Die EU hat ein Diskussionspapier erarbeitet, welches das schrittweise Ende der Sanktionen gegen Russland vorsieht: Offenbar hat sich nun in Brüssel endgültig die Meinung durchgesetzt, dass die Sanktionen schweren Schaden für die europäischen Staaten bedeuten. Angesichts einer drohenden Rezession in Russland und der unbefriedigenden Wirtschaftslage in der Eurozone will die EU diesen Zustand möglichst schnell beenden. Das Wall Street Journal, welches über das Papier berichtet, sieht eine Veränderung der Strategie gegenüber Russland. Demnach kann die EU zwar nicht mit einem Schlag zum gewohnten „business as usual“ zurückkehren. Doch sollen die Beziehungen zu Russland schrittweise normalisiert werden.
Das Papier, welches noch nicht an die Regierungen der Mitgliedsstaaten versandt wurde, soll am kommenden Montag bei einem Treffen der Außenminister in Brüssel diskutiert werden. Zwar werden bei diesem Treffen noch keine endgültigen Entscheidungen fallen, aber das WSJ sieht in dem Papier den ersten ernsthaften Versuch der EU, den Konflikt mit Russland beizulegen.
In dem Papier möchte die EU einen „proaktiveren Ansatz“ wählen, in welchem verschiedene gegenseitige Interessen abgeglichen werden sollen. Zu diesem Zweck sollen zunächst die Sanktionen gelockert werden. Nur noch jene Maßnahmen, die mit der umstrittenen Lage auf der Krim zusammenhängen, sollen aufrecht bleiben. Die anderen Sanktionen sollen dagegen teilweise aufgehoben werden. Dies könnte vor allem den russischen Banken Erleichterung bringen. Dadurch würden ihrerseits die europäischen Banken profitieren, welche sich wegen der extremen Vernetzung in der internationalen Finanzwirtschaft einen Finanz-Crash in Russland nicht leisten können. Besonders für die italienischen Banken ist die Lage ausgesprochen prekär.
Die EU möchte im Gegenzug zwei Dinge erreichen: Russland soll seinen Widerstand gegen das Assoziationsabkommen der EU mit der Ukraine aufgeben. Außerdem sollen in dem Friedensprozess für die Ukraine durch die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen eine dauerhafte Waffenruhe und eine Stabilisierung der Situation erreicht werden. Dieser Tage verhandeln die Außenminister der Ukraine, Russlands, Deutschlands, Frankreichs sowie die Vertreter der Rebellen aus der Ostukraine über einen entsprechenden Gipfel - vorerst noch ohne Erfolg.
Für die EU sind zwei Bereiche besonders wichtig: Die Energiefrage muss dauerhaft gelöst werden, weil die EU-Staaten ohne russisches Erdgas in ernsthafte Bedrängnis geraten könnten. Am Mittwoch dieser Woche verhandelt deshalb der neue Energiekommissar Maros Sefcovic in Moskau mit dem Staatskonzern Gazprom über die weiteren Schritte.
Ein zweiter Punkt in dem Papier ist besonders interessant. Die EU prüft offenbar ernsthaft das kürzlich vom russischen Botschafter in Brüssel vorgetragene Ansinnen, dass die EU und Russland eng über die Eurasische Wirtschaftsunion kooperieren könnten. Die EU verspricht sich von dieser Zusammenarbeit die Erschließung neuer Märkte.
Einer der Punkte, den das Papier vorsieht, ist auch das Ende einer von der EU vermuteten russischen Agitation in Europa. So soll erreicht werden, dass Russland seine finanzielle Unterstützung für politische Parteien in der EU einstellt. Erst kürzlich war bekannt geworden, dass der französische Front National einen Millionen-Kredit von einer russischen Bank erhalten hatte. Die EU fürchtet, dass die Unterstützung Russlands für Parteien wie den Front National oder andere rechtsextreme Gruppierungen das politische Gleichgewicht in der EU substantiell verschieben könnte. Russland hält seit einiger Zeit enge Kontakte mit rechten Parteien in europäischen Staaten. Im Juni 2014 hatte in Wien einem Bericht des Tagesanzeigers zufolge ein Treffen von russischen Oligarchen mit Parteiführern von rechten Gruppierungen stattgefunden.
Der geopolitische Hintergrund des neuen Kurses in Brüssel besteht in der Notwendigkeit, Russland im Kampf gegen den Terror und vor allem in der Stabilisierung der Lage im Nahen Osten einzubinden.
Die Annäherung zwischen Russland und der EU hatte sich schon in den vergangenen Wochen abgezeichnet. So hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem EU-Gipfel vergleichsweise weiche Bedingungen für ein Ende der Sanktionen formuliert. SPD-Chef Sigmar Gabriel hatte betont, dass Deutschland Russland nicht in die Knie zwingen wolle. Die EU Außenbeauftragte Mogherini hatte festgestellt, dass die Sanktionen der EU mehr schaden als den USA.
Italien hat besonders mit den Folgen der Sanktionen zu kämpfen, wie Romano Prodi zum Jahreswechsel beklagt hatte. Zusätzlich schwelt in Italien eine neue Banken-Krise, in der neue Risiken fatal sein könnten. Frankreichs Präsident Francois Hollande hat ausdrücklich das Ende der Sanktionen gefordert: Er fürchtet den Sieg des Front National beim anstehenden Wahlkampf um die Präsidentschaft.
Wie sich die Amerikaner zu diesen Plänen verhalten werden, wird vermutlich stark davon abhängen, wie die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen TTIP vorankommen. Wenn es den Amerikanern gelingt, eine große Freihandelszone zwischen den USA und der EU zu etablieren, könnte eine Anbindung der EU an die Eurasische Wirtschaftsunion auch im Interesse der Amerikaner sein.