Unternehmen

Rescaling: Ist das die Lösung bei Massenentlassungen und Fachkräftemangel?

Die deutsche Wirtschaft ächzt unter dem anhaltenden Fachkräftemangel, dennoch sind Massenentlassungen in immer mehr Industrieunternehmen an der Tagesordnung. Diese paradoxe Situation wird sich künftig weiter verschärfen, prognostiziert Harald Müller, Geschäftsführer der Bonner Wirtschafts-Akademie (BWA). Wie kann das sein und warum ist Rescaling die Lösung?
24.03.2024 12:00
Lesezeit: 3 min
Rescaling: Ist das die Lösung bei Massenentlassungen und Fachkräftemangel?
Rescaling kann Unternehmen in der aktuellen Situation helfen, sagt BWA-Geschäftsführer Harald Müller (Foto: Marcus Heilscher Fotodesign).

Dass Unternehmen Personal suchen und gleichzeitig den Stellenabbau vorantreiben geht auf den ersten Blick überhaupt nicht zusammen. Die Ursachen dafür sind vielschichtig, BWA-Geschäftsführer Harald Müller nennt als Gründe vor allem die Deindustrialisierung Deutschlands sowie den steigenden internationalen Innovations-, Wettbewerbs- und Kostendruck. Die Unternehmen müssten darauf mit Rescaling reagieren.

Doch was ist Rescaling? Rescaling ist die strategische Neuausrichtung des Personals auf allen Ebenen. Rescaling ist damit eine gute Strategie zur flexiblen Marktanpassung. Das Problem dabei: Die meisten Personalabteilungen seien dafür nicht gut aufgestellt, weiß Akademie-Chef Müller aus vielen Gesprächen und Projekten.

Autoindustrie und Chemie wandern aus Deutschland ab

Harald Müller gibt ein Beispiel für den Bedarf an Rescaling: „Das Umschwenken der Automobil­industrie vom Verbrenner auf E-Mobilität macht viele hochbezahlte Spezialisten auch bei den Zulieferern überflüssig. Diese Fachleute werden nicht etwa umgeschult, sondern zuhauf auf den Arbeitsmarkt entlassen. Doch sie kommen durchweg von einem hohen Gehaltsniveau und finden schwerlich neue Arbeitgeber, die ähnlich gut bezahlen. Das wird zu einem Kaufkraftverlust in Deutschland auf breiter Front führen.“

Neben der Automobilbranche stehe die Chemische Industrie angesichts der anhaltenden Unsicherheit, ob langfristig genügend bezahlbare Energie für die Produktion in Deutschland zur Verfügung stehe, vor dem Aus hierzulande. „Wir sehen seit einiger Zeit nur noch Ersatzinvestitionen in Deutschland. Neuinvestitionen finden überwiegend im Ausland statt“, stellt Harald Müller fest. Daher stünden auch in der Chemie viele hochbezahlte Fachkräfte vor einem Karriereknick, weil die „Auffangquote“ für diese Spezialberufe in anderen Branchen niedrig sei. „Die Abwanderung der Chemie wird nicht mehr aufzuhalten sein, weil diese Branche eine Planungssicherheit von mindestens zehn Jahren benötigt, die sie in Deutschland nicht findet“, blickt Harald Müller sorgenvoll in die Zukunft.

Innovations-, Wettbewerbs- und Kostendruck

Hinzu kommt der wachsende Wettbewerbs- und Kostendruck aus Osteuropa, China und den ASEAN-Staaten sowie das hohe Innovationstempo der US-Wirtschaft. Viele deutsche Konzerne und Großunternehmen reagieren darauf mit einer radikalen Verschlankung beim Personalbestand, vor allem im mittleren Management, analysiert BWA-Geschäftsführer Harald Müller. Er sagt: „Durch den Abbau ganzer Hierarchiestufen wollen die Firmen nicht nur im großen Stil Kosten sparen, sondern auch die Entscheidungsgeschwindigkeit in ihren Organisationen signifikant verbessern, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.“

Nach Einschätzung von BWA-Chef Harald Müller ist das Aufblähen der Organisationsstrukturen um immer neue Managementebenen in weiten Teilen der Wirtschaft schon seit Jahren als Problemkreis bekannt. „Jetzt packen es die Firmen endlich an“, hat er in Gesprächen mit zahlreichen Vorständen aus der Industrie festgestellt, weil „viele Topmanager die Angst umtreibt, am Ende wie der letzte CEO von Nokia dazustehen, der mit einer viel zu großen Organisation am Innovationstempo des Wettbewerbs gescheitert ist.“

Rescaling: „Nadelöhr ist die Ressource Mensch“

Das „Nadelöhr“ beim Rescaling – der besseren Nutzung der „Ressource Mensch“ – stellen die Personalabteilungen dar, heißt es bei der Bonner Wirtschafts-Akademie. „Die meisten HR-Departments haben längst ihre strategische Ausrichtung verloren und sind nur noch Handlanger des Controllings“, sagt BWA-Chef Harald Müller. So seien die Personalleiter in der Regel gar nicht in der Lage, das Potenzial der vorhandenen Belegschaft in Bezug auf Know-how, Leistungsfähigkeit und ‑bereitschaft sowie Entwicklungsmöglichkeiten zu bewerten.

„Ich kann nur jedem Unternehmen empfehlen, seine Personalabteilung so rasch wie möglich wieder in die Lage zu versetzen, beim anstehenden Rescaling eine aktive Rolle zu übernehmen“, mahnt BWA-Chef Harald Müller. Dazu gehöre eine strukturierte Planung, welche Personalstärke mit welchen Fähigkeiten man in den nächsten zehn Jahren benötigt.

„Nur wer eine klare Vorstellung von der Zukunft hat, kann seine Belegschaft systematisch auf dieses Ziel hin entwickeln“, spricht Harald Müller aus, was er von vielen HR-Verantwortlichen hört. Doch die meisten Personalabteilungen haben nicht einmal die Kapazitäten, um den Ist-Zustand („wer kann was im Unternehmen?“) festzustellen, geschweige denn ein Soll-Ziel zu formulieren („welche Fähigkeiten benötigen wir künftig in welcher Personalstärke?“).

Unternehmen in Not? „Diffuse Klarheit über Künstliche Intelligenz“

Nach Einschätzung des BWA-Geschäftsführers ist mit Künstlicher Intelligenz (KI) ein weiterer Unsicherheitsfaktor bei der Personalplanung hinzugekommen. „Auf Vorstandsebene gibt es in der Regel eine diffuse Klarheit darüber, dass KI das ganze Unternehmen durchschütteln wird“, weiß Harald Müller aus zahlreichen CEO-Gesprächen. „Aber die Auswirkungen auf die Personalplanung liegen überwiegend völlig im Dunkeln“, hat er auch bemerkt.

Die Bonner Wirtschafts-Akademie rät den Unternehmen zu einer „aktiven Rescaling-Strategie statt sich von den Entwicklungen überrollen zu lassen und nur auf Kostensenkung durch Massen­entlassungen zu setzen.“ Als Schlüsselelemente für diese zielgerichtete Ausrichtung von Management und Belegschaft auf die Zukunft nennt die BWA eine systematische Bestandsaufnahme der vorhandenen Mitarbeitenden über alle Hierarchien hinweg und darauf basierend eine Weiterbildungsbedarfsanalyse.

„KI wird über kurz oder lang bei Fach- und Führungskräften auf allen Ebenen ankommen“, gibt Harald Müller ein Beispiel, und schlussfolgert: „Also sind die Unternehmen gut beraten, ein breit angelegtes KI-Schulungskonzept zu entwickeln und auszurollen.“ Dabei geht es nach seiner Einschätzung weniger darum, den Umgang mit einem spezifischen KI-Tool zu vermitteln als vielmehr die Sensibilität dafür zu wecken, wo und wie sich KI in der Organisation einsetzen lässt, um Produktivität, Kundenzufriedenheit und Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.

Politischer Plan für den Strukturwandel unerlässlich

„Wenn die Autoindustrie und die Chemie mit ihren umfangreichen Zuliefernetzwerken aus Deutschland abwandern und parallel dazu zigtausende Arbeitsplätze durch Künstliche Intelligenz vernichtet werden, dann braucht man einen wirtschafts- und sozialpolitischen Plan für diesen Strukturwandel“, appelliert Akademie-Geschäftsführer Harald Müller an die Politik. Er sagt: „Die Politik muss erkennen, dass sich Fachkräftemangel und Massenentlassungen nicht ausgleichen, sondern beides eigenständige Problemfelder darstellen.“

Harald Müller verdeutlicht die Zusammenhänge: „Unser gesamter Sozialstaat hängt von einer starken Wirtschaft ab: Rente, Krankenversicherung, Sozialleistungen. Ohne eine leistungsfähige Wirtschaft in Deutschland wird der Wohlfahrtsstaat nicht zu halten sein. Die politischen Verwerfungen einer solchen Entwicklung sind längst sichtbar.“

Der BWA-Chef hält die anstehenden Umwälzungen für vergleichbar mit dem Strukturwandel der ehemaligen Montanunion, „aber nicht auf das Revier beschränkt, sondern bundesweit.“ Er sagt: „Im Grunde braucht ganz Deutschland ein Rescaling.“

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen Geldanlage: Mit einem Fondsdepot mehr aus dem eigenen Geld machen

Wer vor zehn Jahren 50.000 Euro in den Weltaktienindex investiert hat, kann sich heute über mehr als 250.000 Euro freuen! Mit der...

 

 

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Aktienmärkte: Wie geht es an den Börsen weiter? Drei Szenarien nach der Wahl
24.02.2025

Deutschland hat entschieden. Die wirtschaftspolitischen Herausforderungen des Landes bleiben jedoch bestehen. Die Bildung einer neuen...

DWN
Politik
Politik Herausforderungen der Koalitionsverhandlungen: Diese Themen sind die Knackpunkte
24.02.2025

Deutschland hat gewählt, nun steht Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz vor der Aufgabe, eine tragfähige Regierungskoalition zu...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft IW-Studie: Fachkräftemangel in Energiewende-Berufen spitzt sich zu
24.02.2025

Die Lücke an qualifiziertem Fachpersonal in Deutschland hat sich im vergangenen Jahr zwar verringert, doch gerade in Energiewende-Berufen...

DWN
Politik
Politik Dritter Jahrestag des Ukraine-Kriegs: EU-Politiker besuchen Kiew - und ringen um die Rolle Europas
24.02.2025

Zum dritten Jahrestag der großflächigen Invasion Russlands in die Ukraine werden EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sowie...

DWN
Politik
Politik Bundestagswahl-Endergebnis: Union gewinnt vor AfD, Fiasko für SPD - das sind die Konsequenzen
24.02.2025

CDU und CSU gehen als klare Sieger aus der Bundestagswahl hervor – für die SPD ist es das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte. Die...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Deutschlands Wirtschaft am Limit: Arbeitgeber fordern radikale Reformen!
24.02.2025

Bürokratie, hohe Abgaben und Fachkräftemangel setzen Unternehmen unter Druck. Ohne schnelle Maßnahmen droht der Standort Deutschland an...

DWN
Politik
Politik Wahlsieger Merz: Trotz Wermutstropfen Rambo-Zambo
23.02.2025

Der CDU-Chef bringt den Vorsprung aus den Umfragen ins Ziel: Die Union gewinnt die Bundestagswahl. Doch ein wichtiges selbstgestecktes Ziel...

DWN
Politik
Politik Historisches Debakel für die SPD: Scholz' Tage sind gezählt
23.02.2025

Trotz Widerstands innerhalb seiner Partei wollte er es noch einmal versuchen – und ist kläglich gescheitert. Die kürzeste Amtszeit...