Nachdem der französische Staatsanwalt mitgeteilt hatte, der Co-Pilot des Germanwings-Fluges habe den Absturz vermutlich absichtlich herbeigeführt, machte sich eine Heerschar von Hobby-Psychologen und Ferndiagnostikern auf, um zu „analysieren“, was für ein Mensch der Co-Pilot gewesen sein müsste, dass er eine solch grausame Tat begehen konnte. Die durchaus berechtigte Hypothese, der junge Pilot könnte die Katastrophe in selbstmörderischer Absicht herbeigeführt haben, ist innerhalb weniger Stunden zum Faktum geworden. Am Samstag haben sich die Behörden schließlich veranlasst gesehen, zu erklären, dass in alle Richtungen ermittelt werden und auch andere Hypothesen, etwa die eines technischen Defekts, nicht ausgeschlossen werden könnten.
Ein zentraler Baustein zur Ursachen-Klärung des Airbus-Absturzes in Frankreich bleibt auch sechs Tage nach dem Unglück verschollen: Die Bergungskräfte suchten den zweiten Flugschreiber weiterhin im ausgedehnten Trümmerfeld in der Nähe des Örtchens Seyne-les-Alpes. «Er wurde immer noch nicht gefunden», sagte Staatsanwalt Brice Robin am Sonntag der Deutschen Presse-Agentur. Am Absturzort liegen Trümmerteile und die sterblichen Überreste der toten Insassen in einem unzugänglichen Gelände, das sich über mehrere Hektar erstreckt. Die Bergung der Toten hat absoluten Vorrang, sagte Staatsanwalt Robin. Bis Montagabend wird eine provisorische Straße zur Absturzstelle eingerichtet. Bisher werden Ermittler und Bergungskräfte tagsüber mit Hubschraubern in das unzugängliche Gebiet gebracht.
Das Auffinden des zweiten Flugschreibers nach dem Airbus-Absturz in Frankreich ist außerordentlich schwierig. «Es könnte sein, dass die Belastung hier zu groß war und er keine Signale sendet», sagte Lufthansa-Manager Kay Kratky am Sonntagabend in der ARD. Die Maschine sei mit Tempo 800 und damit mit unvorstellbarer Wucht an dem Bergmassiv nordöstlich von Marseille zerschellt, sie sei pulverisiert worden. Der zweite Flugschreiber werde aber gebraucht, um sich ein genaues Bild vom Hergang zu machen.
Die nüchterne Aufzählung der bisher vorhandenen Fakten zeigt: Es gibt im Grund wenige belastbare Erkenntnisse, wie es zu der Katastrophe gekommen ist.
Tatsächlich ist die Annahme der Ermittler eine Hypothese, nicht mehr. Der Luftfahrtexperte Tim van Beveren, selbst Pilot, weist im Berliner Radiosender Radioeins darauf hin, dass es unmöglich sei, jetzt schon mit Bestimmtheit sagen zu können, wie es wirklich zu der Katastrophe gekommen ist.
Van Beveren:
„Ich muss erstmal alles in Betracht ziehen, was möglich ist, und dann muss ich Beweise finden für das was ich ausschließe, was es gewesen sein kann. Und da denke ich mir, sind wir noch ein bisschen zu früh. Wir haben ein Wrack, das noch in dem Berg liegt. Wir haben nicht die Leiche des Co-Piloten, die in einer chemisch-toxikologischen Untersuchung untersucht worden ist, was normalerweise zu einer pathologischen Untersuchung hinzugehört – um zu erkennen: war da vielleicht noch was anderes?“
Van Beveren erwähnt eine andere Möglichkeit, die in Luftfahrtkreisen in den vergangenen Jahren immer wieder intensiv diskutiert, von der Industrie jedoch stets bagatellisiert wurde:
„Kohlenmonoxid dringt in dem Moment ein, wo der Kapitän rausgegangen ist. Kohlenmonoxid ist unsichtbar, riecht nicht, führt dazu, dass ich innerhalb kürzester Zeit die Besinnung verliere, wirkt auf das Nervensystem. Als Co-Pilot möchte ich noch ganz schnell die Tür aufmachen, damit mir jemand zur Hilfe kommen kann, und versuche den Schalter umzulegen – der geht aber nicht nach oben sondern nach unten und verriegelt die Tür. Und dann sackt mein Körper zusammen – ich sacke mit dem Körper auf den Sidestick, der Airbus nimmt die Nase runter und beginnt zu sinken – in einem Bereich zwischen 2500 und 3500 ft. pro Minute.“
Die Luftfahrtwebsite Austrian Wings erklärt, dass Crews und Passagiere dieser Gefahr in erheblichem Ausmaß ausgesetzt sind, weil nämlich die zum Atmen in einem Flugzeug nötige Frischluft „künstlich von außen zugeführt werden“ muss: „Dies geschieht mittels so genannter ,Bleed Air‘, zu deutsch Zapfluft. Bei dieser Methode wird - vereinfacht ausgedrückt - vom Triebwerk noch vor der Brennkammer ,reine‘ Luft abgezapft, erwärmt und anschließend in die Kabine geleitet.“
Und weiter:
„Eine Flugzeugturbine ist ein hochkomplexes Bauteil, in dem unzählige Leitungen verbaut sind, die gesundheitsschädliche Betriebsstoffe wie Öl, Hydraulikflüssigkeit und ähnliches enthalten. Selbstverständlich handelt es sich hierbei um geschlossene Systeme, allerdings kann es vorkommen, dass Dichtungen defekt oder leck sind. Und dann wird es für die Insassen eines Flugzeuges möglicherweise problematisch. Tritt Turbinenöl aus lecken Dichtungen aus, kann es die abgezapfte Luft („Zapfluft“) kontaminieren, die wiederum in die Kabine geleitet wird. Das Öl, das in Flugzeugturbinen zum Einsatz kommt, enthält zahlreiche gesundheitsschädliche Additive, unter anderem das hochtoxische Trikresylphosphat, kurz TCP, ein gefährliches Nervengift.“
Sowohl die Sendung Monitor (erstes Video über dem Artikel) als auch das Schweizer Fernsehen (zweites Video) haben dokumentiert, wie gefährlich das in der Fachsprache „Aerotoxisches Syndrom“ genannte Phänomen sein kann.
Solche Zwischenfälle kommen viel häufiger vor, als gemeinhin bekannt ist. Eine Airbus-Maschine der spanischen Fluggesellschaft Vueling ist erst am Donnerstag nach dem Start von Barcelona nach München in die katalanische Metropole zurückgekehrt. Der Flugkapitän der Maschine vom Typ Airbus A320 habe einen „Brandgeruch“ wahrgenommen und aus Sicherheitsgründen kehrtgemacht.
Die Pilotenvereinigung Cockpit spricht von einer hohen Dunkelziffer, weil die Airlines mit hohen Entschädigungs- und Prozesskosten rechnen müssen. Auffällig ist, dass es auch bei dem bis heute nicht aufgeklärten Absturz der malaysischen MH370 ebenfalls einen langen Flug gegeben hat, bei dem sich die Crew nicht bei der Flugsicherung gemeldet hatte, bevor die Maschine ins Meer stürzte.
Ob es auch im konkreten Fall der Germanwings zu einem solchen Vorfall gekommen ist, ist unbekannt. Die Flugexperten von Austrian Wings halten dies für nicht wahrscheinlich. Thomas Müller erklärt den Deutschen Wirtschafts Nachrichten:
„Unsere Redakteure haben intensiv recherchiert, mit über einem Dutzend Piloten gesprochen, als der Crash bekannt wurde. Fazit: Kein einziger Pilot hatte auch nur den Hauch einer Erklärung für das, was geschehen ist und bereits bevor es die Staatsanwaltschaft offiziell bestätigt hat, wurde Austrian Wings aus Pilotenkreisen darauf aufmerksam gemacht, dass ,bei logischer Betrachtung der derzeit bekannten Fakten alles nach Pilotensuizid‘ aussieht.
Andere Szenarien sind derzeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, da nichts zusammenpasst. Dazu ein paar kurze Beispiele: Bei einem Vorfall mit kontaminierter Kabinenluft, bei dem beide Piloten plötzlich bewusstlos werden, fliegt das Flugzeug seinen vorprogrammierten Kurs weiter bis der Sprit ausgeht, ebenso bei einem Druckverlust, der so plötzlich auftritt, dass die Besatzung nicht einmal mehr Zeit hat die Sauerstoffmasken anzulegen (was extremst unwahrscheinlich wäre). Hier aber erfolgte ein aerodynamisch stabiler Sinkflug, soviel wir aus den Radardaten wissen, ein Manöver, dass nur vom Piloten manuell oder durch Programmierung des Autopiloten geflogen werden kann. Der Umstand, dass dies geschehen ist, aber weder über den Transponder noch über Funk ein Notsignal abgegeben wurde und die Cockpittüre offenbar von innen verriegelt wurde und das verzweifelte Klopfen des zweiten Piloten von außen zu hören ist, lässt nach derzeitigem Kenntnissstand bedauerlicherweise tatsächlich nur den Schluss zu, dass hier einer der Piloten, konkret der Erste Offizier, Suizid begangen hat, so unglaublich das auch klingen mag.“
Die tatsächliche Unfallursache wird erst nach langen, intensiven und ergebnisoffenen Untersuchungen festzustellen sein. Sie müssen so geführt werden, dass wirklich jede andere Möglichkeit ausgeschlossen werden kann. Die internationalen Pilotenvereinigungen haben bereits scharf gegen die bisherige Durchführung der Ermittlungen protestiert und zweifeln an der Unabhängigkeit der Ermittler. Die Behörden müssen nun tatsächlich alle Fragen stellen – und die Fakten auf den Tisch legen. Das gilt auch für alle anderen, möglichen technischen Gebrechen, die für den Absturz verantwortlich sein könnten. Es ist gut denkbar, dass Maschinen, die zwanzig Jahre fliegen, Abnutzungserscheinungen zeigen, die durch eine Verkettung unglücklicher Umstände zur Katastrophe führen können. Im Fall Luftzufuhr über die Triebwerke sind alle Maschinen betroffen – außer dem Boeing-Dreamliner, der als erstes Flugzeug die Frischluft nicht mehr aus den Triebwerken in die Kabine leitet.
Viel wichtiger als ausufernde und niemals zu belegende Spekulationen über den psychischen Zustand des Co-Piloten ist eine umfassende Fehleranalyse. Sie muss auch dann zu Veränderungen führen, wenn zwar nicht nachgewiesen werden kann, dass ein technisches Gebrechen den Absturz verursacht hat, es jedoch denkbar wäre, dass dies der Fall gewesen sein könnte.
Für die Luftfahrtindustrie - Hersteller und Airlines - sind technische Konsequenzen mit unangenehmen Folgen und erheblichen Kosten verbunden. Doch das Vertrauen der Passagiere wird durch mangelhafte Aufklärung stärker und nachhaltiger erschüttert als durch schnelle Pseudo-Maßnahmen. Es ist sinnvoll, dass immer zwei Personen im Cockpit sein müssen, wie die deutschen Airlines es nun praktizieren wollen. Doch ein Generalverdacht gegen die Piloten schafft keine echte Sicherheit: Wenn es wirklich technische Gebrechen gibt, die zum Absturz führen, sind auch zwei Leute im Cockpit machtlos.
Es ist jedoch im ureigenen Interesse der Luftfahrt-Branche, ihr Geschäft trotz Wettbewerbs, Kostensenkungen und Profit-Orientierung so sicher zu machen, dass Fliegen als ein hochkomplexer Beförderungsweg nicht zur Lotterie über Leben und Tod werden kann.
Update: Am Freitag gab die Staatsanwaltschaft Düsseldorf bekannt, dass der Co-Pilot für den Absturztag krankgeschrieben war. Ein zerrissenes Attest sei in der Wohnung sichergestellt worden.