Am kommenden Montag wird der „Rat für Auswärtige Angelegenheiten“ (RAB) der EU zu einer Videokonferenz zusammenkommen. Eine Routine-Angelegenheit für die Außenminister der 27 Mitgliedsstaaten – sie treffen sich monatlich. Wie üblich, werden sie über laufende Angelegenheiten beraten, darüber hinaus unter anderem über die Lage in Mynamar, das Verhältnis zu Russland sowie die jüngsten Entwicklungen in Hongkong.
Ein Ereignis verleiht dem Treffen allerdings eine besondere Bedeutung: Wie das Politikmagazin „Politico“ unter Berufung auf drei europäische Diplomaten berichtet, ist eine Einladung an US-Außenminister Anthony Blinken ergangen. Zwei der Diplomaten sagten, die Europäer wollten mit ihrem Kollegen von jenseits des Atlantiks über Russland, die Türkei und den Iran sprechen. Und über China.
Das Weiße Haus hat Blinkens Teilnahme noch nicht bestätigt. Abgesagt aber auch nicht. Es ist daher davon auszugehen, dass er an dem Treffen teilnehmen wird. Und das ist auch gut so.
Eine neue Weltmacht
Abgesehen davon, dass es sinnvoll ist, dass die höchsten außenpolitischen Repräsentanten des größten gemeinsamen Wirtschaftsraums und der (noch) größten Volkswirtschaft der Welt so früh wie möglich persönliche Kontakte knüpfen (Blinken ist erst seit dem 26. Februar im Amt), gibt es ein Thema, über das der Westen gar nicht früh genug beratschlagen kann: China. Das Reich der Mitte schickt sich an, die USA als Weltmacht Nummer eins abzulösen. Wozu es auch jedes Recht hat. Zur Erreichung dieses Ziels wendet es jedoch Methoden an, die dem Prinzip eines friedlichen Wettstreits der Völker fundamental widersprechen: Es betreibt mittels Marktzugangsbarrieren, erzwungenen Technologie-Transfers, regelwidrigen Staatshilfen und Export-Subventionen sowie einer gezielten Abwertung seiner Währung einen unfairen Wettbewerb. Es weitet seinen Machtbereich in der Asia-Pazifik-Region mit Hilfe von militärbasierter Machtpolitik rücksichtslos aus. Es manipuliert die Arbeit internationaler Organisationen, beispielsweise der WHO. Es führt Nationen in Asien (die Neue Seidenstraße!), Afrika und Südamerika in die Abhängigkeit, um sie anschließend rücksichtslos auszubeuten. Ja, es scheut sich anscheinend noch nicht einmal, eine Katastrophe wie die Corona-Pandemie auf perfide Weise für seine Zwecke zu nutzen (lesen Sie dazu die große DWN-Analyse von André Jasch). Pekings Ziel könnte eindeutiger nicht sein: Es will Asien beherrschen, anschließend Europa. „Wer Eurasien beherrscht, beherrscht die Welt“: Dieser 1904 aufgestellte Leitsatz des Doyens der Geopolitik, des Briten Halford Mackinder (1861-1947), hat seine Gültigkeit bis heute nicht verloren.
Die richtige Strategie
Ein europäisch-amerikanischer Austausch bezüglich des China-Problems bezieht seine Dringlichkeit nicht zuletzt aus der Tatsache, dass beide Seiten begonnen haben, eine völlig unterschiedliche Strategie zu verfolgen. Biden hat – löblicherweise – angekündigt, eine harte Linie in seiner China-Politik zu fahren. Die EU dagegen hat gerade erst einen weitgehenden Handelsvertrag mit dem Reich der Mitte abgeschlossen, vor allem die Bundesrepublik warf in Person von Angela Merkel ihr ganzes (wirtschafts)politisches Gewicht hinter das Abkommen. Eine unsägliche Entscheidung angesichts der Tatsache, dass der Deal China viel mehr Vorteile bringt als den EU-Ländern und dass die Volksrepublik nicht gerade bekannt dafür ist, sich an Abkommen zu halten, wie beispielsweise Australien – das vom Handel mit dem Reich der Mitte mittlerweile extrem abhängig ist – letztes Jahr auf bittere Weise erfahren musste.
Anders als Europa verfolgen die USA gegenüber China also die richtige Strategie: Genau wie sein Vorgänger Donald Trump tritt US-Präsident Joe Biden Peking gegenüber mit nachdrücklicher Entschlossenheit auf (wie man es nicht macht, demonstrierte Barack Obama, der viel zu häufig versuchte, den asiatischen Riesen mit Zugeständnissen zum Einlenken zu bewegen).
Zwei Voraussetzungen für die zukünftige Umsetzung einer adäquaten, sinnvollen und wirksamen China-Strategie müssen erfüllt sein:
- Zum einen muss die EU sich umbesinnen. Dazu ist es einerseits notwendig, dass sie sich aus der Abhängigkeit vom Reich der Mitte löst. Dies beinhaltet, dass sich die mit Abstand größte Volkswirtschaft der Gemeinschaft, die Bundesrepublik, von ihrer Export-Obsession verabschiedet und stattdessen vermehrt auf die Stärkung des Binnenmarktes und auf Investitionen setzt (wie das gehen kann, legt der Politikwissenschaftler Prof. Andreas Nölke in einem äußerst lesenswerten DWN-Interview dar). Angela Merkel wird im Herbst dieses Jahres aus dem Amt scheiden – hoffen wir, dass ihr Nachfolger, dass die neue Bundesregierung die Notwendigkeit eines solches Umbruchs erkennen. Weiterhin muss die EU endlich die Realitäten der internationalen Politik anerkennen. Wie wenig die Europäer dazu bereit beziehungsweise in der Lage sind, hat der außenpolitische Denker Walter Russell Mead in einem lesenswerten Interview folgendermaßen beschrieben: „Europäer sind auf extreme Weise geneigt zu glauben, dass sie ´die Welt´ sind, sie glauben, dass internationale Beziehungen wie die Beziehungen innerhalb der EU sind. Es ist ein Fundament der Europäischen Union, dass Verträge auch für nachfolgende Regierungen bindend sind. Ein Lieblingsgedanke ist, dass das Ziel des internationalen Lebens eine immer engere Union wäre. Aber … es ist nicht die Absicht Chinas, in einer engeren Union mit irgendjemandem zu sein.“
- Zum anderen benötigt das transatlantische Bündnis, um sich China entgegenzustemmen, eine umfassende in Worte gefasste Strategie. Diese sollte nicht zu detailliert ausfallen, sich nicht in Kleinigkeiten erschöpfen, weil das erstens der Ideologisierung Vorschub leistet; weiterhin leicht dazu führt, dass Ziele ihrer selbst willen und nicht für einen bestimmten Zweck verfolgt werden; und schließlich ganz allgemein der notwendigen Flexibilität abträglich ist.
Das Vorbild einer solchen Strategie liegt bereits vor.
Das lange Telegramm
Am 22. Februar 1946 (also auf den Tag genau 75 Jahre vor dem EU-US-Außenminister-Treffen kommenden Montag) sandte der „chargé d´affaires“ (Geschäftsträger) der amerikanischen Botschaft in Moskau, George F. Kennan, ein 8.000 Wörter langes Telegramm an seine Vorgesetzten in Washington. In ihm – und in einem später in der einflussreichen Zeitschrift „Foreign Affairs“ unter dem Pseudonym „X“ veröffentlichten Artikel, in dem einige Präzisierungen vorgenommen wurden – legte der bis dahin zweitrangige Diplomat eine Strategie zum Umgang mit der Sowjetunion vor.
Diese Strategie sah eine Politik des „Containment“, zu Deutsch „Eindämmung“, vor. Sie bildete die intellektuelle Grundlage des Marshallplans, der Truman-Doktrin und weiterer zukünftiger außenpolitischer Maßnahmen der USA und hatte – obwohl sie im Laufe der Zeit immer wieder missinterpretiert und fehlerhaft angewendet wurde – einen nicht geringen Anteil am letztendlichen Triumph des Westens im Kalten Krieg.
Nun lässt sich die damalige Situation natürlich mit der von heute aus einer Reihe von Gründen nur bedingt vergleichen:
- Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und ihren Verbündeten auf der einen und den Staaten des westlichen Bündnisses auf der anderen Seit waren vernachlässigbar – der gegenwärtige chinesisch-westliche Handel dagegen hat einen Wert von weit über einer Billion Euro im Jahr, mit steigender Tendenz.
- Das kommunistische Regime der Sowjetunion war ideologisch motiviert, langfristiges Ziel war die Weltrevolution – Chinas Kommunisten dagegen sind pragmatisch, die kommunistische Ideologie nutzen sie primär zum Machterhalt.
- Das Handeln der Sowjets war in nicht geringem Maße von ihrer Angst und ihrer Unsicherheit bestimmt; hervorgerufen unter anderem durch die Erinnerung an die schrecklichen Überfälle durch Reitervölker, die sich ins nationale Gedächtnis der Russen eingebrannt haben; die Furcht vor der Einkreisung durch westliche und andere feindliche Mächte sowie durch die nur äußerst geringe Anziehungskraft der sowjetischen Gesellschaft und Kultur (in den Westen zog es Millionen, in die Sowjetunion nur sehr wenige). Solche Probleme kennen die Chinesen nicht – ihr Anspruch auf globale Dominanz basiert in hohem Maße auf dem Selbstverständnis, in wahrstem Sinne des Wortes „das Reich der Mitte“ zu sein, die einzige Kulturnation dieser Welt, deren restliche Teile von Barbaren bevölkert werden.
Alle drei Punkte sind relevant, der erste natürlich besonders – anders als während des Kalten Krieges kann es nämlich heute aufgrund der engen wirtschaftlichen Verflechtungen kein reines Nebeneinander mehr geben, es muss ein Miteinander sein. Aber dennoch stellen die Maximen, die Kennan vor rund einem Dreivierteljahrhundert vorlegte, auch heute noch geeignete Handlungsanleitungen dar. Im Kurzen seien sie, erweitert um meine eigenen Gedanken, hier vorgestellt.
Zusammenhalt und Selbstvertrauen
- Der Westen muss zusammenhalten. Das heißt natürlich nicht, dass es in Zukunft keinerlei wirtschaftliche und politische Konkurrenz zwischen den Mitgliedern des Anti-China-Bündnisses geben darf. Aber über die wichtigen Aspekte des politischen Umgangs mit China muss Einigkeit herrschen, im Krisensituationen muss gemeinsam gehandelt werden. Vor allem dürfen die Staaten nicht zulassen, dass Peking sie gegeneinander ausspielt und einen Keil zwischen sie treibt.
- Die USA dürfen nicht darauf drängen, dass sich kleinere europäische Staaten zwischen ihnen (den USA) und China entscheiden müssen. Solidarität mit den westlichen Verbündeten muss gegeben sein – aber selbstverständlich muss es weiter erlaubt sein, (auch intensiven) Handel mit China zu treiben.
- Es darf sich unter keinen Umständen Fatalismus breit machen. Selbst wenn China zur Weltmacht Nummer eins aufsteigen sollte: Zusammen ist der Westen immer noch ein ganzes Stück stärker als die Volksrepublik.
- Der Westen muss eine intensive Informations- und Aufklärungsarbeit betreiben. Zu Zeiten des Kalten Krieges wurde darauf viel Wert gelegt (wenn auch häufig in übertriebener Art und Weise, wenn man sich nur den virulenten Anti-Kommunismus der 50er und 60er Jahre ins Gedächtnis ruft). Gerade in den internationalen Organisationen muss den Mitgliedsstaaten immer wieder vor Augen gehalten werden, wie China versucht, sie beziehungsweise die gesamte Organisation für seine Zwecke zu instrumentalisieren.
- Der Westen muss ein tiefes Verständnis von China entwickeln. Universitäten, Forschungseinrichtungen, Think Tanks, etc., die sich mit China befassen, müssen gestärkt beziehungsweise gegründet werden.
- Neue Verbündete müssen gewonnen werden. In diesem Zusammenhang ist das Verhältnis zu Russland einer Prüfung zu unterziehen (zu diesem Thema hat DWN-Korrespondent Ronald Barazon eine gewohnt scharfsinnige Kolumne verfasst). Besonders wichtig ist Indien: Das bevölkerungsmäßig zweitgrößte Land der Welt liegt mit China seit Jahrzehnten im Dauerstreit. Unter Donald Trump und seinem Außenminister Mike Pompeo haben die USA klugerweise die Nähe zu Neu-Delhi gesucht – Biden und Blinken sollten diese Politik fortsetzen.
- Die militärische Komponente muss überdacht werden. Im südchinesischen Meer zeigt sich China mehr oder weniger offen als imperialistische Macht. Die USA bieten der Marine und der Luftwaffe der Volksbefreiungsarmee durch Präsenz vor allem von Flugzeugträgern in den umkämpften Gewässern die Stirn, während sie, Australien, Japan und Indien ihre militärische Zusammenarbeit in der Region ausbauen – beides ist richtig und notwendig. Das wirft die Frage auf, inwieweit sich die europäischen Verbündeten engagieren sollten, inwieweit auch sie ihren Teil dazu beitragen müssen, die internationalen Handelswege offenzuhalten. Diese Frage bedarf einer intensiven Analyse und Diskussion.
- Die Auseinandersetzung mit China darf nicht als Nullsummenspiel betrieben werden. In dieser Beziehung ist die Politik von Trump zu kritisieren: Zwar tat er – wie oben bereits erwähnt – Recht daran, der Volksrepublik energisch entgegenzutreten. Er brach jedoch einen unilateralen Handelskrieg vom Zaun, der im Endeffekt Amerikas Unternehmens mindestens genauso schadete wie Chinas, und er versuchte nicht, Allianzen zu schmieden, im Gegenteil (gegen „America first“ ist aus realpolitischer Sicht nichts einzuwenden, jedoch nur, solange der Slogan nicht so aggressiv vorgetragen wird, wie es in den vergangenen vier Jahren der Fall war).
Vor 76 Jahren gelang es einem Botschaftsmitarbeiter mittleren Ranges, mit einer als Telegramm versandten Analyse den Lauf der Geschichte zu ändern. In wenigen Tagen kommen 27 Außenminister – die einige der führenden Nationen der Erde vertreten – zu einer enorm wichtigen Konsultation zusammen. Zu hoffen ist, dass sie die Dinge so klar sehen, wie der damals noch so unbekannte Diplomat – und dass sie sich ihrer Verantwortung bewusst sind.