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DWN-Kommentar: Eine Welt ohne Europa?

Lesezeit: 3 min
04.05.2024 17:03  Aktualisiert: 04.05.2024 18:00
Der Krieg in der Ukraine und die Spannungen im Nahen Osten gefährden die Zukunftsfähigkeit der EU. Nun steht sie an einem Scheideweg: Entweder sie lässt sich weiterhin für die Weltmachtambitionen der USA instrumentalisieren und wird infolgedessen in der geopolitischen Bedeutungslosigkeit verschwinden. Oder aber es gelingt ihr, sich von der amerikanischen Bevormundung zu lösen und in einer zunehmend multipolaren Weltordnung eine eigenständige Position zu vertreten.
DWN-Kommentar: Eine Welt ohne Europa?
Die Flaggen der europäischen Länder wehen am Europäischen Parlament (Foto: dpa).
Foto: Arne Immanuel Bänsch

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Vor über 50 Jahren reiste der damalige Sicherheitsberater der USA Henry Kissinger in geheimer Mission nach China. Er bereitete den Besuch des US-amerikanischen Präsidenten Richard Nixon vor und damit einen Wendepunkt in der Geschichte der Geopolitik und der Diplomatie: Indem sich die USA und China aneinander annäherten sollte der große Rivale der USA, die Sowjetunion, macht- und geopolitisch geschwächt werden. Bei einem Pokerspiel mit drei Spielern lohnt es sich, sich mit einem der beiden Spieler gegen den verbleibenden dritten zu verbünden.

Seinerzeit befanden sich die USA im Zenit ihrer Macht und die Weltordnung war insgesamt überschaubarer als heute. Im Wesentlichen zerfiel sie in zwei Lager, in ein „kapitalistisches“ und in einen „kommunistisches“, und dann gab es noch die sogenannten blockfreien Staaten, in denen die USA und die Sowjetunion um Einfluss buhlten, teilweise in Form von Stellvertreterkriegen. Die wirtschaftliche Macht der Welt konzentrierte sich in den USA und in Westeuropa, das nach dem Zweiten Weltkrieg einen beispiellosen Wirtschaftsboom erlebt hatte und seinen Bürgern nun großzügige Sozialleistungen bieten konnte. Nie erschien die zivilisatorische Strahlkraft des Westens größer als zu dieser Zeit.

Heute ist die Welt unübersichtlicher geworden. Die Sowjetunion ist zerfallen und China hat sie als der größte Rivale der USA abgelöst. Gleichwohl hat sich der Nachfolger der Sowjetunion, die Russische Föderation, nicht aus dem Konzert der Großmächte verabschiedet. Und auch Indien dürfte sich auf absehbare Zeit dazugesellen. Die EU hingegen verliert, verglichen mit den anderen Machtzentren, zunehmend an Bedeutung. Dies hat einerseits wirtschaftliche Gründe, liegt zum anderen aber auch daran, dass sich die Positionen ihrer Mitgliedsstaaten kaum noch von denen der USA unterscheiden.

Die aber haben Kissingers Prinzip der „Triangulation“ aufgegeben. Statt sich mit dem vermeintlich schwächeren von zwei Widersachern zu verbünden, wie damals 1971, versuchen die USA nun, Russland als geopolitischen Machtfaktor aus dem Spiel zu nehmen, um sich anschließend mit ganzer Kraft in die Konfrontation mit China begeben zu können. Und genau damit treiben sie Russland in die Arme Chinas – und die Länder der EU in ein Dilemma, vor allem Deutschland. Denn die Handelsnation Deutschland könnte, nachdem sie schon der Zufuhr billigen russischen Öls und Gases beraubt worden ist, sanktionsbedingte Einbußen auf dem chinesischen Markt schlichtweg nicht verkraften.

Zudem besteht das Risiko eines Krieges zwischen Israel und dem Iran im Nahen Osten. Sollte der tatsächlich ausbrechen und sollten sich die USA und andere Länder des Westens an der Seite Israels daran beteiligen, könnte der Iran die Straße von Hormuz sperren, durch die zwischen 20 und 30% des internationalen Ölhandels fließen. Die Folgen für die westlichen Volkswirtschaften wären verheerend. Für die USA und den „Westen“ zeichnet sich nach der Ukraine im Nahen Osten ein weiteres Fiasko ab.

Hingegen scheint es, dass die chinesische Diplomatie mit weitaus größerer Weitsicht agiert als die amerikanische. Bei der Annäherung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran haben die Chinesen mitgewirkt. Und dies dürfte das Machtgefüge im Nahen Osten verändert haben, da Saudi-Arabien seine Rollen als potenzieller Verbündeter Israels nun aufgegeben hat. In einen Krieg im Nahen Osten hineingezogen zu werden, können sich die USA vor diesem Hintergrund kaum noch leisten. Vielmehr wären sie gefragt, ihr diplomatisches Gewicht im Sinne eines nachhaltigen Friedens in der Region einzubringen – auch im eigenen Interesse. Andernfalls laufen sie Gefahr, ihre Macht zu überdehnen.

Denn was wir derzeit erleben, ist eine schleichende Erosion des Einflusses der USA, die sich weder in der Ukraine noch im Nahen Osten durchsetzen können. China und Russland hingegen arbeiten seit dem Coup auf dem Kiewer Maidan im Jahr 2014 immer enger zusammen und bilden nun einen Block, der für die USA nicht mehr aufzubrechen ist. Diesen Realitäten gilt es nun, ins Auge zu blicken. Statt sich auf einen vermeintlich unausweichlichen Showdown mit China und Russland vorzubereiten, ist es für die Länder des Westens an der Zeit, sich einzugestehen, dass sich eine multipolare Weltordnung nicht mehr aufhalten lässt.

Und wenn die Länder der Europäischen Union sie im Geiste der Kooperation und nicht der Konfrontation mitgestalten, können gerade sie davon profitieren. Tun sie es nicht, lassen sie sich weiter vor den US-amerikanischen Karren spannen, lassen sie sich gar ein „Decoupling“, also eine Entflechtung ihrer Volkswirtschaften von der Chinas aufzwingen, dürften sie wirtschaftlich abstürzen, in noch größere Abhängigkeit von den USA geraten und so jede Chance einbüßen, ihren Platz in der Welt zu behaupten.

Werden die Länder der EU also den Mut haben, sich von der Vorherrschaft Amerikas zu emanzipieren? Dem stets scharfsinnigen Henry Kissinger wird das Zitat in den Mund gelegt: „Es ist gefährlich, Amerikas Feind zu sein, aber tödlich, Amerikas Freund zu sein.“ Diese Worte könnten bei der Beantwortung dieser Frage helfen.


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