Normalerweise ist der 1. Mai in der Hauptstadt ja eher ein Tag der Randale. Die Geschäftsinhaber in der Innenstadt lassen den Abend zuvor eigens ihre Handwerker anrücken, um die Schaufenster mit Sperrholz zu verbarrikadieren und zu schützen. Doch dieses Mal hat sich die gesellschaftliche Auseinandersetzung mal wieder von der Straße in den politischen Raum verlagert. Verdi, DGB und linke Parteien holten ihre rote Fahnen symbolisch raus, um am Tag der Arbeit ihren Forderungen nach „mehr Lohn und Freizeit und Sicherheit“ - für alle vernehmlich - Nachdruck zu verleihen.
Gewerkschaften und Grüne marschieren mit Forderung nach 15 Euro vorne weg
Diesmal sind die Gewerkschaft Ver.di und die Grünen gemeinsam vorweg marschiert und haben sich für 15 Euro pro Stunde Mindestlohn ausgesprochen. Ver.di-Chef Frank Werneke argumentierte dabei, dass gemäß einer EU-Richtlinie der Mindestlohn bei 60 Prozent des Median-Einkommens liegen müsse - und der liege bei aktuell knapp über 14 Euro. Da die Löhne im Schnitt weiter steigen, ist für Ver.di 2026 ein Mindestlohn von 15 Euro die Stunde fällig.
Derlei laute Ansagen von der Gewerkschaft haben zum 1. Mai Tradition - und sind gutes Recht der Arbeitnehmer in Auseinandersetzungen mit den Arbeitgebern. Doch erstmals, seitdem im Januar 2015 in Deutschland überhaupt ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wurde, scheint sich der Tarifstreit immer schneller hochzuschaukeln und jetzt auch eine eigene politische Dynamik zu entwickeln, die das Zeug hat, die Regierungskoalition der Ampel zu sprengen.
Schauen wir deshalb also mal nach, was die von Arbeitnehmern und Arbeitgebern paritätisch besetzte zuständige Kommission auf ihrer Homepage dazu an Informationen bereithält. „Pressemitteilung vom 15.02.2023: Christiane Schönefeld übernimmt Vorsitz der Mindestlohnkommission.“ Das ist der letzte Eintrag! Offenbar sind die Forderungen überraschend in die Öffentlichkeit getragen worden. Das ist kein Wunder, weil sich die unabhängige Kommission (unterstützt von Wissenschaftlern wie Prof. Lars Feld von der Uni Freiburg) erst wieder 2025 des Themas annehmen sollte. Weitere 41 Cent sind für das kommende Jahr längst beschlossen. Die Frage nach weiteren Anpassungen des Mindestlohns, so die Koalitionsvereinbarung 2022, sollte in Zukunft den dafür eingesetzten Fachleuten überlassen werden um nicht einen ständigen Überbietungs-Wettbewerb anzuzetteln. Der ist nun in vollem Schwung geraten.
Mindestlohnkommission als Institution könnte auf der Strecke bleiben
Im Parteiprogramm der Grünen war kürzlich noch von 14 Euro Mindestlohn die Rede, nun sollen es plötzlich 15 Euro sein. Eine nicht ganz unbekannte Zahl - denn die stammt schon länger von der Linkspartei. Das von der Regierung angestrebte Ziel, in Deutschland den Mindestlohn in Abständen sachlich und politikfern zu justieren, ist offenkundig unter die Räder gekommen.
Erst SPD-Chef Lars Klingbeil und die Parteimitglieder der SPD auf ihrem Parteitag (siehe Foto), und nun die Fraktionsvorsitzende Katharina Dröge und die Partei-Co-Vorsitzende Ricarda Lang von den Grünen - die Rädelsführer haben die Reihen geschlossen mit den Gewerkschaftern geschlossen. Nicht einmal Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) vermag sie mehr zu bremsen, der das Argument mit der EU-Richtlinie für vorgeschoben hält und deshalb sein Ministerium hier keinen Handlungsbedarf erkennen kann.
Der Parteichef der Linkspartei, Martin Schirdewan, jubiliert. Seine Partei hatte schon im Herbst die Zahl 15 aufs Trapez gebracht. Nachdem nun alle seiner Meinung sind, fordert Schirdewan jetzt eine Initiative von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) - und zwar bereits in der nächsten Kabinettssitzung. „Sonst bleibt der Vorstoß reines Wahlkampfgetöse“, warnt Schirdewan. Damit könnte er sogar recht haben, nur dass der Wahlkampf offenkundig erst jetzt so richtig begonnen hat.
„14 Euro, 15 Euro – oder darf es noch etwas mehr sein?“, kommentierten denn auch Kritiker wie Wirtschaftsjournalist Dietrich Creutzburg. „Wenn sich die betreffenden Parteien nicht bald besinnen, liegt es an den Arbeitgebern, Konsequenzen zu ziehen. Sie sollten aus der Mindestlohnkommission aussteigen“, lautet sein Rat.
Debatte eine Retourkutsche für Lindners 12-Punkte-Plan zur Wirtschaftswende?
Schon wird ein innerer Zusammenhang zum 12-Punkte-Papier Christian Lindners von der FDP zu einer „Wirtschaftswende für Deutschland“ hergestellt und gefragt, wohin die Retourkutschen der drei Regierungsparteien diesen Sommer führen sollen.
Der 1. Mai war schließlich auch der Tag, an dem die einzelnen Ressorts dem Bundesfinanzminister ihre angepassten Etats vorlegen sollten. Er werde sich, „in den nächsten Tagen die Zahlen in Ruhe anschauen“, meinte Lindner, nachdem er sich kopfschüttelnd mit der DGB-Chefin Yasmin Fahimi auseinandergesetzt hat am Donnerstagabend. Dass SPD, FDP und Grüne wirklich zusammen an einem Strang ziehen, um die Wirtschaft wieder flottzumachen, darf angesichts es aufgekeimten Mindestlohn-Streits bezweifelt werden.
Ökonom Lars Feld rechnet schon länger mit einer weiteren Politisierung. „Immer dann, wenn sie mit dem Ergebnis nicht zufrieden sind, gehen die Gewerkschaften den Umweg über die Politik“, beklagt der Berater der Mindestlohnkommission. Er ahnt: „Im Bundestagswahlkampf wird es wieder um die Frage gehen: Wer bietet mehr beim Mindestlohn?“ Die Frage ist, ob der womöglich sogar vorgezogen werden muss?