Politik

Der Westen will keinen Frieden, sondern Russland und China seinen Willen aufzwingen: Eine Replik auf Ronald Barazon und Hauke Rudolph

Lesezeit: 6 min
28.03.2021 11:00
Die DWN sind bestrebt, eine breite Palette an Meinungen zu präsentieren. Heute nimmt Rüdiger Tessmann Stellung zu Artikeln von DWN-Kolumnist Ronald Barazon und DWN-Chefredakteur Hauke Rudolph.
Der Westen will keinen Frieden, sondern Russland und China seinen Willen aufzwingen: Eine Replik auf Ronald Barazon und Hauke Rudolph
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in seinem Büro im Nato-Hauptquartier in Brüssel. (Foto: dpa)

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DWN-Kolumnist Ronald Barazon hat in einem vielgelesenen Artikel seiner Ansicht Ausdruck verliehen, dass von Russland und China für die Staaten des Westens eine Gefahr ausgeht. Er schreibt, dass es Moskau und Peking nicht ungelegen käme, wenn zwischen den USA und dem Iran ein Krieg ausbräche. Russland könnte die Gelegenheit nutzen, die Grenzen der Sowjetunion wieder herzustellen, und China könnte Taiwan erobern. Das, so Ronald Barazon weiter, könne dann einen mehr oder minder weltweiten Flächenbrand auslösen.

Auch DWN-Chefredakteur Hauke Rudolph hat sich mehrmals für eine konsequente westliche Eindämmungspolitik gegenüber China ausgesprochen.

Meinungsäußerungen dieser Art liest man derzeit vielerorts in den Medien. Von solchen Warnungen geht aber eine Gefahr aus. Es wird suggeriert, dass sowohl China als auch Russland jeweils von politischen Hasardeuren, sprich Xi Jinping sowie Wladimir Putin, regiert würden, die – anstatt sich um das Wohlergehen ihrer Völker zu kümmern – reine Machtpolitik betreiben, und zur Erreichung dieser Ziele sogar einen Krieg mit der Nato riskieren.

Wer "gut" ist und wer "böse", entscheiden die Medien

Und da kommen wir zu einem wichtigen Punkt, nämlich dem System der „öffentlichen Meinungsbildung“ in einer Demokratie.

Print- und Online-Medien, Rundfunk und Fernsehen spielen dabei eine wesentliche Rolle, denn die Masse der Wähler hat keine andere Quelle zur Meinungsbildung. Die breite Masse gründet ihre Wahlentscheidung auch nicht auf detailliertes Faktenwissen; ihr genügt ein gewisses Bauchgefühl, wer „gut“ ist und wer „böse“.

Zurzeit erleben wir, dass dieser Umstand von interessierter Seite ausgenutzt wird, und zwar so, dass sie eine Aufteilung der Welt in „gut“ und „böse“ betreiben kann, die ausgeprägter (und schlimmer) ist als zur Zeit des Kalten Krieges. Das dominante Meinungsbild, das sich dadurch herausgebildet hat, lässt sich zusammenfassen in zwei Punkten:

  • Die USA sind die – militärisch starken – Beschützer der Freiheit, der Menschenrechte und der Demokratie und setzen ihre Macht dafür ein, diese „westlichen Werte“ in die unter Diktaturen leidenden Länder der übrigen Welt zu exportieren (zur Not auch durch Krieg oder trickreiche Regime-Wechsel). Alles, was sie tun, ist daher das „Gute“.
  • Russland und China werden von Diktatoren beherrscht, die ständig aufrüsten, um sich aggressiv auszubreiten, um unsere „westlichen Werte“ in Frage zu stellen, indem sie unsere Gedanken durch Fake News und Desinformationen spalten. Sie vertreten das „Böse“. Deshalb müsse der Westen die Nato stärken und dürfe mit den Diktatoren nicht verhandeln, das heißt, mit ihnen keinen „Kuschelkurs“ fahren.

Die Chefredakteure der großen, überregionalen Medien sind durch die Auswahl ihrer Artikel maßgeblich beteiligt an der öffentlichen Meinungsbildung und tragen damit eine gewaltige Verantwortung für diese Aufteilung der Welt in „gut“ und „böse“.

Ich möchte daran erinnern, dass es zu Zeiten des Kalten Krieges in Deutschland eine Bewegung gab, die sich für Friedenspolitik einsetzte. Sie vertrat die Meinung, dass die beiden Blöcke – West und Ost – trotz gegenteiliger Interessen im Gespräch bleiben müssten, um gemeinsam die Probleme dieser Welt anzugehen und einen Krieg zu vermeiden. An die Stimme dieser Bewegung sollten wir uns heute erinnern.

Tatsache ist, dass seit 100 Jahren Amerika und England bestrebt sind, eine partnerschaftliche Verbindung zwischen Deutschland und Russland zu verhindern. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat oft mit China über Wirtschaftsfragen verhandelt und wird deshalb zunehmend unmoralischen Verhaltens bezichtigt. Der damalige US-Präsident Donald Trump hat im Wahlkampf davon gesprochen, dass gute Beziehungen zu Russland gut und nützlich seien. Dafür wurde er verteufelt, und die Demokraten versuchten, ihn wegen Kontaktaufnahme mit dem „Feind“ gerichtlich zu belangen und ihn aus dem Amt zu entfernen.

Kürzlich verkündeten die Medien die Schreckensbotschaft, dass Deutschland an der Spitze der Länder stehe, die von russischen Desinformationen „angegriffen“ werden. Im Internet konnte ich eine viele Seiten lange Auflistung dieser Desinformationen lesen und feststellen, dass es sich um lächerliche, seit Jahren wiederholte Behauptungen handelt.

Der Westen bedroht Russland - nicht Russland den Westen

Viele Westeuropäer fragen sich, ob die Polen und die Balten mit Recht Angst vor einem russischen Angriff haben müssen.

Aus meinem persönlichen Erfahrungskreis kann ich sagen, dass ich mit einem ehemaligen ARD-Korrespondenten für das Baltikum und mit einer ehemaligen Direktorin des Goethe-Institutes von Riga befreundet bin, die beide in Riga lebten. Sie erzählten mir viel von dem dortigen Kulturleben und der Modernität dieser historisch höchst interessanten Stadt. Von Angst vor russischen Panzerangriffen erwähnten sie nichts – handelt es sich also mehr um eine von westlicher Seite den Balten angedichtete Angst?

Zur Frage der Beziehungen zwischen Russland und den baltischen Staaten muss man einen Rückblick in die Geschichte tun: Die baltischen Staaten sind von den deutschen Kreuzrittern erobert worden, die das dort lebende Volk der Prussen fast ausrotteten und die bis Nowgorod vordrangen, wo sie von Alexandr Newski in einer blutigen Schlacht gestoppt wurden. Alexandr Newski gilt seit dieser Zeit für Russland als Heiliger, weil er die russische Heimat verteidigte. Für die wirtschaftliche Entwicklung Russlands war der Zugang zur Ostsee und zum Schwarzen Meer immer existenziell, um über die nördlichen und südlichen Meere mit der übrigen Welt Handel zu treiben. Den Zugang zur Ostsee musste Russland gegen Schweden, Polen und Litauen verteidigen, den Zugang zum Schwarzen Meer gegen die Türkei, England und Frankreich (im Krimkrieg). Als das polnisch-litauische Reich stark war, drangen sein Truppen bis Moskau vor und versuchte, einen katholischen Zaren einzusetzen.

Eine uralte Feindschaft zwischen Polen und Russen gründet sich auch darauf, dass Russland von Byzanz aus in griechischer Sprache orthodox und Polen von Rom aus katholisch-lateinisch christianisiert wurde. Diese Feindschaft zeigte sich erneut, als die Ukraine die orthodoxen Kirchen schließen ließ, um das russische Element aus dem Leben der Ukraine zu verdrängen.

1919 eroberte der polnische Marschall Josef Pilsudski russisches Gebiet bis Kiev und plante das sogenannte „Intermarium“, das heißt einen polnisch-litauischen Staat vom Schwarzen Meer bis zu Ostsee als Barriere zwischen Russland und Europa.

Ähnliches planen US-amerikanische Strategen (siehe zum Beispiel Zbigniew Brzezińskis „Die einzige Weltmacht“). Wenn es gelänge, Weißrussland und Georgien Teil der Nato werden zu lassen, dann stünden Nato-Verbände auf der Linie Petersburg-Smolenzk-Donetzbecken-Krim-Georgien, also fast auf der Linie der Eroberungen deutscher Truppen im Zweiten Weltkrieg.

Im Oktober 2016 habe ich die Krim bereist und bei Sevastopol die riesigen Friedhöfe russischer und deutscher Gefallener gesehen. Der Boden der Krim ist regelrecht getränkt mit dem Blut russischer Soldaten, die ihre Heimat in Krimkrieg und Zweitem Weltkrieg gegen westliche Angriffe verteidigten. Russland wurde immer vom Westen angegriffen, nicht umgekehrt.

Einen Frieden mit dem russischen Volk halte ich erst für möglich, wenn unsere Politiker einen Fehler eingestehen und sagen: “Die Krim ist russisch!“ Es war völkerrechtswidrig, dass der sowjetische Diktator Nikita Chruschtschow im Jahr 1954 die Krim mitsamt ihrer russischen Bevölkerung an die Ukraine verschenkte. Diesen Fehler sollte der Westen nicht schamlos auszunutzen versuchen, um den Machtbereich der Nato über Russlands südlichen Zugang zum Meer zu erweitern.

Auf die Frage, ob man als Bürger von Estland oder Litauen Angst vor einem russischem Einmarsch haben müsste, wäre meine Antwort: Wäre ich Russe, hätte ich Angst vor der Realisierung der strategischen Pläne der USA und der Nato – schließlich wird unverhüllt geschrieben, dass ein Regime-Wechsel in Russland angestrebt und alles getan wird, Russland mit Wirtschafts-Sanktionen und Wettrüsten in die Knie zu zwingen.

Russland und China rücken aus diesem Grund jetzt immer näher zusammen, und der Zugang zu dem riesigen Wirtschaftsmarkt könnte für uns Westeuropäer schwieriger werden, was auch schon von Henry Kissinger beklagt wurde.

Auch wenn dies nur anekdotische Evidenz ist, möchte ich dieses Erlebnis dem Leser nicht vorenthalten. Eine russische Nachbarin, die ich zu Ihrer Meinung nach Putin fragte, sagte: „Wir sind stolz auf unseren Präsidenten!“ Wäre ich Russe, würde ich aufgrund der Leistungen Putins für sein Land nach den desaströsen Jelzin-Jahren genauso denken.

China will keinen Krieg

Eine andere Frage gilt der Situation in China und Taiwan. Taiwan ist seit Jahrhunderten chinesisches Staatsgebiet. Nach dem Sieg von Maos Bauernarmee flohen die Reste der von den USA bewaffneten Armee Chiang Kai-sheks unter Mitnahme aller chinesischen Staatsschätze aus Peking auf die Insel Taiwan. Jetzt meldet sich das Reich der Mitte zurück auf der Weltbühne, zurück in der Geschichte. Die Demütigungen, die ihr Land in der Kolonialzeit durch den Westen erfuhr, haben die Chinesen nicht vergessen, und sie sind zu Recht stolz darauf, was ihr Land in der Zeit von Maos Regentschaft bis heute geleistet hat.

Im Westen sollte man begreifen, dass sowohl Taiwan als auch Hongkong nicht für immer westliche Einflussgebiete sein werden, denn sie gehören seit Jahrhunderten zu China, und werden irgendwann dorthin zurückkehren. Aber die chinesische Regierung wird diesen Prozess auf kluge Weise weiter vorantreiben, und nicht einen tölpelhaften Angriffskrieg führen.

Eine Friedenspolitik, wie zu Zeiten Willy Brands existiert heute in Deutschland nicht mehr. Es gibt viele Schriften und Bücher von Russlandkennern, die man heute als „Russenversteher“ zu verspotten versucht. Sie haben auf die transatlantische Politik des „Werte-Westens“ gegen Russland und China jedoch kaum einen Einfluss, da die Meinungsbildung der Wählermassen USA-konform funktioniert.

Dennoch gehen die Meinungen in Bezug auf das „Gute“ und das „Böse“ in der westlichen Gesellschaft zunehmend auseinander. Immer mehr Menschen nähern sich dem Thema vorurteilsfrei, mit nüchternem Blick, und sind bereit, die Interessen beider Seiten zur Kenntnis zu nehmen und anzuerkennen.

Wir Deutschen haben den USA unendlich viel zu verdanken: Die Befreiung von Hitler und – jawohl, das auch – den Schutz vor der sowjetischen Diktatur. Deshalb ist es schwer für uns, die Sichtweise zu wechseln und neue Gegebenheiten zu akzeptieren. Willy Brand beendete seine Rede anlässlich des ihm verliehenen Friedensnobelpreises mit folgenden Worten:

„Eine Bitte kommt mir aus dem Herzen: „Alle, die Macht haben, Kriege zu führen, möchten der Vernunft mächtig sein und Frieden halten.“ So etwas habe ich von unseren derzeitigen Politikern schon lange nicht mehr gehört.


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