Der italienische Geheimdienst-Experte und Autor Aldo Giannuli hat den Filmemachern Moritz Enders und Werner Köhne ein ausführliches Interview gegeben. Darin beschreibt Giannuli, wie die Geheimdienste die Öffentlichkeit manipulieren, um bei politischen Verbrechen jene Lesart in die Köpfe zu bringen, auf die es ihnen politische ankommt. Die beiden Autoren haben mit Giannuli aus Anlass ihrer äußerst sehenswerten Dokumentation des Papst-Attentats von 1981 gesprochen. Die von Prounen Film produzierte Dokumentation läuft am Freitag, 27.11., um 20.15 Uhr auf ZDF Info. Das ganze Interview läuft auf Arte im April.
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„Bei den großen Verbrechen mit politischem Hintergrund oder Attentaten ist die erste Reaktion entscheidend.“
Was zählt ist, was in den ersten zwei, drei Wochen präsentiert wird. Das bleibt bei den Leuten hängen. Jedes große politische Verbrechen läuft in drei Phasen ab: In der ersten geht es um die Vorbereitung. Dann um das eigentliche Ereignis - also ein Blutbad, einen Anschlag gegen eine einzelne Persönlichkeit – und dann, in der dritten Phase, um den weiteren Umgang damit. Wir neigen dazu zu glauben, dass sich ein Attentat mit seiner Ausübung erledigt hätte. Mitnichten. Das ist erst der Anfang. Worauf es ankommt ist, wie die Politik mit dem Attentat umgeht. Denn das wird sich in der öffentlichen Meinung festsetzen.
„Was das Papstattentat anbelangt, so hat man recht schnell damit begonnen, die sogenannte ,bulgarische Spur‘ zu legen. Die bulgarische Spur ist mit Hilfe von einigen Zeitungen, von Journalisten, die, wie wir später erfahren haben, für Zeitungen geschrieben haben, die Verbindungen zur CIA hatten, dem wichtigsten amerikanischen Geheimdienst. Doch es dauerte nicht lange und es tauchen die ersten Widersprüche auf.“
„Die Narrative, die sich in den ersten Wochen verbreitet, ist sehr wahrscheinlich die, die sich in den Köpfen der Leute festsetzt. Während der weiteren Ermittlungen kommt dann ja nicht alles auf einmal ans Licht, sondern peu à peu, in Form etlicher Mosaiksteinchen, die mit der Zeit zusammengelegt werden. So etwas fällt dann nur noch den Spezialisten auf.“
„Und auch, wenn ein Spezialist dann weitere Nachforschungen anstellt, einen Film macht, ein Buch, oder etwas fürs Fernsehen, wird sich die ursprüngliche Version dadurch kaum erschüttern lassen, es sei denn bei den wenigen, die von der Fernsehsendung, dem Film oder dem Buch etwas mitbekommen haben sollten.“
„Es gibt da eine Idee in der Öffentlichkeit, die nicht stimmt. Nämlich dass man, um falsche Spuren zu legen, mit Lügen operieren sollte. Das ist etwas für Dilettanten. Der Dilettant versucht mit einer Lüge durchzukommen. Doch Lügen haben kurze Beine. Früher oder später fliegen sie auf. Wesentlich schwieriger ist es da schon, eine falsche Hypothese zu entlarven, die sich auf wahre Elemente stützt. Die Profis von den Geheimdiensten greifen deswegen so wenig wie möglich auf Lügen zurück.“
„Vielmehr stützt sich ihre suggestive Montage auf Meldungen, die fast alle, wenn nicht sogar alle, stimmen. Vielleicht lassen sie etwas weg. Das ist schon wichtig.“
„Ideal ist eine Mischung aus Weglassungen und Suggestionen. Und die Reihenfolge, in der Nachrichten verbreitet werden, die Art und Weise, in der Dinge mit dem Vorfall in Zusammenhang gebracht werden, die mit ihm gar nichts zu tun haben, aber eine gewisse Verantwortlichkeit nahelegen.“
„Wie aber kann man falsche Spuren legen? Da gib es verschiedene Möglichkeiten. Informationen werden gehandelt wie auf einem Bazar. Und selbstverständlich sind Geheimagenten nicht nur dazu da, Informationen einzusammeln. Sie sind auch damit beschäftigt, welche in Umlauf zu setzen. Und irgendwann findet sich ein Journalist, vielleicht lässt er sich kaufen, vielleicht, aber nicht notwendigerweise, arbeitet er auch für einen Geheimdienst, dem wir einen Scoop kredenzen, vielleicht nicht den ganz großen, vielleicht nur einen halben, und dann finden wir einen anderen Journalisten, dem wir einen anderen Happen hinwerfen, und auf dem Schreibtisch eines Staatsanwalts platzieren wir einen anonymen Brief, ein Foto, so etwas, und dann gibt es vielleicht jemanden bei der Polizei, der Karriere machen will, und dem präsentieren wir dann einen bestimmten Beweis auf dem Silbertablett. Und das alles verdichtet sich ganz langsam zu einem Gesamtbild. Und für so etwas braucht es natürlich eine gute Regie, die weiß, wann man eine bestimmte Nachricht verbreiten muss, wann man zwei Empfänger verschiedenere Nachrichten zusammenbringen muss, damit die sich in ihrer Meinung gegenseitig bestärken. Das sind komplexe Operationen, die mit langem Atem und großer Akribie umgesetzt werden müssen.“
„Das wirksamste Instrument, um die Phantasie der Leute zu beeinflussen, ist sicherlich das Bild. Ein Diskurs, eine Erzählung, ein Artikel mögen einen gewissen Einfluss auf die öffentliche Meinung ausüben, aber wer sich nicht von Vornherein auf die entsprechende Hypothese einlassen will, zweifelt immer, ob es sich nicht um ein gefälschtes Dokument oder einen tendenziösen Artikel handelt. Hingegen glaubt ein Mensch instinktiv das, was er sieht. Indem wir ihm ein Bild, einen Film zeigen, machen wir ihn fast zum Augenzeugen. ,Ich habe gesehen, wie die Flugzeuge gegen die beiden Türme geknallt sind.‘ Es ist, als sei ich dabei gewesen. Und was ich gesehen habe, stelle ich nicht in Zweifel.“
„Die Manipulation mittels eines Bilddokuments ist sicherlich diejenige, welche die größte Chance hat, sich ins Bewusstsein der öffentlichen Meinung einzumeißeln. Besonders dann, wenn dieses Bilddokument starke Emotionen auslöst.“
„Was bei dem Papstattentat auffällt ist, dass es fast zu viele Bilder gibt. Es gibt das Bild, das ihn im Auto zeigt, in sich zusammengesunken, und das ist emotionalisierend. Dann gibt es Bilder vom Attentäter, der sofort gestoppt wird. Und dann haben wir eine Unzahl weiterer Fotos, die vor und nach dem Attentat aufgenommen worden sind. Vorher: Das leuchtet ein. Wenn der Papst eine Menschenmenge trifft, ist es normal, dass viele Journalisten und Fotoreporter anwesend sind.“
„Weniger normal erscheint mir die Tatsache, dass auch nach dem Attentat so viele Fotos geschossen wurden, dass so viele Fotografen trotz der Zuspitzung der Ereignisse, den Pistolenschüssen, der durcheinanderlaufenden Menschenmenge, der Polizei einen kühlen Kopf bewahren. Vor allem, weil es so viele Detailfotos gibt. Fotos von Kleinigkeiten. Sicher mag es den großen Fotografen geben, der in so einem Chaos unbeeindruckt nach dem sensationellen Foto sucht und ein Detail nach dem nächsten aufnimmt – aber wie viele solch kaltblütiger Fotografen haben sich auf an diesem Tag auf dem Petersplatz befunden? Hier trägt die große Bilderflut zu einem Informationskrieg bei, in dem ein Überangebot an Informationen zur Desinformation führt.“
„Falsche Spuren zu legen ist ziemlich aufwendig und erfolgt oft in verschiedenen Phasen, über Jahre hinweg.“
„In einer ersten Phase möchten wir ein Ereignis als etwas darstellen, das es nicht gewesen ist. Normalerweise hält das nicht lange vor, aber manchmal funktioniert es. Der klassische Fall hier wäre ein Mord, den man als Selbstmord verkauft.“
„In der zweiten Phase identifiziert man einen Schuldigen, der es aber nicht ist. Auf den richtet sich dann die ganze Aufmerksamkeit und mit ihm bastelt man an einer Narrative in der Hoffnung, dass sie Bestand hat.“
„In einer dritten Phase gehen wir dazu über, Beweismittel zurückzuhalten, welche die nunmehr offizielle Version enttarnen könnten. Zeugen verschwinden, Objekte verschwinden.“
„Aber wenn all das nicht reicht, beginnt die vierte Phase. Die Dinge werden derart in die Länge gezogen, dass die Angelegenheit irgendwann auf einem Abstellgleis landet, in der Hoffnung, dass die Leute das Ganze irgendwann vergessen und es in den Archiven verschwindet.“
„Und wenn selbst das nicht genügen sollte, gibt es noch die fünfte Phase. Jetzt werden in schöner Regelmäßigkeit verschiedene Spuren gelegt, die ganz unterschiedlich sind, wahre Elemente werden mit falschen kombiniert, suggestive Elemente mit solchen, die nichts damit zu tun haben, Mischungen aus wahren und falschen Elementen, und hier kann eine Lüge nützlich sein, denn man braucht sie nicht, um eine Spur glaubhaft zu machen. Man braucht sie, um Zeit zu gewinnen und Verwirrung zu stiften. Um die Ermittler auf tausend verschieden Irrwege zu locken.“
„Das politische Verbrechen ist nie eine einfache Angelegenheit, und die Flut an Informationen, egal ob wahre oder falsche, soll die Ermittler in den Wahnsinn treiben und ihre Nachforschungen über hunderte falsche Spuren ins Leere laufen lassen.“
„Am Anfang schien die Idee, die Sowjets hätten ein Interesse daran gehabt den Papst zu stoppen und damit eine Kettenreaktion in Osteuropa zu verhindern, einzuleuchten. Aber denken wir mal kurz nach. Waren es wirklich nur die Russen, die ein Interesse daran hatten?“
„In der Welt der Geheimdienste sind die Dinge fast nie so wie sie scheinen. Die Wahrheit ist immer eine andere und viel komplexer, als man uns glauben machen will.“