Finanzen

Risiko für das Finanzsystem: Zentralbanken haben keine Munition mehr

Lesezeit: 4 min
31.07.2017 00:07
Beobachtern zufolge werden die Zentralbanken den Ausbruch der nächsten Finanzkrise nicht mehr verhindern können.
Risiko für das Finanzsystem: Zentralbanken haben keine Munition mehr

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In einem interessanten Artikel analysieren Jeremy Gaunt, Reinhard Becker und Frank Siebelt von Reuters die Möglichkeiten der Zentralbanken, den Ausbruch einer neuen Krise zu verhindern:

Krise war gestern - auf in die Zukunft: Getreu dieser Losung haben sich die großen Notenbanken beiderseits des Atlantiks auf den Weg Richtung geldpolitische Normalität gemacht. In den USA steigen die Zinsen bereits seit Ende 2015 wieder, in der Euro-Zone bereitet EZB-Chef Mario Draghi zumindest verbal einen weniger lockeren Kurs vor. Mit dem Abbau der Konjunkturhilfen in vielen kleinen Schritten müssen Wirtschaft und Börsen künftig wieder auf eigenen Beinen stehen.

Doch was passiert, wenn erneut eine Krise wie 2008/09 aufzieht? Hätten die Währungshüter genügend Feuerkraft, um die Gefahren abzuwehren? Die Antwort lautet: leider nicht. Nach der großen Materialschlacht mit Zinssenkungen, Liquidität zum Nulltarif sowie billionenschweren Anleihekäufen fehlt Munition für ein weiteres großes Abwehrmanöver. Der Kurs der Normalisierung birgt daher neben Chancen auch große Risiken. Es folgt ein Überblick, wie weit die Federal Reserve in den USA schon ist und wie die Europäische Zentralbank in den nächsten Quartalen vorgehen dürfte.

Die US-Notenbank legte zuletzt im Juni nach: Der Schlüsselsatz zur Versorgung der Banken mit Geld liegt seither in einer Spanne von 1,0 bis 1,25 Prozent. Damit hat sich Fed-Chefin Janet Yellen zugleich mehr Spielraum verschafft, bei einer Krise wieder Richtung Null-Linie marschieren zu können. Doch wenn die USA erneut in eine Rezession rutschen sollten, dürfte das Zinspulver schnell ausgehen, warnt Ökonom Stephen King von HSBC. Er hat sich angeschaut, wie die Fed seit den 1970er-Jahren reagiert hat, wenn die Wirtschaft auf Talfahrt ging: Die Zinsen sanken mindestens um fünf Prozentpunkte - so auch zwischen 2006 und 2008 von 5,25 auf 0,25 Prozent.

Als das Pulver verschossen war, legte die Fed mit unkonventionellen Mitteln nach und kaufte massenweise Staatsanleihen und Hypothekenpapiere auf: Damit pumpte sie ihre Bilanz von 800 Milliarden auf 4,5 Billionen Dollar auf - das entspricht fast der dreifachen Wirtschaftsleistung Kanadas. Viele Investoren erwarten, dass Yellen im September Details nennen wird, wie und wann dieser Riesenberg abgebaut werden soll. Ihr Vorgänger Ben Bernanke, der sich in der Rezession als Krisenmanager bewährte, mahnt zur Vorsicht: Die Bilanz müsse angesichts des Aufschwungs nicht mehr auf das einstige Niveau abgeschmolzen werden.

Auch viele Banken an der Wall Street sehen dies ähnlich: Sie halten es für ausreichend, wenn die Gesamtsumme um anderthalb Billionen Dollar schrumpft. Yellen will bald Nägel mit Köpfen machen und die geldpolitische Normalisierung bei Vollbeschäftigung nicht länger hinausschieben. Sonst drohten erhöhte Inflationsrisiken und finanzielle Instabilität. Die Währungshüter müssen ihrer Ansicht nach zugleich einen gut bestückten Werkzeugkasten unkonventioneller Mittel bereithalten und diesen bei einem Abschwung schnell auspacken.

Wann dieser Ernstfall eintreten wird, ist ungewiss. Unklar ist zudem, wie lange die von Wahlversprechen des US-Präsidenten Donald Trump weiter angeheizte Börsenrally anhält:

Dass auf dem Parkett weiter alles rund läuft, ist für die Fed eminent wichtig, weil sich US-Unternehmen wesentlich stärker über die Kapitalmärkte finanzieren als in Europa. Doch an der Wall Street kehrt allmählich Ernüchterung ein, da Trumps Ankündigungen zum Ankurbeln der Wirtschaft wenig Zählbares folgte: „Auf die zusätzlichen Impulse zur US-Konjunktur, die sich viele von dem neuen Präsidenten erhofft hatten, wird man vergeblich warten. Damit ist eine gewisse Enttäuschung angelegt, wenn diese Erkenntnis flächendeckend um sich greift“, sagt Sal.-Oppenheim-Chefvolkswirt Martin Moryson.

Bilanzabbau und Zinserhöhungen: Das haben EZB-Präsident Mario Draghi und seine Mitstreiter im EZB-Rat noch lange nicht auf dem Radar. Im Augenblick geht es für sie erst einmal darum, angesichts des sich festigenden Konjunkturaufschwungs im Euro-Raum kommunikativ den Boden für eine spätere Kurswende zu bereiten. Und zwar so, dass dabei keine Verwerfungen an den Anleihen- und Devisenmärkten ausgelöst werden. Bis sich ihre Geldpolitik tatsächlich normalisiert, dürften aus Sicht von Experten mindestens noch einige Monate ins Haus stehen.

„Obgleich wir den sehr positiven wirtschaftlichen Schwung anerkennen, der sogar die Dynamik der USA übertrifft, ist es viel zu früh für die EZB, ihren Stimulus zurückzufahren“, sagt Ökonomin Stephanie Lindeck von der Schweizer Privatbank Julius Bär. Nach wie vor seien der Arbeitsmarkt im Euro-Raum zu schwach und die Inflationsentwicklung zu verhalten. Vor allem in den krisengeplagten südlichen Euro-Ländern ist die Arbeitslosigkeit immer noch hoch und das Lohnwachstum deshalb mager. Das ist auch ein Grund, warum die Verbraucherpreise trotz solider Konjunktur im Juni gerade einmal um 1,3 Prozent angezogen waren. Ziel der EZB sind knapp zwei Prozent.

Manche Experten sehen generell eine Gefahr, dass Zentralbanken zu schnell die Zügel wieder anziehen, obgleich die Inflationsentwicklung den Notenbank-Zielen hinterherhinkt. „In der Vergangenheit wurden einige Rezessionen von Zentralbanken dadurch verursacht, dass sie zu aggressiv vorgegangen sind“, warnt Sarah Hewin, Europa-Chefvolkswirtin bei der britischen Großbank Standard Chartered.

Für die EZB dürfte der Pfad in Richtung Normalisierung entscheidend von den Konjunkturdaten abhängen. Carsten Mumm, Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Privatbank Donner & Reuschel, erwartet erst nach den Ferien eine Ankündigung von Draghi, die billionenschweren Wertpapierkäufe zur Stützung der Konjunktur zu verringern. „Konkrete Pläne zur Reduzierung wird die EZB voraussichtlich frühestens ab September kommunizieren.“ Aktuell erwerben die Währungshüter Staatsanleihen und andere Wertpapiere für rund 60 Milliarden Euro pro Monat. Auslaufen sollen die „QE“ genannten Transaktionen bislang Ende dieses Jahres. Dann dürfte ihr Volumen 2,28 Billionen Euro erreicht haben.

Die Experten der Bank of America Merrill Lynch rechnen im September mit einer Vorankündigung, dass die EZB im Oktober über die Zukunft der vor allem in Deutschland umstrittenen Anleihenkäufe entscheiden wird. Dann werde sie eine Verringerung auf 40 Milliarden Euro für sechs Monate ab Januar 2018 beschließen. Das eigentliche Abschmelzen der Käufe bis auf Null - in der Fachwelt „Tapering“ genannt - werde im zweiten Halbjahr folgen. „Das Ende von QE wäre dann im Dezember 2018, begleitet von einer technischen Anhebung des Einlagensatzes.“ Dieser liegt bei minus 0,4 Prozent. Die Geschäftsbanken müssen Strafzinsen zahlen, wenn sie über Nacht bei der EZB überschüssige Liquidität horten.

Die Schweizer Großbank UBS hält ein etwas schnelleres Tapering für möglich - über sechs bis neun Monate ab Januar 2018. UBS-Volkswirt Reinhard Cluse geht von zusätzlichen Käufen im Volumen von 180 bis 210 Milliarden Euro im nächsten Jahr aus. Bis Mitte 2018 würde so die EZB-Bilanz auf rund 4,75 Billionen Euro anschwellen - eine gewaltige Summe. „Wir erwarten, dass die Schlüsselzinsen erst nach dem Ende von QE angehoben werden, am wahrscheinlichsten ab 2019.“ Das wären mehr als drei Jahre nach den ersten Erhöhungen in den USA. Und eine neue Finanzkrise würde den Zeitplan wohl völlig durcheinanderwirbeln.

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