähnlichen Problem konfrontiert. Nach Platzen der japanischen Immobilienblase Ende der 1980er Jahre versuchte die Regierung, die Wirtschaft aus einem schwerwiegenden Abschwung zu heben, indem sie enorme Summen in Investitionen in die Infrastruktur lenkte. Doch die meisten der neuen Straßen führten ins Nichts; daher musste die Regierung nach ein paar Jahren hoher Ausgaben aufgeben.

Was China angeht, so könnte die Reaktion auf die gesunkenen Investitionen simpel erscheinen: Die Chinesen könnten mehr konsumieren. Doch man erinnere sich, dass Chinas Sparquote ebenfalls außerordentlich hoch ist, und das trotz der Bemühungen der Behörden während des letzten Jahrzehnts, den Binnenkonsum als Wachstumstreiber zu stärken. Eine deutliche Zunahme ist daher in absehbarer Zukunft unwahrscheinlich.

Über den Konsum hinaus könnte China Ersparnisse in Investitionen in erneuerbare Energien wie Sonne und Wind lenken. Doch da sich derartige Investitionen bereits auf annähernd 300 Milliarden Dollar jährlich belaufen – viel mehr als in den USA oder Europa –, ist die Fähigkeit der erneuerbaren Energien zur Aufnahme chinesischer Ersparnisse begrenzt.

Angesichts sinkender Investitionen verteilen sich Chinas hohe Ersparnisse in Form von Leistungsbilanzüberschüssen in der übrigen Welt. In China sind diese Überschüsse sogar noch größer als in anderen Ländern mit Ersparnisüberschüssen wie Deutschland oder Japan; das liegt an der Größenordnung der potenziellen Überschüsse und der schieren Größe der Volkswirtschaft.

Falls die Sparquote auf gegenwärtigem Niveau (über 40 % vom BIP) bleibt, aber die Investitionen auf 30 % vom BIP sinken – was noch immer eine sehr hohe Quote ist –, müsste China einen Leistungsbilanzüberschuss von zehn Prozentpunkten vom BIP aufrechterhalten, um die Wirtschaft im Gleichgewicht zu halten. Da Chinas BIP in Kürze 20 Billionen Dollar erreichen dürfte, liefe das auf fast zwei Billionen Dollar hinaus. Das ist ein Mehrfaches der früheren Überschüsse Deutschlands oder Japans und genug, um das globale Gleichgewicht von Ersparnissen und Investitionen zu beeinflussen.

Eine internationale Folge von Chinas Ersparnisüberschuss – der Abwärtsdruck auf die Zinsen – wäre relativ gutartig. Doch andere, größere Gefahren drohen: Hohe chinesische Leistungsbilanzüberschüsse würden den sich schon jetzt beschleunigenden Trend zum Schutz einheimischer Branchen vor der chinesischen Konkurrenz weiter anheizen.

So muss es nicht kommen. Dank ihrer Investitionen in Technologien wie Batterien, Solarmodule und Elektrofahrzeuge sind die chinesischen Exporteure auf Kurs, einen immer größeren Vorsprung in kapitalintensiven grünen Branchen zu erreichen. Europa und die USA könnten preiswerte grüne Importe als Mittel zur Senkung der Kosten ihrer eigenen Klimaschutzmaßnahmen begrüßen. Doch scheint dies im heutigen Klima geopolitischer Konfrontation unwahrscheinlich. Stattdessen können wir uns auf weitere protektionistische Maßnahmen einstellen, die die Kosten in die Höhe treiben werden und nichts tun werden, um die chinesischen Ersparnisse abzubauen.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2023.

www.project-syndicate.org

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
DWN
Finanzen
Finanzen EU-Vermögensregister und Bargeldbeschränkungen: Risiko für Anleger

Das EU-Vermögensregister gehört derzeit zu den größten Risiken für Anleger. Daher ist es wichtig, sich jetzt zu überlegen, wie man...

avtor1
Daniel Gros

                                                                            ***

Daniel Gros ist Direktor des europapolitischen Instituts der Università Commerciale Luigi Bocconi.

DWN
Politik
Politik Bundestag stimmt über Verfassungsrichter ab – Politische Debatte um Mehrheiten
08.07.2025

Im Bundestag steht eine wichtige Entscheidung an: Drei Kandidatinnen und Kandidaten für das Bundesverfassungsgericht sollen gewählt...

DWN
Technologie
Technologie Wettlauf der Supermächte: Wer gewinnt das Milliarden-Quantenrennen?
08.07.2025

Quantencomputer gelten als Schlüsseltechnologie der Zukunft – und könnten bestehende Sicherheitsstrukturen weltweit aushebeln. Der...

DWN
Politik
Politik Recht auf Schutz: Gericht bestätigt Anspruch afghanischer Familie auf Visa
08.07.2025

Trotz der Einstellung des Bundesaufnahmeprogramms für gefährdete Afghanen hat das Verwaltungsgericht Berlin eine klare Entscheidung...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Urlaub wird teurer: Flugkosten steigen auch bei Billig-Airlines
08.07.2025

Fliegen vom deutschen Flughafen ist deutlich kostspieliger geworden – und das nicht nur bei klassischen Airlines. Auch...

DWN
Politik
Politik Haushaltsstreit 2025: Klingbeils Pläne, Kritik und offene Milliardenlücken
08.07.2025

Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD) hat den Haushaltsentwurf für 2025 und die Finanzplanung bis 2029 in den Bundestag eingebracht....

DWN
Unternehmen
Unternehmen VW-Konzern behauptet Spitzenposition im deutschen E-Auto-Markt
08.07.2025

Der VW-Konzern setzt im deutschen E-Auto-Markt neue Maßstäbe. Die aktuellen Zahlen zeigen eine eindrucksvolle Entwicklung – doch der...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft China frisst Europas Industrie und niemand wehrt sich
08.07.2025

Chinas Staatskonzerne zerlegen Europas Industrie Stück für Stück – doch Berlin, Brüssel und Paris liefern nur leere Worte. Während...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Dow schließt Chemieanlagen: Was das für Deutschland bedeutet
07.07.2025

Der US-Konzern Dow zieht sich teilweise aus Mitteldeutschland zurück – und das hat Folgen. Standorte in Sachsen und Sachsen-Anhalt...