Zweimal jährlich veröffentlicht eine Gruppe führender Wirtschaftsforschungsinstitute, beauftragt vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, die „Gemeinschaftsdiagnose“ – eine umfassende Analyse der wirtschaftlichen Lage Deutschlands.
Zu den teilnehmenden Instituten gehören das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, das Institut für Wirtschaftsforschung (ifo Institut) an der Universität München in Kooperation mit dem Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO), das Kieler Institut für Weltwirtschaft (ifw), das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH) und das RWI in Essen, welches mit dem Institut für Höhere Studien in Wien zusammenarbeitet. Gemeinsam bündeln sie ihre Expertise, um ein klares und umfangreiches Bild der wirtschaftlichen Entwicklungen und künftigen Perspektiven Deutschlands zu entwerfen.
Das aktuelle Frühjahrsgutachten 2024 fällt ernüchternd aus: Die deutsche Wirtschaft steht an einem kritischen Punkt und die Wachstumserwartungen mussten drastisch nach unten korrigiert werden. Statt der im Herbst erhofften Zunahme von 1,3-Prozent ist nur noch von einem marginalen Wachstum von 0,1-Prozent die Rede.
Frühjahrsgutachten 2024: Schwaches Wachstum, zögerliche Investitionen, steigende Preise
Die Wirtschaftsexperten prognostizieren, dass sich die Verbraucherpreise in diesem Jahr um 2,3-Prozent und im Folgejahr um 1,8-Prozent erhöhen werden. Berücksichtigt man die anhaltend hohen Energiekosten, so wird mit einer Kerninflation von 2,8-Prozent für 2024 und von 2,3-Prozent für 2025 gerechnet. Der Zuwachs beim privaten Konsum zeigt weniger Schwung als von den Ökonomen erwartet. Dies spiegelt hauptsächlich die abgeschwächte Nachfrage wider. Der Kostennachteil energieintensiver Produkte verschärft zusätzlich die Lage.
Als Konsequenz fällt die deutsche Wirtschaftsleistung voraussichtlich um mehr als 30 Milliarden Euro hinter den ursprünglichen Prognosen zurück. Inflation und schwacher Konsum schmälern den wirtschaftlichen Optimismus. Zudem behindert zögerliches Investitionsverhalten ohne gezielte politische Maßnahmen die Aussicht auf eine nachhaltige Erholung.
Experten: Keine Hoffnung auf schnelle wirtschaftliche Belebung
Fortwährende Unsicherheiten in der Wirtschaftspolitik stellen ein weiteres Hemmnis für das deutsche Investitionsklima dar. Gleichwohl die Prognosen für das nächste Jahr eine gewisse Belebung der Investitionen vermuten lassen, wird doch nur mit einer Rückkehr zum Investitionsniveau des Jahres 2017 gerechnet.
„Der bisherige Dreiklang aus schwacher Konjunktur, stagnierender Politik und gebremstem Wachstum wechselt nun von einer pessimistischen zu einer leicht optimistischen Tonlage“, erläutert Stefan Kooths, Konjunkturchef am ifw Kiel, und mahnt dennoch zur Vorsicht bezüglich schneller wirtschaftlicher Erholung.
Debatte um die Schuldenbremse: Bundesbankvorschlag könnte Investitionsspielraum erweitern
Dies führt zu der Frage, wie sich Deutschlands Wirtschaft wieder ankurbeln lässt. In der Debatte um fiskalische Impulse hat die Gemeinschaftsdiagnose eine Neuausrichtung der Schuldenbremse ins Spiel gebracht - gestützt von aktuellen Empfehlungen der Deutschen Bundesbank. Danach könnte die Grenze für das strukturelle Defizit von derzeit 0,35-Prozent auf 0,5-Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) angehoben werden, sofern die gesamte Schuldenquote unter 60-Prozent des BIP verbleibt. Wird diese Schwelle überschritten, so könnten dennoch Nettoinvestitionen bis zu 0,15-Prozent des BIP durch neue Kreditaufnahmen finanziert werden.
Schuldenbefürworter sehen in einer solchen Lockerung die Chance, essenzielle öffentliche Investitionen zu tätigen, die sonst durch fiskalische Restriktionen limitiert werden. Solch ein Ansatz könnte den Handlungsspielraum der Bundesregierung erweitern, denn derzeit erlaubt die Schuldenbremse eine zusätzliche Staatsverschuldung ausschließlich in Krisenzeiten wie Naturkatastrophen oder schweren wirtschaftlichen Einbrüchen und Krisen, z.B. der Pandemie.
Übermäßige Staatsverschuldung als Risiko für den Steuerzahler?
Die Kehrseite dieser Medaille ist das potenzielle Risiko einer erhöhten Last für zukünftige Generationen und eine Verschlechterung der fiskalpolitischen Glaubwürdigkeit Deutschlands auf globaler Bühne, was negative Reaktionen an den Finanzmärkten hervorrufen könnte. Kritiker der Lockerung warnen zudem vor einer unverhältnismäßigen Betonung des gegenwärtigen Konsums auf Kosten langfristiger Investitionen und einer Neigung zu übermäßiger Staatsverschuldung.
Für den Steuerzahler könnte eine Lockerung der Schuldenbremse im „Worst Case“ bedeuten, dass steigende Staatsschulden langfristig durch höhere Steuern oder Abgaben ausgeglichen werden müssen. Eine solche Entwicklung könnte das wirtschaftliche Wachstum weiter hemmen und den Wohlstand der Bürger beeinträchtigen. Falls die staatlichen Kredite zu höheren Zinslasten führen, könnten Kürzungen bei öffentlichen Leistungen und Investitionen notwendig werden, um die Budgetdefizite zu kontrollieren.
Es bleibt daher zu hoffen, dass Entscheidungen rund um die Schuldenbremse wohlüberlegt und mit Blick auf die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen getroffen werden. Nur so lässt sich für Deutschland eine nachhaltige und zukunftsorientierte Finanzpolitik beschreiten.
Die Schuldenbremse: Zwischen Investitionsförderung und Haushaltsrisiko
Wird die Schuldenbremse gelockert? Trotz aller Zweifel könnte die Bundesregierung dies tatsächlich in Erwägung ziehen. Bereits im Februar hat der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages die Spielräume für eine Ausweitung der staatlichen Verschuldung prüfen lassen – ein deutliches Indiz für die hohe Priorität, die dem Thema innerhalb der politischen Spitze zukommt.
In Deutschland wird die Schuldengrenze immer wieder diskutiert, kürzlich vor allem nach einem richtungsweisenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts im November 2023. Das Gericht entschied, dass gewisse Kreditaufnahmen, die im Kontext des Klima- und Transformationsfonds standen und die zukünftige Budgetflexibilität in Höhe von 60 Milliarden Euro sichern sollten, nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind und erklärte die Positionen im Nachtragshaushalt des Bundes für nichtig.