Amerikaner sehen „zu viel Fokus“ auf Ukraine und Israel
Sinkt das Interesse an der Ukraine und Israel in den USA? Laut einer Umfrage des Chicago Council on Global Affairs möchten über 50 Prozent der Amerikaner von ihrer Regierung mehr Engagement im Handelskrieg gegen China und an der Südgrenze zu Mexiko, die seit Monaten von ungewöhnlich großen Migrationsbewegungen heimgesucht wird. Mehr als ein Viertel der Befragten befand, dass sich die USA zu sehr um die Konflikte in Israel und der Ukraine kümmerten.
Doch nicht nur aus wahlkampftaktischen Gründen ist die Hilfsbereitschaft der USA für Europa zweifelhaft. Zwar wurde ein großes Hilfspaket für die Ukraine, Taiwan und Israel jüngst im Kongress abgesegnet. Doch dies geschah erst nach einer monatelangen Hängepartie, in der nicht wenige Politiker ihren Unmut über das Engagement der USA in der Alten Welt bekundeten.
Nicht zuletzt steht die US-amerikanische Wirtschaft vor weiteren Herausforderungen. Sie wächst wider den Erwartungen nur sehr schwach, und die Migrationskrise und der Handelskrieg mit der Volksrepublik China binden Kräfte, die die Vereinigten Staaten nicht mehr für Europa aufbringen können. Ob Biden oder Trump, Europa wird mittelfristig weniger Rückendeckung von den USA erhalten und zur Selbstbehauptung getrieben werden.
Emmanuel Macron: „Europa könnte sterben“
Bei seiner Rede in Sorbonne (siehe Foto) am 25. April sagte der Staatspräsident der Französischen Republik, „Europa könnte sterben“. Sinngemäß wäre das dann eine Möglichkeit, wenn sich der Kontinent zu sehr an den Großmächten USA und China orientiere. Die Lösung: mehr Investitionen in Verteidigung und eine stärkere Kooperation der europäischen Mitgliedsstaaten.
Europa solle laut Macron kein Vasall der USA sein, die sich, ebenso wie China, überhaupt nicht um das Wohl des Alten Kontinents sorgten. Die Vision eines strategisch souveränen Europas ist seit Macrons Machtantritt vor sieben Jahren Kern seines außenpolitischen Programms. Der in den Umfragen abgeschlagene Politiker der „Renaissance“ Partei, die dem Populismus der Mitte zugeordnet wird, fordert seit Jahren ein souveränes Europa mit einem starken Frankreich als essenzielle, wenn auch nicht einzige Führungsmacht.
Transatlantiker mögen diese Forderungen infrage stellen. Warum sollte Europa sich plötzlich auf militärische Schlagkraft und wirtschaftliche Unabhängigkeit besinnen, wo es doch jahrzehntelang unter dem Schutz der USA prosperieren konnte? Die Antwort liegt für einen Gaullisten wie Macron auf der Hand: Die Zeit hat sich schlichtweg geändert.
Warum ein Atomschirm nicht zur Sicherung Europas reichen wird
Zur Zeit des Kalten Kriegs war die nukleare Teilhabe eine enorm wichtige Grundlage der NATO. Sie setzte voraus, dass auch Länder ohne eine eigene Atombombe von Atommächten beschützt werden sollten, so etwa Deutschland von den USA. Doch die Situation heute ist eine gänzlich andere. Vor 1989 hätten schon einzelne Scharmützel zu einem atomaren Erstschlag führen können, wie der gescheiterte Eroberungsfeldzug der CIA auf Kuba zeigte. Dieser Zwischenfall mit weniger als 300 Toten führte im Jahr 1961 fast zu einem globalen Atomkrieg.
Heute kämpfen in der Ukraine riesige Armeen gegeneinander; es gibt tausende Tote auf beiden Seiten, die Ukrainer sind in Bedrängnis, während die Russische Wirtschaft sich an dem teuren Krieg aufzureiben droht. Doch der nukleare Konflikt bleibt aus. Es wäre, so Polens Außenminister Radosław Sikorski, für Putin ein politisches Desaster, jetzt einen atomaren Erstschlag zu befehlen. Die Russische Föderation würde sich damit selbst in die Isolation treiben und militärisch nichts gewinnen, denn um die Front in der Ukraine allein mit Atombomben zu stabilisieren, müssten mehrere hundert von ihnen eingesetzt werden.
Allerdings hat dieses Zurückschrecken vor einem atomaren Erstschlag die Rückkehr der klassischen Materialschlacht begünstigt. Es wird weniger mit Drohnen und Marschflugkörpern als mit Sturmgewehr und Haubitze gekämpft. Die erratische US-Politik hat es bisher versäumt, die Ukraine mit alten Beständen des US-Militärs zu versorgen, um eine stabile Versorgungslage zu schaffen. Es fehlt vor allem an Artilleriemunition, die indessen von Europa selbst produziert werden soll. Entsprechend eindeutig ist der Appell mehrerer europäischer Politiker: Auf die USA ist kein Verlass mehr, Europa muss zusammenstehen.
Das Weimarer Dreieck wird wiederbelebt, Britannien rüstet auf
Sikorski hielt zwei Tage nach Macron eine Rede, in der er auch Polen auf eine stärkere Verteidigungskooperation innerhalb Europas vorbereiten wollte. Man müsse zeigen, dass ein Angriff auf die NATO mit einer russischen Niederlage enden würde, Russland solle aber nicht gedroht werden. Des Weiteren ging es dem Minister um gute Beziehungen zu Berlin und Paris, die in dem Dialogforum Weimarer Dreieck wiederbelebt werden sollten. Die größte Priorität sieht Sikorsky jedoch in der Verbesserung der europäischen Verteidigungskooperation. Sikorski, der in seiner Rede vor allem mit der Vorgängerregierung und der konservativen PiS brechen wollte, sprach sich zwar für gute Beziehungen zu den USA aus, sagte aber zugleich, dass sich Polen nicht dem Westen unterwerfen wolle.
Die Einsicht, dass die USA kein hinlänglich verlässlicher Schutzpatron mehr für die europäischen Nationen darstellen, scheint von immer mehr Staatsoberhäuptern Europas geteilt zu werden. So schreibt Rishi Sunak im Wall Street Journal (WSJ):
„Die Herausforderungen für die globale Sicherheit wachsen […] Wir müssen handeln, um unsere Feinde abzuschrecken, unsere Werte zu verteidigen und unsere Interessen zu sichern. Unsere Entscheidung, unseren Verteidigungshaushalt zu erhöhen, beweist, dass das Vereinigte Königreich – wie immer – bereit ist, seine Rolle zu spielen.“
So scheint es, als wären Briten, Franzosen und Polen in der multipolaren Welt angekommen. Ob die noch zögerlichen Deutschen folgen werden, bleibt abzuwarten.