Politik

Chinas Sozialkreditsystem: Orwellsches Schreckgespenst oder reiner Mythos?

Das chinesische System der sogenannten "Sozialkredite" taucht regelmäßig in den Medien auf. Fast immer jedoch ist die Darstellung oberflächlich, häufig sogar schlichtweg falsch. In diesem Artikel nimmt sich DWN-Kolumnist André Jasch der Thematik an, durchleuchtet sie gründlich und räumt mit einer ganzen Reihe von Mythen auf.
Autor
avtor
17.01.2021 11:38
Lesezeit: 5 min
Chinas Sozialkreditsystem: Orwellsches Schreckgespenst oder reiner Mythos?
Vor dem Bürgeramt der ostchinesischen Küstenstadt "Rongcheng" sind auf großen Postern die Porträts von «Modellbürgern» ausgestellt. (Foto: dpa)

Die Berichte über Chinas Sozialkreditsystem klingen oft so, als stammten sie direkt aus dem Orwell-Roman „1984“. Das chinesische Sozialkreditsystem (SKS) scheint die schlimmsten Visionen von Science-Fiction-Autoren zu bestätigen. Die Wirklichkeit sieht dagegen um einiges komplexer aus. Was ist dran an den Berichten über das chinesische Überwachungssystem?

Was verbirgt sich hinter dem SKS?

Im Juni 2014 kündigte die chinesische Regierung an, ein landesweites Sozialkreditsystem einführen zu wollen. Es handelt sich dabei um ein digitales System zur Erfassung, Überwachung und Bewertung des Verhaltens der Bürger. In die Bewertung fließen neben personenbezogenen Daten auch Informationen zu Vorstrafen, Arbeitstätigkeit, sozialem Verhalten und Parteizugehörigkeit mit ein. Dagegen werden Religionszugehörigkeit, medizinische und biometrische Daten bisher nicht erfasst. Ministerpräsident Li Keqiang kündigte das SKS mit folgenden Worten an: „Wer seine Glaubwürdigkeit verliert, wird es schwer haben, selbst einen kleinen Schritt in der Gesellschaft zu machen.“

Seitdem durchläuft das SKS diverse regionale Testphasen. Die letzte Phase startete im September 2019 und sollte eigentlich Ende 2020 abgeschlossen sein. Dann kam die Corona-Pandemie und verzögerte den offiziellen Start im gesamten Land auf unbestimmte Zeit. In einzelnen Regionen und Städten Chinas wird das System bis heute getestet. Die Pilotprojekte sind in ihrer Ausgestaltung nicht einheitlich, wie ein Bericht von heise online zeigt. Während die Bewertung in der Millionen-Metropole Fuzhou von 0 bis 1.000 Punkten reicht, starten Bürger der Stadt Rongcheng mit einem Wert von 1.000 Punkten und erhalten in der Folge Ratings von AAA bis D.

Auch bei Belohnungen und Bestrafungen unterschieden sich die verschiedenen Pilotprojekte. Für konformes Verhalten winken diverse Vergünstigungen, etwa im öffentlichen Nahverkehr. Dagegen beinhalten die Konsequenzen für Fehlverhalten je nach Schweregrad auch Reiseverbote und Kündigungen. Unternehmen werden ebenfalls mit dem System erfasst. Sie sammeln Pluspunkte für Kundenzufriedenheit, Produktqualität, gute Bonität und steigende Wirtschaftszahlen. Abzüge gibt es für vermehrte Kundenbeschwerden, schlechte Kreditwürdigkeit und Gesetzesverstöße jeglicher Art.

SKS soll Vertrauen in den Staat stärken und Betrug vorbeugen

Einen gemeinsamen Nenner haben alle Pilotprojekte: der Staat will seine Bürger zu besseren Menschen erziehen. So werden etwa Freiwilligendienste, Besuch und Pflege von Familienangehörigen oder Blutspenden mit Sozialpunkten belohnt. Ein Knick im beruflichen oder schulischen Werdegang, Ordnungswidrigkeiten, öffentliche Kritik an der Regierung und selbst das Streuen von Gerüchten in sozialen Netzwerken werden dagegen mit Punktabzügen sanktioniert. Erklärtes Ziel des SCS ist es, die Vertrauenswürdigkeit von Einzelpersonen, Unternehmen und staatlichen Stellen zu bewerten und so Wirtschaftsbetrug sowie Steuer- und Schuldenhinterziehung vorzubeugen.

Ein weiteres Ziel liegt darin, das Vertrauen der Bürger in staatliche Institutionen zu stärken. Was für europäische Ohren paradox klingen mag, ergibt bei näherem Hinsehen sogar Sinn. China kämpft seit Jahren mit hoher Korruption, sowohl auf wirtschaftlicher als auch auf staatlicher Ebene. Das SKS macht auch vor Regierungsvertretern nicht Halt. Parteifunktionäre, die ihre Rechnungen oder Strafzettel nicht pünktlich zahlen, haben weniger Chancen auf eine Beförderung.

Außerdem soll durch das SCS Wirtschaftsbetrug vorgebeugt werden. Bisher konnten Unternehmen, die beispielsweise gegen Sicherheitsstandards verstießen oder Gehälter nicht zahlten, einfach in eine andere Stadt umsiedeln, da es keine provinzübergreifende Datenbank für Gesetzesverstöße dieser Art gab. Genauso eine Datenbank namens „Nationale Sozialkredit-Plattform“ bildet nun das Herzstück des staatlichen Überwachungssystems. Die dort aufgeführten Daten sollen größtenteils öffentlich einsehbar sein, was den sozialen Druck auf nonkonforme Personen und Unternehmen erheblich erhöhen dürfte.

Fließende Grenzen zwischen Privatwirtschaft und Staat

Neben dem staatlichen SKS gibt es diverse privatwirtschaftliche Systeme ähnlicher Art, nur das der Fokus dabei auf dem Kaufverhalten von Kunden und ihren Aktivitäten in sozialen Netzwerken liegt. Das bekannteste stammt von einer Tochterfirma des Technologie-Konzerns Alibaba und heißt „Sesam-Kredit“. Dabei werden verschiedene Faktoren wie Kredit-Tilgung, Kaufverhalten, Aktivitäten in sozialen Netzwerken sowie die Bereitschaft zur Preisgabe persönlicher Informationen für eine Gesamtbewertung herangezogen.

Bisher ist die Teilnahme an „Sesam-Kredit“ freiwillig. Der Score hat Einfluss auf die Nutzung von Alipay, dem Bezahlservice von Alibaba, der von mehr als einer Milliarde Menschen genutzt werden soll. „Sesam-Kredit“ teilt die Daten auch mit anderen privaten Plattformen, etwa der Dating-App „Baihe“, so dass Nutzer dort auch die Kreditwürdigkeit potentieller Partner einsehen können. Außerdem werden Daten auch an staatliche Behörden weitergeleitet, denn Alibaba hat einen entsprechenden Vertrag mit der Regierung in Peking geschlossen. Das führte unter anderem dazu, dass 2015 rund 130.000 Kunden keine Flugtickets mehr buchen und keine Kreditverträge mehr abschließen konnten, weil ihre Namen auf schwarzen Listen der Regierung gelandet waren.

In Berichten über das chinesische SKS werden diese Systeme – das staatliche und die privatwirtschaftlichen SKS´ – oftmals vermengt und lassen Chinas Projekt dadurch dystopischer erscheinen, als es (derzeit) ist. Die Verwirrung stammt auch daher, dass die Grenze zwischen Privatwirtschaft und Staat in China fließender ist, als wir das aus Europa oder den USA kennen. Während westliche Unternehmen – je nach Land mehr oder weniger – strenge Vorschriften zum Datenschutz befolgen müssen, arbeiten sie in China eng mit der Regierung zusammen. Es wird von den Behörden erwartet, dass die Unternehmen die gesammelten Daten mit ihnen teilen.

Sozialkreditsysteme sind keine chinesische Erfindung

Bewertungssysteme für Kreditwürdigkeit und Kaufverhalten sind weder eine Seltenheit noch eine chinesische Erfindung. Im Online-Shopping – sei es bei Amazon, eBay oder anderen Anbietern – wird die Verlässlichkeit der Verkäufer sowie die Qualität ihrer Produkte täglich durch Kunden bewertet. Wer einen schlechten Score aufweist, wird dies deutlich am Umsatz zu spüren bekommen. Auch Datenbanken zur Kreditwürdigkeit von Personen und Unternehmen sind keine chinesische Erfindung. Gerade in Deutschland kennen wir eine ganze Reihe davon, etwa Creditreform, Creditsafe oder Schufa.

Der entscheidende Unterschied zu Chinas System liegt darin, dass dort alle Erfassungen und Bewertungen in einem einzigen System gebündelt werden sollen. Rating-Systeme wie „Sesam Kredit“ sind daher fester Bestandteil der Regierungspläne zum landesweiten Sozialkreditsystem. Hinzu kommt, dass die chinesischen Behörden keinen Hehl daraus machen, dass das SKS der Umerziehung der Bürger nutzen soll. Verknüpft man das mit der Tatsache, dass es sich bei China um ein totalitäres Einparteiensystem handelt, sind dystopische Assoziationen mit „Big Brother“ nicht mehr weit. Noch ist die Teilnahme an diesem System freiwillig, in Zukunft soll es allerdings verpflichtend werden.

Welche surrealen Folgen dieses digitale Überwachungssystem mit sich bringen kann, verdeutlicht der Fall der 9-jährigen Chen Man. Im November wurde dem Mädchen von einem lokalen Gericht in Henan verboten, Aktivitäten des „gehobenen Konsums“ auszuüben, wozu Fliegen, Reisen mit Hochgeschwindigkeitszügen und das Einchecken in Hotels gehören. Chens Vater war 2013 wegen Mordes zum Tode verurteilt worden und das Gericht bürdete ihr nun die sozialen Bestrafungen für die angehäuften Schulden des Vaters auf. Das Mädchen geriet auf kafkaeske Weise in die Mühlen des Systems. Nach der öffentlichen Empörung wurde das Urteil wenig später zwar revidiert, aber es zeigt, welche Folgen das SKS auf die Bürger haben kann und welche Macht den Gerichten dabei zufällt.

Zustimmung unter Chinesen für Sozialkreditsysteme

Trotz der engmaschigen Kontrolle ist die Zustimmung für Sozialkreditsysteme in China hoch. Das geht aus einer Online-Befragung der Freien Universität Berlin (FU) unter knapp 2.200 Chinesen hervor. 80 Prozent der Befragten befürworteten kommerzielle Scoring-Systeme und nutzten diese bereits freiwillig. Die staatlichen Sozialkreditsysteme waren ihnen dagegen kaum bekannt, nur sieben Prozent hatte schon einmal von den Piltoprojekten gehört. Nur ein Prozent der Teilnehmer hatte überhaupt Bedenken hinsichtlich von Sozialkreditsysteme. Die Forscher der FU konnten jedoch nicht ausschließen, dass die Antworten durch Angst vor sozialen Konsequenzen verzerrt wurden.

Wann das staatliche System offiziell startet, bleibt abzuwarten. Einige Beobachter glauben gar, das Projekt werde die Testphase nie verlassen und als Papiertiger enden. Zuletzt veröffentlichten die Behörden Richtlinien zum Datenschutz beim SKS, um den anhaltenden Bedenken vor Machtmissbrauch etwas entgegenzusetzen. Gemäß den Richtlinien sollen Daten und Informationen über unehrliches Verhalten von Firmen oder Einzelpersonen und die damit verbundenen Strafen gemäß dem Gesetz gehandhabt werden. Außerdem wurde betont, dass die Offenlegung von öffentlichen Kreditinformationen nicht gegen Geschäftsgeheimnisse und die persönliche Privatsphäre verstoßen werde.

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André Jasch ist freier Wirtschafts- und Finanzjournalist und lebt in Berlin.  

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