Europas bürokratische Hürden im Biotech-Sektor
Der europäische Biotech-Sektor befindet sich in einer Phase grundlegender Weichenstellungen. Geopolitische Herausforderungen, drohende Zölle und der politische Anspruch, die Abhängigkeit von den USA zu reduzieren, prägen die Rahmenbedingungen. Hinzu kommt eine wachsende Abhängigkeit von asiatischen Ressourcen, die in der Corona-Pandemie deutlich sichtbar wurde. Kristina Thompson, Investment-Direktorin für Innovationen beim Fonds Merieux Equity Partners, betont, dass Europa zwar hervorragende Forscherinnen und Forscher sowie eine starke wissenschaftliche Basis habe, aber zu viele Biotech-Start-ups in die USA abwanderten. Der Grund sei nicht die Qualität der Ideen, sondern die Bürokratie und die langwierigen Prozesse, die es Unternehmen in Europa erschweren, Innovationen rasch auf den Markt zu bringen.
Vom Labor ins Investmentgeschäft
Thompson selbst begann ihre Karriere in der Forschung. Sie arbeitete viele Jahre in den USA, in Deutschland und in Frankreich, bevor sie den Schritt in die Investmentwelt wagte. Die Entscheidung sei aus einer gewissen Ernüchterung entstanden. Sie habe gesehen, wie schwer es sei, Innovationen aus der akademischen Forschung in eine wirtschaftlich tragfähige Anwendung zu übertragen. Technologien, die sie bereits 2005 im Labor nutzte, erreichten den Markt erst viele Jahre später. Dieses Missverhältnis habe sie motiviert, ihre wissenschaftliche Expertise mit betriebswirtschaftlichem Wissen zu verbinden und Forscherinnen und Forschern zu helfen, ihre Ergebnisse schneller in die Praxis zu bringen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stünden heute unter großem Druck. Sie sollen nicht nur forschen, sondern auch Managementaufgaben übernehmen, ihre Projekte vermarkten und in sozialen Netzwerken präsent sein. Thompson ist der Meinung, dass dieser Druck nicht immer sinnvoll ist. Ihrer Ansicht nach sollten Biotech-Start-ups auf Teams setzen, die unterschiedliche Kompetenzen vereinen. Menschen mit wissenschaftlichem Hintergrund könnten mit Finanz- und Kommunikationsexperten zusammenarbeiten, anstatt alles allein leisten zu müssen.
Investitionskriterien für Biotech-Start-ups
Für Investoren wie Merieux Equity Partners sind Patente ein entscheidendes Kriterium. Zwar sei ein bereits erteilter Patentschutz nicht zwingend notwendig, doch müsse zumindest ein klarer Weg zur Patentierung erkennbar sein. Da der Fonds nicht in der allerfrühesten Phase investiere, sei eine Patentanmeldung in der Regel eine wichtige Voraussetzung. Auch regulatorische Hürden seien zu beachten, denn die Laufzeit eines Fonds beträgt zehn Jahre. In dieser Zeit müsse sichergestellt sein, dass ein Produkt zur Marktreife gelangt und ein Ausstieg aus der Investition möglich ist.
Ein weiteres Kriterium sei die Frage nach dem tatsächlichen Nutzen des Produkts. Investiert werde nicht in Entwicklungen, die nur geringfügige Verbesserungen brächten, sondern in Lösungen, die das Leben von Patienten spürbar erleichtern oder die Arbeit von Ärztinnen und Ärzten verbessern. Ein Beispiel ist die Investition in das Robotikunternehmen Acute Surgical. Das Unternehmen entwickelt Technologien, mit denen komplexe Netzhautoperationen deutlich präziser und sicherer durchgeführt werden können. Zudem spiele die Exit-Strategie eine große Rolle. Fonds stimmen sich mit ihrem strategischen Netzwerk ab und fragen gezielt bei großen Pharmakonzernen wie Pfizer, Merck oder Eli Lilly nach, welche Daten oder Entwicklungen eine Beteiligung oder Übernahme attraktiv machen würden. Nur so lasse sich sicherstellen, dass Biotech-Start-ups nicht ins Leere entwickeln.
Typische Fehler junger Biotech-Unternehmen
Ein verbreiteter Fehler vieler Gründerinnen und Gründer sei die Annahme, alles selbst erledigen zu müssen. Thompson nennt als Beispiel ein Unternehmen aus der Augenheilkunde, das eine frühe klinische Studie durchführte, dabei jedoch keine langfristige Produktionsstrategie entwickelte. Als es in die zweite klinische Phase überging, stellte sich heraus, dass die verwendete Formulierung auf einer für das Auge giftigen Technologie beruhte. Damit verloren die bisherigen Daten ihren Wert, Investoren sprangen ab und das Projekt scheiterte. Für Thompson zeigt dieses Beispiel, wie wichtig der Austausch und die Einbindung externer Expertise sind. Cluster, Inkubatoren und Netzwerke könnten dazu beitragen, dass Biotech-Start-ups Fehler vermeiden und voneinander lernen.
Globale Trends im Biotech-Markt
Weltweit stehen derzeit mehrere Entwicklungen im Fokus. Ein wichtiges Thema ist die Preisgestaltung von Medikamenten, die stärker am tatsächlichen Nutzen orientiert sein soll. In der Pharmabranche erlebt die Forschung an kleinen Molekülen ein Comeback, da sie kostengünstig und einfach herzustellen sind. Zugleich gewinnen lipidbasierte Nanopartikel an Bedeutung, die Wirkstoffe gezielt an bestimmte Organe transportieren können. Auch die personalisierte Medizin schreitet voran, wenngleich die Frage der Finanzierung noch nicht abschließend geklärt ist. Diagnostik gilt als entscheidender Treiber dieser Entwicklung. Thompson weist zudem auf ein strukturelles Problem hin: Ärztinnen und Ärzte stehen unter hohem Zeitdruck und können die enormen Datenmengen, die moderne Technologien erzeugen, oft nicht umfassend nutzen. Hier könne die Digitalisierung helfen, Prozesse zu vereinfachen und die Effizienz zu steigern. Besondere Chancen sieht Thompson im Einsatz Künstlicher Intelligenz. Sie könne die Wirkstoffforschung beschleunigen, Produktionsprozesse automatisieren und Kosten senken. Generative Modelle hätten das Potenzial, menschliche Fehler zu reduzieren und objektivere Ergebnisse zu liefern.
Politische Rahmenbedingungen und Abhängigkeiten
Die politischen Rahmenbedingungen sind für den europäischen Biotech-Sektor von entscheidender Bedeutung. Der Wille der EU, weniger abhängig von den USA zu sein, könne ein Katalysator für Investitionen sein. Zugleich sei es paradox, die Abhängigkeit vollständig lösen zu wollen, da die USA weiterhin die größte Biotech-Marktregion bleiben. Handelshemmnisse und Zölle könnten insbesondere kleinere und mittlere Unternehmen hart treffen. Viele Biotech-Start-ups überlegen daher, Tochtergesellschaften in den USA zu gründen, um dortigen Marktzugang zu sichern. Auch die Abhängigkeit von asiatischen Lieferketten bleibt ein zentrales Risiko. Europa müsse hier stärker in eigene Produktionskapazitäten investieren, um bei künftigen Krisen unabhängiger agieren zu können.
Europa muss Biotech strategisch stärken
Thompson zeigt sich zuversichtlich, dass Europa in den kommenden Jahren größere Fondsvolumen mobilisieren wird. Initiativen mit einem Volumen von bis zu zehn Milliarden Euro könnten den Biotech-Sektor nachhaltig verändern. Damit diese Investitionen Wirkung entfalten, müsse die Politik Prozesse vereinfachen und regulatorische Hürden abbauen. Besonders kleine Unternehmen trügen derzeit die größte Last, da sie mit komplexen Genehmigungsverfahren und unterschiedlichen nationalen Vorschriften konfrontiert seien. Europa habe das Potenzial, zur weltweit zweitstärksten Biotech-Region nach den USA zu werden. Dafür müsse es jedoch seine vorhandenen Stärken besser nutzen, Bürokratie abbauen und Biotech-Start-ups gezielt unterstützen. Andernfalls werde die Abwanderung in die USA anhalten.
Für Deutschland, das mit Clustern in Berlin, München oder Heidelberg zu den wichtigsten Standorten für Biotech in Europa zählt, sind diese Entwicklungen von zentraler Bedeutung. Während die Pandemie die Innovationskraft deutscher Unternehmen eindrucksvoll gezeigt hat, bleibt die Finanzierungslücke groß. Biotech-Start-ups leiden unter langwierigen Genehmigungsverfahren und einer Kultur der Risikoscheu. Soll Deutschland seine Wettbewerbsfähigkeit sichern, muss es gemeinsam mit seinen europäischen Partnern die Prozesse verschlanken, den Zugang zu Kapital erleichtern und internationale Kooperationen ausbauen. Gelingt dies, kann Biotech zu einem entscheidenden Wachstumsmotor für Deutschland und Europa werden.

