Die Inflationsrate in Deutschland ist im Mai auf 2,4 Prozent gestiegen, wie das Statistische Bundesamt (Destatis) Ende Mai mitteilte. Für Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der niederländischen Großbank ING, sind für den Anstieg sowohl technische als auch strukturelle Faktoren verantwortlich. Zu den strukturellen Faktoren zählten der nach wie vor sehr stabile Arbeitsmarkt, das starke Lohnwachstum und die damit verbundene anhaltend hohe Nachfrage nach Dienstleistungen.
Kurzfristiger Effekt oder langfristige Trendwende?
Der aktuelle Inflationsanstieg sei deshalb mehr als ein kurzfristiger Effekt, so Brzeski. „Ein nachhaltiger Rückgang der Inflationsrate unter 2 Prozent ist nur möglich, wenn auch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage schwächelt. Und das ist derzeit nicht der Fall.“ Der robuste Arbeitsmarkt und die starke Konsumnachfrage lassen deshalb keine rasche Entspannung der Preisentwicklung erwarten. Trotz vorübergehend sinkender Energiepreise bleibe der Inflationsdruck bestehen. Bereits im April war der Rückgang der Teuerung bei einer Rate von 2,2 Prozent ins Stocken geraten. ING-Ökonom Brzeski sieht daher die Gefahr, dass sich die Inflation hierzulande längerfristig auf einem höheren Niveau einpendelt, solange die Nachfrage stark bleibt und die Löhne weiter steigen.
Regionale und ökonomische Einflussfaktoren
Wichtige Treiber der Inflation sieht Brzeski auch in regionalen Entwicklungen. „Die Erhöhung des Mindestlohns wird zu einem anhaltend hohen Inflationsdruck führen“, prognostiziert er. Zudem könnten künftige Steueränderungen, die sich aus den Haushalts- und Spardiskussionen in Berlin ergeben, die Inflationsrate zusätzlich beeinflussen.
Lindner plant Steuerentlastungen gegen Inflation
Um die Auswirkungen der hohen Inflation auszugleichen, plant Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) umfangreiche Steuerentlastungen. Es sei ein Gebot der Fairness, das Steuersystem an die Inflation anzupassen. Der Staat dürfe nicht der Gewinner der Inflation sein, so Lindner bei der Vorstellung seiner Pläne Anfang Juni in Berlin.
Demnach sollen die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in den kommenden Jahren um insgesamt 23 Milliarden Euro entlastet werden. Dazu soll der Grundfreibetrag bei der Lohn- und Einkommensteuer bis 2026 in mehreren Schritten angehoben werden. So soll der Grundfreibetrag noch in diesem Jahr rückwirkend zum 1. Januar um 180 Euro auf 11.784 Euro steigen, was eine Entlastung von rund zwei Milliarden Euro bedeutet. Ab Januar 2025 ist eine weitere Erhöhung um 300 Euro geplant, bis 2026 soll der Freibetrag auf 12.336 Euro steigen. Zudem soll der Spitzensteuersatz erst bei höheren Einkommen greifen. Diese Maßnahmen sollen dazu beitragen, die Belastungen der Bürger durch die hohe Inflation abzufedern.
Auswirkungen auf Finanzmärkte und Investitionen
Der Frage, wie eine anhaltend höhere Inflation die Finanzmärkte und Investitionsentscheidungen von Unternehmen beeinflussen könnte, begegnet ING-Volkswirt Brzeski pragmatisch: „Eine Inflation zwischen 2 Prozent und 3 Prozent wird für Investoren und Finanzmärkte keinen großen Unterschied machen,“ erklärt er. In diesem Bereich sei die Planungssicherheit noch gegeben, was wichtig für langfristige Investitionsentscheidungen ist.
Vorsichtige Zinspolitik als Schlüssel zur Inflationskontrolle
Um eine Überhitzung der Inflation zu verhindern, betont Carsten Brzeski die Bedeutung einer vorsichtigen Zinspolitik. „Die hartnäckige Inflation ist das Hauptargument gegen überhastete Zinssenkungen. Solange die Inflation über 2 Prozent bleibt, ist der Raum für die Europäische Zentralbank (EZB), um die Zinsen weiter zu senken, stark eingeschränkt,“ argumentiert er. Eine zu schnelle Senkung der Zinsen könnte die Inflation weiter anheizen, indem sie die Kreditaufnahme und damit die Nachfrage erhöht. Daher müsse die EZB vorsichtig agieren und die Zinsen nur langsam und mit Bedacht senken, um die Inflation nicht zusätzlich zu befeuern. Anfang Juni hatte die EZB die Zinsen um 25 Basispunkte gesenkt, um die geldpolitischen Restriktionen zu lockern und die wirtschaftliche Lage in der Europäischen Union (EU) zu stabilisieren.
Strukturierte Fiskalpolitik für wirtschaftliche Stabilität
ING-Chefvolkswirt Brzeski sieht daher eine wichtige Rolle der Fiskalpolitik zur Kontrolle der Inflation. „Wenn es Angebotsschocks sind, die die Inflation treiben, kann die Fiskalpolitik die Inflation besser in den Griff bekommen als die Geldpolitik.“ Energiepreisbremsen könnten nicht nur Planungssicherheit für Unternehmen bieten, sondern auch die Inflation beherrschbar machen. Diese Maßnahmen könnten helfen, die Energiepreise zu stabilisieren, was einen bedeutenden Einfluss auf die Gesamtinflation haben dürfte, so Brzeski. Gleichzeitig warnt der Ökonom, dass fiskalpolitische Konjunkturmaßnahmen das Risiko einer stabilen Nachfrage und somit eines anhaltenden Inflationsdrucks erhöhen. Die Bundesregierung sollte deshalb sorgfältig abwägen, welche Maßnahmen sie ergreift, um die Inflation zu kontrollieren, ohne das Wirtschaftswachstum zu gefährden.