Politik

Krankenhaus-Reform: Weiß der Gesundheitsminister, wohin er das Land lenkt?

Lesezeit: 6 min
16.06.2024 08:02  Aktualisiert: 17.05.2030 12:00
Viel zu teuer, die Versorgung unsicher. Das deutsche Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps, nachdem 20 Jahre die Krankenhäuser im Lande auf Verschleiß gefahren worden sind und nun reihenweise in die Pleite schlittern. So beschreibt es Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und hat dem Land eine schmerzhafte Reform verordnet. Hat der umtriebige Wissenschaftler genug Erfahrung, um derlei gewagte Diagnosen anzustellen? Warum kämpft er so verbissen? Was hat er übersehen?

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Es war ein weiter Weg, zwar immer im Kreis herum, dafür aber stets geschwind unterwegs. Lauterbachs Krankenhaus-Reform, seine „Revolution des deutschen Gesundheitswesens“, ist endlich auf der Zielgeraden angelangt. Das Kabinett von Olaf Scholz hat den Plänen von Prof. Karl Lauterbach für dessen hartnäckig vorangetriebene Krankenhausreform Mitte Mai grünes Licht gegeben. Nun heißt es für den „Einflüsterer“ aus Düren, wie ihn der „Spiegel“ bereits vor 20 Jahren nannte: Kurz vorm Ziel leicht abbremsen – und einen Gang runter schalten zum Schluss-Spurt.

Organisationsaufbau, die Finanzierung und das Leistungsspektrum der Krankenhäuser in Deutschland sollen nach Lauterbachs Plänen grundlegend verändert werden, um eine bessere Versorgung der Bevölkerung zu erreichen. Dafür sollen vor allem die Fallpauschalen pro Patient abgesenkt werden – um stolze 40 Prozent. Lauterbach meint, das lindere den Druck, immer mehr Patienten behandeln zu müssen, nur um möglichst rentabel zu arbeiten. Die Einschnitte gefährden zwar das Gefüge der Kliniken bundesweit, das sei aber beabsichtigt. Große Häuser werden von Lauterbach favorisiert, die kleinen Kliniken sind aus seiner Sicht entbehrlich. Mit anderen Worten: Häuser, die medizinisch nicht erste Wahl sind, machen dicht oder Pleite.

Die Krux mit den Fallpauschalen

Und wofür dürfen die Krankenhäuser ihre restlichen 60 Prozent einsetzen? Um Leistungsangebote vorhalten zu können, also für Personal, die Notaufnahme und teure Medizintechnik. Manche Bereiche werden sogar bereits konkret beziffert: Kindermedizin etwa mit 288 Millionen Euro mehr, für die Geburtshilfe 120 Millionen Euro, für Schlaganfälle können Häuser mit 35 Millionen Euro mehr rechnen ab 2027 und die Intensivmedizin mit 30 Millionen Euro. Vor allem Unikliniken sollen mehr bekommen.

Nun soll die Sache im Bundestag diskutiert werden – am besten freilich gleich durchgewunken werden. Bloß nicht im parlamentarischen Verfahren Ende Mai/Anfang Juni durch selbstverliebte Unachtsamkeit aus der Kurve zu fliegen und ein Crash bauen. Erst in der Boxengasse wieder Gas geben und laut vernehmlich den Motor aufheulen lassen, um im Powerslide wie ein Rennfahrer auf die Zielflagge zuzurasen. Bei der Siegerehrung in der Bundespressekonferenz gibt es Heilkräuter (Lorbeeren) für den Minister, und der Sieger darf hemmungslos mit Schaumwein spritzen.

Lauterbach verwirklicht Ulla Schmidts Pläne

Veni, vidi, vici! Karl Lauterbach – wie der langjährige Formel-1-Weltmeister Michael Schumacher im ärmlichen Bergbau-Revier zwischen Köln und Aachen aufgewachsen, könnte endlich den Triumph einfahren, der seiner einstigen Mentorin Ulla Schmidt (Ex-Gesundheitsministerin der SPD aus Aachen) stets verwehrt blieb: nämlich das lange Jahre bewährte Gesundheitssystem in Deutschland endlich in die Planwirtschaft zu überführen. Anno 2003 war das, als Schmidt den Kliniken u.a. jene heute umstrittene Fallpauschale übergeholfen hatte. Und zwar auf dringendes Anraten eines gewissen Herrn Lauterbachs, der als Wissenschaftler von der Harvard-Universität machtversessen in die Politik gewechselt war. Ulla und Karl – den rheinländischen Singsang der beiden Frohnaturen haben die Vertreter von Ärzteschaft und Krankenkassen und Pharma-Lobbyisten noch heute äußerst schmerzhaft im Ohr.

Gebracht hat das damalige Prozedere nicht viel. Schmidts Nachfolger Philipp Rösler von der FDP stand genauso hilflos vor den (über Jahrzehnte des Sozialstaates fortgeschriebenen) systemimmanenten Problemen eines überregulierten Medizin-Apparates. Die weiteren Nachfolger danach gleichfalls, bis Jens Spahn (CDU) schließlich von Corona gebeutelt wurde.

In Talkshows immer bella figura – und jetzt?

Seit dem Ende der Pandemie doktert Lauterbach, ein Mediziner mit sicherlich viel Wissen, aber nur wenig praktischer Erfahrung, nun selbst herum. Alle Lichter der Ampel stehen für ihn auf Rot-Gelb-Grün! Der offenbar wegen seiner Verdienste als Impfdoktor im Bayer-Pharma-Städtchen Leverkusen (und seiner unzähligen schmerzresistenten Auftritte in der ZDF-Talkshow von Markus Lanz) ins Ministeramt gehievte Sozialdemokrat möchte recht zügig den Wildwuchs der Universitäts-, Poli-, Privat- und städtischen Kliniken zurückstutzen und den Dünger umverteilen.

Ein Sparprogramm soll es sein, für die vielen kleinen regionalen Krankenhäuser. Um dadurch den Betrieb der teuren Spitzen-Medizin aufrecht erhalten zu können. Unverhältnismäßig sei dies, schimpfen die Bürgermeister kleinerer Ortschaften und Landräte in den ruralen Weiten des Landes. „Die eigentliche Agenda hinter dieser Reform ist, dass Herr Lauterbach einen Systemwechsel plant, von einer zentralistisch planwirtschaftlichen Systemlogik auszugehen, von Berlin aus zentral zu organisieren im Mikrokosmos, was welche Klinik in jeder Region dieses Landes zu tun und zu leisten hat“, wettert Thomas Lemke, Vizepräsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft, und ist außer sich. Eine Planwirtschaft á la DDR löse die Probleme nicht.

Alles nur Standesdünkel und Schmähkritik?

„Es ist ein riesiger Unterschied, ob ich auf der Insel Rügen bin, im Schwarzwald oder in einem urbanen Raum, wie in München oder in Berlin. Zu glauben, mit kleinteiligen Regelungen für alle gleiche Versorgung zu organisieren, wird scheitern“, so Lemke in seiner Philippika. Es drohen „Unterversorgung und Rationierung“. Und das Krankenhaus-Personal macht nicht mit, glaubt Lemke. „Viele verlassen das System, insbesondere Pflegekräfte. Ärzte weniger, die sind mobiler. Pflegekräfte verlassen das System und gehen nicht in das Nachbarkrankenhaus 30 Kilometer entfernt.“ Alles wirklich nur Standesdünkel und die übliche Schmähkritik von Interessenvertretern?

Die Stiftung Patientenschutz spricht von Praxisferne. Lauterbach hantiere „mit Rechenschieber“ und nicht als Arzt mit Stethoskop – „eine Reform am Reißbrett“. Die Arbeiterwohlfahrt warnt, die Reform belaste einseitig die Gesetzliche Krankenversicherung und gehe auf Kosten von Beitragszahlenden. Die Arbeitgeberverbände befürchten neuerliche Beitragssatzanhebungen. Die CDU hält deshalb die Gegenfinanzierung für „unausgegoren“. Lauterbach möchte einen Transformationsfonds über zehn Jahre einrichten und sukzessive auf ein Gesamtvolumen von 50 Milliarden Euro steigern – von Bund und Ländern jeweils hälftig finanziert. Für den Bund sollen freilich die Kassen einstehen, was allerdings ihrer eigentlichen Aufgabe widerspricht. Die sind für die medizinische Versorgung zuständig und nicht für den baulichen Unterhalt der Krankenhäuser. Die Bundesländer würden angeblich 2,5 Milliarden Euro pro anno übernehmen, ob das so sicher ist, steht auch noch in den Sternen.

In maximal 40 Minuten per Taxi ins Spital

Lauterbach ist halt rhetorisch geübt und hält stets dagegen. Nur er weiß, wie es geht! Der Gesetzentwurf sieht eine flächendeckende Versorgung vor. Konkret sollen Krankenhäuser in maximal 30 Minuten Fahrzeit mit dem Taxi erreichbar sein. Das gilt für Kliniken mit Innerer Medizin und Chirurgie. Andere Krankenhäuser müssen in 40 Fahrminuten mit Auto erreichbar sein.

Der Kanzler hat immer noch Vertrauen – das war vor 20 Jahren mit Ulla Schmidts Plänen und Gerhard Schröder genauso. Lieber ein handwerklich unausgereifter Eingriff als gar keine Bewegung – so sehen politische Kompromisse bei der SPD aus, wenn die Widerstände unüberwindbar scheinen.

In der Sache muss Lauterbach freilich manch artistische 180-Grad-Volte hinlegen. Es gilt seine eigenen anno 2024 vorbereiteten faulen Kompromisse auszubügeln – oder gegen schlechte neue Deals einzutauschen, wie Kritiker aus fast allen Bereichen des Gesundheitswesens argwöhnen. Seine aktuellen Lieblings-Schlagworte heißen „Gesundheitskiosk“ und „Versorgungszentrum“. Der Clou seiner Reform ist das sogenannte Transparenzgesetz. Um Patienten einen Bewertungsmaßstab an die Hand zu geben, sollen die Leistungen der Krankenhäuser in einer Art Ranking öffentlich gemacht werden. Patienten sollen so besser geeignete Behandlungsmöglichkeiten und Kliniken finden können – zum Beispiel in Berlin zur Charité fahren und nicht etwa ins benachbarte Krankenhaus in Köpenick gehen, wenn es um eine schwerwiegende Diagnose und Behandlung geht.

Notruf der Ärzteschaft gegen die Krankenhaus-Reform blieb ohne Widerhall

Das wiederum bringt die Ärzteschaft auf die Palme, dass Professor Lauterbach Schulnoten verteilt, sei der Knaller. So wie auch Lauterbachs aufgestellte Behauptung, dass vielfach „Eingriffe gemacht werden, die nicht unbedingt medizinisch notwendig sind, nur damit das Krankenhaus überleben kann“. Der Notruf der Ärzte verklang ohne großen Widerhall. Die Apotheker sind schon Ende des Jahres in den Ausstand getreten – Apotheker-Streik, wer hätte das für möglich gehalten?

Gut möglich, dass Lauterbach doch noch wegen eines Kolbenfressers gestoppt wird auf seiner letzten Meile. Die ersten Bundesländer drohen bereits mit Klagen, die den Prozess in die Länge ziehen. Vor allem der Bundesrechnungshof hat (nur Tage nach dem Kabinettsbeschluss) als Punktlandung ein umfassendes Gutachten vorgelegt, dass die Finanzierung in Frage stellt und für rechtlich fragwürdig hält. Eine Kernfrage könnte sein, ob nicht auch Privatpatienten städtische Krankenhäuser frequentieren würden. Eine rhetorische Frage! Warum sollen sie also nicht für deren Erhalt aufkommen? Hat Lauterbach mal wieder was übersehen? Das mit den Einwänden wird bis zur Abstimmung im Bundestag so weitergehen. Die Folgen sind so oder so dramatisch.

Wie es so weit kommen konnte, dass der angeblich ja einst von Ulla Schmidt gerettete Gesundheitsbereich schon wieder vor dem Kollaps steht, wird wohl vielen Bürgern im Land ein Rätsel bleiben. Ist Deutschland wirklich so schlecht aufgestellt bei der medizinischen Versorgung? Sicherlich nicht! Die USA etwa, fürwahr in Sachen Apparate-Medizin mit Hi-Tech bestens ausgestattet, sind im Unterhalt noch teurer – während die Versorgung zu wünschen übrig lässt, die Wohlhabenden eher begünstigt und dafür die Armen vernachlässigt werden.

Das Klagelied freilich von der mangelnden ärztlichen Versorgung im Lande ist eine Chimäre. „Bei mir in Berlin-Charlottenburg besteht eine Überversorgung“, räumt der Publizist und Gesundheitsökonom Hartmut Reiners ein. Von einer „Unterversorgung“ indessen könne nirgends die Rede sein, auch nicht auf dem Lande, wo die Ärzte angeblich fehlen und die Bürger von ständigen Schmerzen geplagt sind, wenn man etwa den Beschreibungen Sahra Wagenknechts über den vermeintlichen Untergang des Ostens folgt.

Wer sich das Gesundheitssystem leisten kann

Das deutsche Gesundheitssystem muss man sich allerdings leisten wollen. Ob das auch künftig noch so gelingen kann, angesichts der aktuellen Steuerschätzungen, steht in Zweifel. Sicherlich ist es den deutschen Krankenhäusern in weiten Teilen des Landes so gegangen wie der Bahn: In den fetten Jahren wurden bestenfalls die Krankenkassen-Beiträge (wie die Zug-Tickets) in den Erhalt der Kliniken gesteckt, jedoch nicht genug von den Ländern investiert, die sie instandhalten sollten.

Verallgemeinern lässt sich das natürlich nicht das sehen auch wir von den DWN ein: Es gibt bestens alimentierte und auch mit Spitzenpersonal ausgestattete Forschungskliniken wie die Berliner Charité. Selbst die Bundeswehr-Krankenhäuser etwa in Koblenz zählen zu den wohl besten im Lande. Die von den gutgestellten Privatpatienten gepäppelten Privatkliniken sind ohnehin außen vor – ihr Geschäft ist das „Free enterprise“, an das Lauterbach mit den üblichen Mitteln der Kameralistik nicht herankommt.

                                                                            ***

Peter Schubert ist stellv. Chefredakteur und schreibt seit November 2023 bei den DWN über Politik, Wirtschaft und Immobilienthemen. Er hat in Berlin Publizistik, Amerikanistik und Rechtswissenschaften an der Freien Universität studiert, war lange Jahre im Axel-Springer-Verlag bei „Berliner Morgenpost“, „Die Welt“, „Welt am Sonntag“ sowie „Welt Kompakt“ tätig. 

Als Autor mit dem Konrad-Adenauer-Journalistenpreis ausgezeichnet und von der Bundes-Architektenkammer für seine Berichterstattung über den Hauptstadtbau prämiert, ist er als Mitbegründer des Netzwerks Recherche und der Gesellschaft Hackesche Höfe (und Herausgeber von Architekturbüchern) hervorgetreten. In den zurückliegenden Jahren berichtete er als USA-Korrespondent aus Los Angeles in Kalifornien und war in der Schweiz als Projektentwickler tätig.



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