In die deutsche Migrationsdebatte kommt Bewegung: Während Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) stationäre Kontrollen an den Grenzen zu Polen und Tschechien nun doch für möglich hält, drängten die Vorsitzenden von CDU und CSU, Friedrich Merz und Markus Söder, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dazu, mit der Opposition einen „Deutschland-Pakt“ zur Begrenzung der Migration zu schließen. „Wenn Sie das mit den Grünen nicht hinbekommen, dann schmeißen Sie sie raus und machen es mit uns“, sagte Merz am Samstag auf dem CSU-Parteitag in München. Eine partei- und fraktionsübergreifende Einigung beim Thema Migration sei nötig, um eine weitere Radikalisierung der Parteienlandschaft zu verhindern. Scholz plädierte unterdessen auf einer SPD-Wahlkampfveranstaltung in Nürnberg für entschiedenere Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern. Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) machte eine „gewisse Dramatik“ bei den Kommunen aus.
Die Migrationsdebatte verschärft sich derzeit aus mehreren Gründen: Zum einen vermeldete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BMAF) von Januar bis August 204.461 Erstanträge und 15.655 Folgeanträge. Bayerns Ministerpräsident Söder, der auf dem Parteitag mit 96,56 Prozent als CSU-Chef bestätigt wurde, sagte, dass es Schätzungen der Polizei gebe, wonach die Zahl in diesem Jahr auf über 400.000 steigen könnte. Kommunalvertreter warnen, dass sie Probleme bei der Versorgung von Migranten und Flüchtlingen bekommen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte kürzlich davon gesprochen, dass die Belastungsgrenze erreicht sei. Befeuert wird die Migrationsdebatte zudem durch die Landtagswahlkämpfe in Bayern und Hessen, wo am 8. Oktober Wahlen stattfinden.
Bei einer Konferenz mit Bürgermeistern und Landräten sei ihm von Überlastung und Überforderung berichtet worden, sagte Vizekanzler Habeck dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). „Sie sagen, dass sie an vielen Stellen nicht mehr wissen, wie sie die Probleme lösen sollen. Sozialarbeiter kommen kaum noch hinterher, Wohnraum ist knapp. Sie können die Unterbringung kaum noch und bald gar nicht mehr gewährleisten. Die Integrationskurse sind unterfinanziert.“ Scholz hatte der Opposition und den Ländern Anfang September einen „Deutschland-Pakt“ zu Themen wie Migration, Planungsbeschleunigung und Wettbewerbsfähigkeit angeboten.
Faeser ändert Kurs bei Grenzkontrollen
Bundesinnenministerin Faeser hatte diese Woche bereits im Bundestag angedeutet, dass sie stationäre Grenzkontrollen an der polnischen und tschechischen Grenze nun doch prüfen wird. „Aus meiner Sicht ist das eine Möglichkeit, Schleuserkriminalität härter zu bekämpfen“, sagte sie nun der „Welt am Sonntag“. Solche zusätzlichen Kontrollen müssten mit der Überwachung des gesamten Grenzgebiets durch die Schleierfahndung gut zusammengreifen. Bisher hatten SPD und Grüne punktuelle stationäre Kontrollen, wie es sie bereits an der deutsch-österreichischen Grenze gibt, an den Grenzen zu Polen und Tschechien abgelehnt. Scholz deutete nun an, dass zusätzliche Maßnahmen an der Grenze zu Polen auch deshalb nötig werden könnten, weil von Polen aus angeblich Schengen-Visa an Antragsteller in Afrika und Asien verkauft haben soll.
Kritik kam vom Präsidenten des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA), Dirk Jandura. „Der Groß- und Außenhandel lebt vom freien Warenverkehr, zusätzliche Hemmnisse sind kontraproduktiv“, sagte er dem Handelsblatt.
Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) kritisierte, dass das Umdenken von Bundesinnenministerin Faeser, die bei der Landtagswahl in Hessen auch SPD-Spitzenkandidatin ist, zu spät komme. „Das allein reicht ... längst nicht aus. Wir brauchen außerdem die von der Bundesregierung selbst angekündigte Rückführungsoffensive“, sagte er der „Welt am Sonntag“. Wie Söder forderte er, dass die Bundesregierung auch Algerien, Marokko, Tunesien und Indien zu sicheren Herkunftsstaaten erklären solle.
Scholz sagte, dass etliche CDU-Ministerpräsidenten in der Vergangenheit wegen grüner Regierungsbeteiligungen im Bundesrat gegen eine Ausweitung der sicheren Herkunftsländer gestimmt hätten. Nun sollten sie zustimmen, dass die Ampel-Koalition Georgien und die Republik Moldau in diese Liste aufnehmen wolle.
Zwar bekannt sich der Kanzler zum Asylrecht, aber auch er pochte deutlich darauf, dass es Teil einer „modernen Migrationspolitik“ sein müsse, Personen ohne Bleiberecht entschiedener zurückzuschicken. Scholz warf den Bundesländern eine Mitverantwortung vor, weil bisher erst ein Viertel der Ausländerbehörden digitalisiert seien.
Merz machte dagegen Scholz persönlich verantwortlich. Wenn der Kanzler nicht auf das Angebot der Union eingehe, werde dieser „allein verantwortlich“ für eine weitere Radikalisierung des Parteienspektrums in Deutschland sein, warnte der CDU/CSU-Fraktionschef mit Blick auf die hohen Zustimmungswerte für die AfD.
Scholz fordert Aufklärung Polens in Visa-Affäre
Bundeskanzler Olaf Scholz fordert die polnische Regierung zur Aufklärung von Vorwürfen auf, wonach gegen Geldzahlungen massenhaft Schengen-Visa an Antragsteller in Afrika und Asien vergeben worden sein sollen. „Der Visa-Skandal, der in Polen stattfindet, der braucht eine Aufklärung“, sagte der SPD-Politiker am Samstag in Nürnberg. „Ich möchte nicht, dass aus Polen einfach durchgewinkt wird.“ Wer in Polen ankomme, müsse dort registriert werden und auch dort ein Asylverfahren machen. Es könne nicht sein, dass durch „irgendwelche Visen, die für Geld verteilt worden sind“, das Problem in Deutschland noch größer werde. Deutschland müsse ansonsten an der Grenze zu Polen weitere Maßnahmen ergreifen.
Scholz äußerte sich auf einer Veranstaltung seiner Partei anlässlich der in Bayern in zwei Wochen anstehenden Landtagswahl. Er kündigte weitere Gespräche mit der Regierung in Warschau an. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat mit ihrem polnischen Amtskollegen Mariusz Kamiński wegen der polnischen Visa-Affäre bereits telefoniert. Medienberichten zufolge sollen durch polnische Beamte mehrere Hunderttausende Visa für den Schengen-Raum an Antragsteller etwa aus Asien verkauft worden sein.
In Polen sorgt der Vorgang vor der dort Mitte Oktober angesetzten Parlamentswahl für Aufregung. Bestätigen sich die Korruptionsvorwürfe gegen Beamte des Außenministeriums, wäre dies für die regierende nationalkonservative PiS-Partei ein Rückschlag, die in der EU für eine harten Haltung in der Migrationspolitik steht. Die Regierung in Warschau hatte die Vorwürfe als übertrieben zurückgewiesen. (mit dpa, reuters)