DWN: Herr Prof. Dr. Sauer, wie läuft die Energiewende in Deutschland?
Prof. Sauer: Besser, als man meinen möchte. Schlechter, als in den USA oder China. Die spielen da in einer anderen Liga. China beispielsweise hat jedes Jahr einen Mehrbedarf an 400 Terrawattstunden. Das sind ungefähr 75 Prozent des Energiebedarfs Deutschlands. Jedes Jahr! Und 2023 haben sie es geschafft, diesen Mehrbedarf durch CO2-freie Stromerzeuger und davon 93 Prozent mit Solar- und Windkraft zu decken. Das muss man sich mal vorstellen! Bis 2030 wird es laut der International Energy Agency (IEA) weltweit eine Verdreifachung der Menge an Strom aus erneuerbaren Energien geben. Und bei uns drückt man sich unter dem Deckmäntelchen der Technologieoffenheit um eine klare Roadmap.
Deutschland: immer noch das Land der Ingenieurskunst
DWN: Weshalb wäre eine Roadmap wichtig?
Prof. Sauer: Gerade die Industrie braucht doch klare Rahmenbedingungen, und zwar auf europäischer Ebene. Beispiel Schwerlastfernverkehr: Welcher Antrieb soll es sein? Wasserstoff und Brennstoffzellen? Oberleitungen auf Autobahnen? E-Fuels in Verbrennungsmotoren? Oder doch rein batterieelektrisch? Die Industrie setzt aktuell klare Zeichen, staatliche Rahmenbedingungen hin oder her. Die ist nicht ideologisch, die schaut, wo und wie Geld verdient werden kann. Und Stromer sind komfortabler, günstiger, leichter zu warten und zu reparieren. Natürlich bringt die Transformation Probleme und auch einzelne Unternehmen oder Branchen in Schieflage. Aber dass beispielsweise VW jetzt Probleme hat, liegt sicher nur zu einem sehr kleinen Teil an hohen Energiepreisen – die dürften sich bei ein bis zwei Prozent der Betriebskosten bewegen. Da wurden wichtige Entwicklungen und Marktdynamiken falsch eingeschätzt. Ich glaube aber, dass die deutsche Auto-Industrie noch lange nicht am Ende ist. Klar ist die Herausforderung durch China eine andere Nummer als vormals durch die japanischen und südkoreanischen Autobauer. Aber: komplexe Gesamtsysteme und interdisziplinäres Denken können wir, wir sind immer noch ein Land der Ingenieurskunst. Das muss jetzt auf die Straße gebracht werden.
DWN: Muss das überhaupt sein mit der Energiewende und den erneuerbaren Energien? Das kostet doch viel Geld und viele Nerven.
Prof. Sauer: Wenn man sich die Erderwärmung anschaut, und alles, was da dranhängt, mit Extremwetterlagen, mit Starkregen, Tornados, Fluten und dem Massensterben der Arten, dann lohnt sich das schon, finde ich. Und das ist ja erst der Anfang. Ich halte es für vollkommen verantwortungslos, einfach so zu akzeptieren, dass wir die Welt, so wie wir sie kennen und wie die Menschen sie bevölkert haben, aufgeben. Allerdings sind fossile Energieformen wie Kohle, Öl und Gas natürlich aktuell noch günstiger, wenn der CO2-Ausstoß vernachlässigt wird. Ohne CO2-Emissionskosten kostet die Herstellung einer Kilowattstunde Strom aus Braunkohle rund drei Cent und davon ein Cent für den Brennstoff Braunkohle. Aber das bleibt nicht so. Die EU hat die Rahmenbedingungen geschaffen für eine umfassende Reduktion der Klimagasemissionen und die Kraftwerkbetreiber haben sich auch schon darauf eingestellt. Für die wäre es jetzt auch Quatsch, wieder zu alten Modellen zurückzukehren – die haben anderweitig geplant und investiert und würden damit ihre eigenen neuen Businessmodelle torpedieren und kannibalisieren.
Der deutsche Sonderweg
DWN: Dass es gefühlt schlecht läuft mit der Energiewende und dadurch mit der Wirtschaft ist nicht die Schuld der aktuellen Bundesregierung?
Prof. Sauer: Die aktuellen Klimaziele hat die letzte Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD festgelegt. Seither ist daran nicht mehr geschraubt worden. Aber mit der Definition der Ziele ist es eben nicht getan, es müssen Maßnahmen und Rahmenbedingungen beschlossen werden. Und es war übrigens unser Bundesverfassungsgericht, das die Regierung im Jahr 2021 dazu verpflichtet hat, die Zielvorgaben zu verschärfen, weil jede weitere Verzögerung die Lasten für die junge Generation verschärft und diese Generation in ihren freie Entscheidungen immer weiter eingeengt wird. Wenn da jetzt von allen Seiten jede Maßnahme schlecht geredet wird, macht man es sich als Politik und Gesellschaft wirklich sehr einfach. Und es ändert ja auch nichts am Klimawandel. Freilich, wer nicht an einen menschengemachten Klimawandel glaubt, wird auch die Maßnahmen für die Energiewende für wenig sinnvoll halten. Dabei gibt es eine Reihe von weiteren Vorteilen und Verbesserungen der Lebensqualität: Wir reduzieren aktuell kontinuierlich unsere Abhängigkeit von Energieträgerimporten aus dem Ausland, für die wir zwischen 60 und 100 Milliarden Euro im Jahr ausgeben, wir schaffen Arbeitsplätze im Energiesektor. Elektrofahrzeuge fahren sich prima und reduzieren direkte Emissionen und Lärm in den Innenstädten und die erneuerbaren Energien erzeugen Strom dauerhaft zu sehr günstigen Preisen.
DWN: Wie ist denn die Lage beim Klimawandel - ist es Wunschdenken, dass er nicht stattfindet und das alles eine große Hysterie ist?
Prof. Sauer: Der Klimawandel ist auf jeden Fall real. Er lässt sich sehr gut beobachten und rein physisch messen. Seitdem Wissenschaftler davor warnen, hat sich gezeigt, dass alles, was vorhergesagt und simuliert wurde, auch eintritt - und das am oberen Rand der Szenarienkorridore, also mit ziemlicher Wucht. Die Rede von einem deutschen Sonderweg und einer Übererfüllung von Klimazielen scheint einigen politisch bequem und das Inaussichtstellen von „einfachen“ Lösungen fällt bei Menschen naturgemäß auf fruchtbaren Grund. Der Klimawandel ist ein so großes Problem, das alle anderen Probleme dagegen verblassen. Da sind wir einfach an vielen Stellen nicht ehrlich zu uns selbst. Das ist ein gesellschaftliches Problem und eine gesellschaftliche Aufgabe. Wir sind weiter nicht gut darauf vorbereitet, was passieren muss, und das macht mir große Sorgen.
Bi-direktionales Laden
DWN: Was müsste jetzt geschehen, damit es besser läuft?
Prof. Sauer: Wir hatten schon vor 15 Jahren durch Studien klar vor Augen, was passieren müsste, aber es wurde viel Zeit verloren und je schneller letzten Endes die Transformation stattfinden muss, umso teurer wird ist. Was gemacht werden muss? Im Stromsektor erreichen wir jetzt einen Anteil von 50 Prozent der Stromerzeugung aus fluktuierenden erneuerbaren Quellen, also vor allem Photovoltaik- und Windkraftanlage, und daher steigt jetzt für eine effiziente Einbindung der erneuerbaren Energien der Bedarf an Kurzzeitspeichern und mehr Flexibilität bei den Verbrauchern. Ab etwa 80 Prozent Anteil erneuerbarer Energien sind dann nur noch so wenige konventionelle Kraftwerke in Betrieb, dass Langzeitspeicher benötigt werden. Mit denen müssen bis zu zwei oder drei Wochen Flaute und Dunkelheit überbrückt werden. Stand heute werden diese Langzeitspeicher aus Gasturbinenkraftwerken bestehen, die mit grünen Brennstoffen auf Basis von Wasserstoff betrieben werden. Das kann direkt Wasserstoff sein, der dann in Salzkavernen gespeichert werden kann, oder Derivate des Wasserstoffs wie Ammoniak, Methangas oder Methanol. Diese Derivate können auch sehr gut per Schiff aus allen Teilen der Welt importiert werden. Ansonsten läuft ja schon vieles ganz gut. Mittlerweile sind wir soweit, dass eine gute Firma Ihnen innerhalb eines Tages eine Photovoltaikanlage aufs Dach baut und die um 17 Uhr läuft. Und natürlich kann nicht alles mit regenerativen Energien laufen. Für den Flugverkehr, für den Schiffsverkehr, für die Landwirtschaft brauchen wir E-Fuels. Ein Mähdrescher, der Tag und Nacht in der Erntezeit in Betrieb ist, wird kaum mit Batteriestrom betrieben werden.
DWN: Welche Rolle spielen dabei E-Autos und bi-direktionales Laden?
Prof. Sauer: Wichtig ist, dass wir die vorhandenen Lastmanagement- und Speicherpotentiale durch intelligente Kommunikation miteinander verbinden und nutzen. Wir haben jetzt schon dezentral richtig viel Speicher zur Verfügung – in Form von E-Autos und deren Akkus oder in Hausspeicheranlagen im Zusammenhang mit Photovoltaikanlagen. Obwohl bloß rund fünf Prozent der Autos in Deutschland Elektromobile sind, bringen diese schon zweieinhalbmal mehr Speicherkapazität als alle unsere Pumpspeicherkraftwerke zusammen. Ein durchschnittlicher Haushalt verbraucht rund zehn Kilowattstunden Strom am Tag. Ein mittelgroßes E-Auto hat rund 60 Kilowattstunden Speicherkapazität. Und dazu kommt: Batterien gehen kaputt, wenn sie nicht verwendet werden. Leider fehlt es bei den meisten Fahrzeugherstellern noch an Unterstützung und einer Freigabe des bi-direktionalen Ladens. Das ändert sich jetzt aber kontinuierlich, auch wenn es noch etwas dauern wird, bis wirtschaftlich interessante Lösungen zur Verfügung stehen. Seit Anfang 2024 können Netzbetreiber die Ladeleistung bei Netzüberlastung reduzieren und müssen dafür auch eine Vergütung anbieten, aber ein wirklich smartes Management der Fahrzeugladung zur Entlastung der Netze gibt es noch nicht flächendeckend.
DWN: Oft ist die Rede von Smart Metern, also digitalen Strom-Messeinrichtungen, die nicht nur den Gesamtverbrauch ermitteln, sondern auslesen, wann wieviel Strom verbraucht wird – und diese Daten auch übermitteln können. Was hat es damit auf sich?
Prof. Sauer: Smart Meter bräuchten wir in den Haushalten und damit die Möglichkeit zur Nutzung dynamischer Stromtarife. In der Industrie wird dagegen der Strombedarf an vielen Stellen am aktuellen Börsenstrompreis ausgerichtet, was aber auch nicht die Netzengpässe berücksichtigt. Da hilft aber, zumindest in statischer Form, dass die Unternehmen einen Arbeitspreis für die kWh elektrische Energie und einen Leistungspreis für den über das Jahr hinweg maximalen Leistungsbedarf bezahlen. Das bringt die Unternehmen dazu, sich intensiv darüber Gedanken zu machen, wie die Lastspitzen reduziert oder durch den Einsatz von Speicher weiter gemanagt werden können. Hier könnten beispielsweise über die Batterien der Elektrofahrzeuge der Mitarbeitenden wertvolle Synergien erzielt werden: Die Arbeitgeber stellen eine umfassende Ladeinfrastruktur für die Fahrzeuge der Mitarbeitenden zur Verfügung und nutzen diese dann für die Lastoptimierung des Unternehmens. Und vielleicht gibt es den Strom für die Mitarbeitenden als Gegenleistung dann gratis oder zumindest vergünstigt.
Zerfall der Infrastruktur
DWN: Sie sind Experte für Speichertechnologie. Wie ist denn da der Stand aktuell in Deutschland, haben wir genügend Speicherkapazitäten?
Prof. Sauer: Nein. Da wurde in den vergangenen 20 Jahren vieles nicht gemacht, ähnlich wie andere fehlende Investitionen in die Infrastruktur, wie wir das ja auch bei Brücken, Bahntrassen, Straßen oder dem Stromnetz sehen. Wir sind nicht da, wo wir sein könnten. Und so drohen wir auch, den internationalen Anschluss zu verlieren, beispielsweise in der E-Auto-Industrie.
DWN: Warum wurde nicht investiert?
Prof. Sauer: Wahrscheinlich weil sich das politisch erstmal nicht auszahlt für Regierungen und Politik insgesamt. Investitionen in das Klima sind nicht direkt sichtbar und das Geld kann wählerwirksamer in irgendwelche anderen Prestige-Projekte gesteckt werden. Man merkt es ja erst, wenn zu lange nicht in die Infrastruktur investiert wurden, dass sie zerfällt oder hohe Kosten durch Reparaturen anfallen. Und vor allem auch den Verlust der Leistung, die die Infrastrukturen für Industrie und Gesellschaft erbringen dann. Das ist ja das, was gerade geschieht.
DWN: Was müsste alles gemacht werden?
Prof. Sauer: Im Bereich Energie sind das mehrere Dinge. Zum einen geht es um den Übertragungsnetz-Ausbau Nord-Süd sowie Ost-West. Zum anderen braucht das Verteilernetz Investitionen für die Wartung und den Ausbau. Hier muss erneuert und ausgebaut werden. Dann bräuchten wir Stromspeicher, um die Stromerzeugungs- und Energieverbrauchsfluktuationen auszugleichen. Die Speicher zum Ausgleich auf der Tagesebene kommen jetzt. Die Batteriepreise sind enorm gesunken und es gibt eine große Zahl von Akteuren, die dort jetzt Geschäftsmodelle sehen. Was der Markt alleine nicht regelt, sind die Absicherungen für längere Dunkelflauten vor allem durch Gasspeicher mit Wasserstoff oder anderen Wasserstoffderivaten, Elektrolyseuren zur Erzeugung des Wasserstoffs und Kraftwerken zur Rückumwandlung in Strom, wenn er benötigt wird. Reservekraftwerke sind dafür da, wenn etwa im Winter wenig Sonne scheint oder über mehrere Wochen kein Wind weht, wie wir es gerade in der ersten Hälfte des Novembers 2024 erlebt haben. Egal, ob das Erdgas oder Wasserstoff oder sogar Braunkohle ist. Es gibt schon Turbinen, zum Beispiel von Siemens, die können beides, Erdgas und Wasserstoff. Erdgaskraftwerke sind günstig im Bau, dafür teuer im Betrieb, weil der Brennstoff teuer ist. Jedenfalls, dieser Infrastrukturausbau kommt nur, wenn der Staat klare und langfristige Rahmenbedingungen und auch Erlösmodelle garantiert. Immer, wenn Infrastruktur mit Lebensdauer im Bereich von 50 Jahren und mehr gebraucht wird, sind rein marktwirtschaftliche Modelle kaum realisierbar, denn wer kann schon abschätzen, wie sich Technologien und Markt in diesem Zeitraum entwickeln? Insofern ist es auch richtig, dass jetzt ein Wasserstoffkernnetz definiert worden ist und in den kommenden Jahren gebaut werden soll. Damit können dann auch die Unternehmen klar kalkulieren, wie sie Zugang zu Wasserstoff bekommen oder auch wo gegenenfalls Alternativen zum Kernnetz notwendig sind.
Kernenergie: Frankreich nicht versorgungsfähig
DWN: Und was ist mit Kernenergie?
Prof. Sauer: Die Kernenergie ist ein rosa Elefant. Weltweit wurden in der westlichen Welt seit 30 Jahren keine Atomkraftwerke gebaut, die sich wirtschaftlich rechnen. Auch in China kommt nur ein kleiner Anteil des zusätzlichen Strombedarf aus Atomkraftwerken. Letztes Jahr konnte China seinen Zusatzstrombedarf erstmals aus CO2-freien Technologien realisieren und dabei steht die Photovoltaik für den größten Anteil des Zubaus, gefolgt von der Windkraft. Bei den Kosten sind es schon die Investitionskosten, die einen betriebswirtschaftlich rentablen Betrieb von AKW-Neubauten kaum möglich machen. Und dabei zähle ich den Preis für das Uran, für die Endlagerung, für Versicherungen, Wartung und Instandhaltung und so weiter gar nicht mit. Der Neubau von Atomkraftwerken ist ohne Subventionen ein finanzielles Desaster für die Betreiber. Dass das jetzt von einigen Politikern wieder ausgegraben wird, um damit Stimmen zu fangen, halte ich für falsch. Man ist damit ja auch nicht einmal politisch unabhängiger. Keines der Länder in Europa hat eigene Uranvorkommen, die heute für Brennelemente genutzt würden. Das sind wirklich rosa Elefanten, das ist Fantasie. Und Fusionsenergie ist noch rosaroter.
DWN: Beim Thema Atomkraftwerke wird immer wieder Frankreich als Positivbeispiel angeführt, stimmt das nicht?
Prof. Sauer: Frankreich lebt zwar noch einigermaßen gut mit den bestehenden Atomkraftwerken, wäre aber vor zwei Jahren ohne die massiven Stromlieferungen der europäischen Nachbarn durch eine Vielzahl von in Wartung und Reparatur befindlicher Kraftwerke nicht versorgungsfähig gewesen. Solche Situationen treten auch sonst immer mal wieder auf. Frankreich ist für sich alleine nicht versorgungsfähig. Deutschland hingegen kann sich selbst versorgen, was wir aus Kostengründen nicht tun sollten, der europäische Verbund hilft, die Strompreise niedrig zu halten. Aber es wäre eben möglich. Ich kann verstehen, wenn Atommächte wie das Vereinte Königreich oder Frankreich noch zivile Atomreaktoren betreiben, einfach auch, um die Expertise für die Waffennutzung zu pflegen, von der wir ja in Bezug auf unsere Sicherheit auch profitieren. Aber dann soll das bitte auch so benannt und nicht unter dem Deckmäntelchen des „billigen Atomstroms“ versteckt werden. Aber selbst hier wird’s teilweise schwierig – wenn beispielsweise die Engländer die Chinesen ihre Atommeiler bauen lassen.
Zölle auf Waren aus China
DWN: Welche Rolle spielt China für uns, was Energie angeht?
Prof. Sauer: Die haben einen gigantischen Binnenmarkt für E-Autos, Photovoltaik- und Windkraftanlagen und auch Stromnetze. Seit wenigen Jahren produzieren die Chinesen jetzt mehr, als sie selber brauchen und überschwemmen damit die Weltmärkte. In China wird seit 15 Jahren eine klare Linie gefahren, nicht nur wegen des CO2, sondern auch wegen Smog in den Städten. Da hat sich jetzt eine Mittelklasse gebildet, die will saubere Luft. China hat seine Städte beispielsweise mit 480.000 Elektro-Bussen ausgestattet. Diese klare Linie fehlt uns. Ein Beispiel ist der Güterverkehr. Wir müssten jetzt eine Technologie klar definieren und dann dafür die Infrastruktur bauen, damit die LKW-Hersteller und die Spediteure sich daraus einstellen können. Dazu gehört zu jeder großen Autobahnraststätte ein 110 Kilovolt-Netzanschluss, der dann 50 bis 100 Megawatt Ladeleistung für LKW und PKW bereitstellen kann. Aber das passiert nicht.
DWN: Warum wäre es jetzt wichtig?
Prof. Sauer: Jeder Tag, an dem derlei Entscheidungen nicht getroffen werden, macht es später teuer. Man sieht es jetzt beispielsweise an den Bahnproblemen: Jetzt muss es plötzlich fix gehen, und zwar alles auf einmal, und deswegen kostet es viel mehr, als wenn die notwendigen Investitionen rechtzeitig und in Ruhe gemacht worden wären. Das kann der Markt nicht von selbst leisten. Wir brauchen klare staatliche Rahmenbedingungen, damit sich in diesem Rahmen dann wieder wettbewerblich die besten Produkte und Lösungen durchsetzen können. Aber die Politik, und die ist nur ein Spiegel der Gesellschaft, drückt sich vor Entscheidungen und wenn es welche gibt, werden sie in unserer modernen Medienwelt und durch populistische Pseudoargumentationen solange attackiert, bis ein großer Teil der Bevölkerung auch der Meinung ist, dass das alles Mist ist, was seitens der Politik entschieden worden ist. Es gibt sicher nicht den einen richtigen Weg, aber wichtig ist eben, dass die Reise angetreten wird und nicht vor der großen Komplexität der anstehenden Aufgaben durch Nichtstun kapituliert wird. Aber noch mal zurück zu China: So weh es unserer Industrie tut, dass Solarmodule, zunehmend auch Windkraftanlagen, Umrichter, Batterien oder Elektrofahrzeuge zu sehr günstigen Preisen auf unsere Märkte kommen, so sehr profitieren wir bei der Umsetzung der Energiewende von den günstigen Preisen. Zusätzliche Zölle verbessern die Position der europäischen Industrie, verteuern aber die Energiewende. Das sind ganz schwierige Zielkonflikte, auf die es sicher keine einfachen und eindimensionale Antworten gibt.
DWN: Herr Prof. Dr. Sauer, vielen Dank für das Interview!
Info zur Person: Dirk Uwe Sauer, geboren 1969 in Mannheim, ist Professor für Elektrochemische Energiewandlung und Speichersystemtechnik und seit 2022 Direktor des neuen Forschungszentrums CARL an der RWTH Aachen. Nach dem Studium der Physik an der TH Darmstadt forschte Herr Sauer insgesamt elf Jahre am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE in Freiburg und fertigte dort auch seine Dissertationsschrift an, die er an der Uni Ulm unter der Betreuung von Prof. Jürgen Garche verteidigte. Kernthemen seiner aktuellen Forschung sind Batteriesysteme für mobile und stationäre Anwendungen aller Art. Von 2017 – 2023 hatte er den Vorsitz des Direktoriums des Akademienprojekts „Energiesysteme der Zukunft (ESYS)“ inne und arbeitet dort aktuell weiter als stellvertretender. Vorsitzender. Als Mitglied des Beirats Batterieforschung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und Koordinator des Cluster of Excellence “Batterienutzung” berät er das BMBF in Fragen der Energiespeicherung. Er ist Mitglied der der Wissenschaftsakademien acatech, der BBAW und in Mainz.