DWN: Herr Strømmen. Angesichts der Verhaftung zweier russischer Spione in Deutschland, der Ermordung zweier ukrainischer Soldaten durch einen Deutsch-Russen ebenfalls in Deutschland und der GPS-Fehlfunktion, die Finnair dazu veranlasste, ihre Flüge in die estnische Stadt Tartu auszusetzen: Was denken Sie darüber?
Tor Ivar Strømmen: Zunächst einmal sind die Phänomene, die wir beobachten, Erscheinungsformen der russischen Abschreckungsstrategie. Im westlichen Kontext wird Abschreckung in der Regel als ein Mechanismus zur Erhöhung des Risikos verstanden, der Einzelpersonen oder Staaten davon abhält, Angriffe zu starten oder militärische Gewalt anzuwenden, indem einfach die Bedrohung erhöht und die Fähigkeit zu einer robusten Reaktion demonstriert wird. Im Gegensatz dazu ist der russische Ansatz der Abschreckung, den wir derzeit erleben, nuancierter.
DWN: Können Sie das näher erläutern?
Strømmen: Die russische Abschreckungsstrategie besteht zwar auch darin, potenziellen Angreifern zu signalisieren, dass Russland über beträchtliche Abschreckungskapazitäten, einschließlich Nuklearwaffen, verfügt, aber sie geht darüber hinaus. Sie beinhaltet den umfassenden Einsatz verschiedener Instrumente, die von subtilen, nicht-tödlichen Methoden bis hin zum strategischen Einsatz von Nuklearwaffen reichen. Dieser Ansatz zielt nicht nur darauf ab, die Angriffsbereitschaft zu verringern, sondern auch darauf, die Risiken in Friedens-, Krisen- und Kriegszeiten aktiv zu managen und zu reduzieren. Darüber hinaus folgt Russland nicht unserem Verständnis des Konfliktkontinuums. Aus russischer Sicht gibt es keinen Frieden, sondern souveräne Staaten befinden sich permanent im Konflikt, wobei nur die Mittel zur Durchsetzung der Ziele variieren.
DWN: Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen den jüngsten Ereignissen? Handelt es sich vielleicht um ein großes Puzzle, das sich zusammenfügt?
Strømmen: Das kann man so sagen. Mit dem Ende des Kalten Krieges, dem Fall der Berliner Mauer und der Auflösung der Sowjetunion hat Russlands Fähigkeit, als Großmacht zu agieren, einen erheblichen Rückschlag erlitten. Dennoch betrachtete man sich weiterhin als wichtigen Akteur, als eine Macht, mit der man rechnen müsse. Russland erwartete daher, weiterhin in wichtige Entscheidungen und Ereignisse einbezogen zu werden, insbesondere in solche, die ihre zentralen historischen und sicherheitspolitischen Interessen betrafen. Doch 1999, etwa zur gleichen Zeit, als Putin an die Macht kam, geschah in Europa etwas, das Russland zwang, seine Haltung zu überdenken, und zwar der Kosovo-Krieg.
DWN: Damals intervenierte die NATO in Serbien zum Schutz der Kosovo-Albaner, ohne Russland zu konsultieren oder einzubeziehen.
Strømmen: Exakt. Die NATO schloss Russland damit faktisch aus einer Angelegenheit aus, an der es bedeutende historische Interessen hatte. Russland empfand dies als eine tiefe Beleidigung und fühlte sich zu einem irrelevanten, unbedeutenden Staat degradiert. Dieser Vorfall löste in Russland ein Umdenken aus, das zu einer Neubewertung der eigenen Stärken und einer Wiederbelebung seiner militärischen Fähigkeiten führte. Russland begann wieder, wie eine Großmacht aufzutreten und forderte Anerkennung.
Dieses neue Selbstbewusstsein kristallisierte sich in Putins vielzitierter Münchner Rede 2007 heraus. Das teilweise Scheitern des russischen Militärs in Georgien 2008 – wo es sich in erster Linie auf schiere Stärke und Zahlen verließ – führte zu einem umfangreichen Aufrüstungsprogramm, das die militärische Effizienz als außenpolitisches Instrument wiederherstellen sollte.
Doch schon seit 1999 versucht Russland, seinen Großmachtstatus zurückzugewinnen. Dazu gehören die strategische Stationierung von atomwaffenfähigen Langstreckenbombern, Patrouillen in internationalen Gewässern und die Entsendung von U-Booten in sensible Seegebiete. Die Annexion der Krim 2014, die Besetzung des Donbass, der Krieg in Georgien, die Intervention in Syrien und andere Aktionen dieser Art sind Ausdruck dieser übergreifenden Strategie. All diese Aktivitäten sind Facetten ein und desselben Vorhabens.
DWN: Und das wäre?
Strømmen: Russland will sich wieder als Großmacht etablieren und die führende, wenn nicht gar dominierende Macht in Europa werden. Präsident Putin strebt danach, die Entscheidungsprozesse zu beherrschen, wie es einst die Sowjetunion und das zaristische Russland tat. Putin strebt danach, die entscheidende Position am Tisch einzunehmen, anstatt an den Rand gedrängt zu werden und sich in Fragen, von denen er glaubt, dass sie seine Sicherheitsinteressen zu Recht oder zu Unrecht (unserer Ansicht nach meistens zu Unrecht) berühren, etwas vorschreiben zu lassen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erkennen, dass Russland nach wie vor tief in eine traditionelle Form der Machtpolitik verwurzelt ist, die an das erinnert, was wir vor dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere in der Ära Bismarcks, beobachten konnten.
DWN: Lassen Sie uns über die Gegenwart sprechen. Ihr Land hat kürzlich fünf U-Boote bei ThyssenKrupp Marine Systems in Kiel bestellt und plant, mindestens fünf neue Fregatten und 28 weitere Schiffe zu beschaffen: Welche Rolle spielt das für die militärische Zusammenarbeit zwischen Norwegen und Deutschland?
Strømmen: Die norwegisch-deutsche Sicherheitskooperation hat sich in den letzten Jahren erheblich weiterentwickelt. Dafür sind drei Faktoren ausschlaggebend. Der erste Faktor ist die Abhängigkeit Deutschlands von norwegischen Energielieferungen, insbesondere von Erdgas und Erdöl, die sich seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine noch verstärkt hat. Aufgrund dieser Abhängigkeit hat Deutschland ein besonderes Interesse an der Sicherheit Norwegens, um den Fluss seiner Energieressourcen aus der Nordsee aufrechtzuerhalten.
Der zweite Faktor ist die umfangreiche gegenseitige Beschaffung von Rüstungsgütern, etwa ein gemeinsames U-Boot-Beschaffungsprogramm mit Deutschland, das ein gemeinsames Wartungs- und Modernisierungsprogramm beinhaltet. Im Gegenzug bezieht Deutschland in erheblichem Umfang Rüstungsgüter von der norwegischen Rüstungsindustrie. Zum Beispiel Lenkflugkörper für die Marine.
Der dritte entscheidende Faktor ist die sowohl in Norwegen als auch in Deutschland verbreitete Erkenntnis, dass eine völlige Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten in Sicherheitsfragen nicht mehr sinnvoll ist und dass Europa und die Vereinigten Staaten nicht immer gemeinsame strategische Interessen haben. Die engen persönlichen Beziehungen zwischen den Staats- und Regierungschefs haben die Zusammenarbeit zusätzlich gestärkt. Die frühere norwegische Premierministerin Erna Solberg und die frühere deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel waren enge persönliche Freunde, und es scheint, dass auch der jetzige Bundeskanzler Scholz und Premierminister Støre ein ausgezeichnetes Verhältnis zueinander haben. Solche Beziehungen fördern die Entwicklung von Sicherheitspolitik und helfen bei der Steuerung von Sicherheitsstrategien.
DWN: Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation und die Häufigkeit russischer Militärübungen in der Nähe der norwegischen Grenze? Welche Veränderungen haben Sie seit 2007 festgestellt, insbesondere im Hinblick auf die Äußerungen des damaligen Oberbefehlshabers der norwegischen Streitkräfte, Sverre Diesen, dass Norwegen im Falle eines russischen Angriffs auf sich allein gestellt wäre?
Strømmen: 2007 hatte sich die NATO weitgehend aus dem Nordatlantik zurückgezogen und sich stattdessen auf Konflikte in anderen Ländern wie Afghanistan konzentriert. Damit musste Norwegen seine Sicherheit vor dem Hintergrund der zunehmenden russischen Militäraktivitäten selbst in die Hand nehmen. Die Behauptung von Sverre Diesen, dass "Norwegen allein gegen Russland steht", verdeutlichte die geringe Präsenz verbündeter Streitkräfte in norwegischen Gewässern inmitten der zunehmenden russischen Aktivitäten. Sie machte auch deutlich, dass die potenzielle Bedrohung durch Russland erheblich unterschätzt wird. Abgesehen von den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten in Osteuropa sowie von Finnland und Norwegen sahen nur wenige Russland als gegenwärtige oder zukünftige Bedrohung an. Russische strategische Flüge, U-Boot-Einsätze und Operationen von Überwasserschiffen in der Nähe der norwegischen Ölfelder und entlang der norwegischen Küste häuften sich und machten dem norwegischen Militär deutlich, dass die russische Bedrohung nicht nachgelassen hatte.
Darüber hinaus beinhaltet die russische Militärstrategie häufig asymmetrische Kriegsführungstaktiken, die als Strategeme bekannt sind und ihren historischen Ansatz widerspiegeln, den westlichen Fähigkeiten nicht durch technologische Überlegenheit zu begegnen, die sie nie besessen haben, sondern durch überwältigende Zahlen und unkonventionelle Strategien. Diese zielen darauf ab, westliche Schwächen auszunutzen, wie die Neigung von Demokratien, langsam und vorsichtig auf Entwicklungen zu reagieren, und die Annahme, dass andere Akteure ebenso wenig zu Zwang und Gewalt bereit sind. Als Grenzstaat, der täglich mit Russland konfrontiert ist, musste Norwegen diese Herausforderungen allein bewältigen, ohne wesentliche Unterstützung oder Verständnis seitens seiner Verbündeten.
DWN: Wie hat sich die Situation seither entwickelt?
Strømmen: Seit damals hat sich viel verändert. Die NATO-Präsenz ist heute robuster, zugleich haben wir unsere Strategien verfeinert, um sicherzustellen, dass wir in der Lage sind, in der Anfangsphase einer Eskalation oder Krise, über Wochen und Monate allein zu bestehen, falls Russland Waffengewalt gegen uns einsetzt. Obwohl Norwegen seinen nominalen Verteidigungshaushalt zwischen 2014 und 2021 um 34 Prozent erhöht hat, waren unsere anfänglichen Antworten auf diese sicherheitspolitischen Herausforderungen wenig beeindruckend. Die jüngsten Veränderungen in Norwegens Verteidigungspolitik und bei den militärischen Fähigkeiten haben jedoch begonnen, diese Defizite zu beheben. Unsere Luftwaffe wurde mit 52 F-35-Kampfflugzeugen modernisiert, und wir sind dabei, neue 212-CD-U-Boote, deutsche Leopard-2A7-Panzer sowie K9-Artillerie und mehr zu beschaffen.
Darüber hinaus haben wir unsere nachrichtendienstlichen Fähigkeiten durch eine umfassende und kontinuierliche Überwachung Russlands erheblich verstärkt. Trotz dieser Fortschritte haben Vorfälle wie der Angriff auf die Nord Stream-Pipeline unser Militär und unsere Regierung überrascht. Das unterstreicht die Notwendigkeit ständiger Wachsamkeit und einer anpassungsfähigen Verteidigungsstrategie. Dank unserer umfangreichen maritimen Industrie konnten wir nach dem Nord-Stream-Vorfall unsere Unterwasserinfrastruktur schnell unter Kontrolle bringen und überwachen. Damit haben wir bewiesen, dass wir in Krisenzeiten nationale Ressourcen effektiv mobilisieren können. Diese schnelle Reaktion war jedoch nicht das Ergebnis akribischer Planung, sondern vielmehr das Ergebnis der historisch engen Beziehungen zwischen Regierung und Privatsektor sowie eines Nationalbewusstseins, das kollektives Handeln in Notsituationen fördert.
In der Fortsetzung des Interviews morgen geht es verstärkt um die Rolle Deutschlands innerhalb der europäischen Sicherheitspolitik, der strategischen Autonomie Europas und den Lehren die die Deutschland aus Norwegens Umgang mit Russland ziehen kann.
Zur Person:
Tor Ivar Strømmen (geb. 1972) ist Marinehistoriker, -forscher und -stratege, der sich auf die Theorie der Seemacht im Kontext von Küsten- und Kleinstaaten spezialisiert hat. Als Kommandeur der norwegischen Marine verfügt er über mehr als 15 Jahre Einsatzerfahrung, einschließlich NATO-Ausbildung bei der Royal Navy und der US Navy. Derzeit ist Strømmen Dozent an der Königlich Norwegischen Marineakademie und aktiv an nationalen und internationalen Forschungsprojekten beteiligt. Er ist ein anerkannter Experte für maritime und strategische Angelegenheiten.