Politik

Putin droht dem Westen - um von seiner sinkenden Akzeptanz in Russland abzulenken

Der politische Analyst Sławomir Sierakowski hat einen meinungsstarken Artikel verfasst. Für ihn stellt Putins Rede zur Lage der Nation ein Zeichen von Schwäche dar.
04.07.2021 06:53
Aktualisiert: 04.07.2021 06:53
Lesezeit: 3 min

Die jährliche Rede des russischen Präsidenten zur Lage der Nation enthielt so viele großtuerische Drohungen, dass sie schon wieder beruhigend klang. Nicht nur, dass er den Westen davor warnte, rote Linien zu überschreiten – nein, er kündigte auch im selben Atemzug an, dass ganz allein er und nur er entscheidet, wo diese Linien verlaufen.

Das Ganze wirkte eher wie ein krampfhafter Versuch der Selbstbestätigung. Jedenfalls nicht wie eine ernsthafte Warnung gegenüber dem Westen – wozu sollte die auch gut sein? Schließlich legt der Westen in Sachen Russland auf chronische Weise Apathie an den Tag und stellt kaum eine Gefahr für Putin dar. Kaum jemand wird dem russischen Präsidenten abnehmen, er glaube ernsthaft, Russland werde durch die Macht der EU bedroht – also einer Organisation, die nicht einmal mit Ungarn fertig wird. Dasselbe gilt für die USA. Zwar hat die Regierung von Joe Biden gerade neue Sanktionen gegen Russland verhängt – die scheinen aber noch symbolischer zu sein als die, welche Donald Trump beschloss. Fakt ist: Bidens Maßnahmen brachten den Kurs des russischen Rubels zwei Tage lang zum Sinken, dann schoss er wieder in die Höhe. So viel zur Wirkung dieser Sanktionen.

Nicht einmal die Russen finden Putins Drohungen glaubhaft. Das heißt nicht, dass sie ihn demnächst absetzen werden (solche Aktionen haben immer zu Problemen geführt und letztlich meist zu einem noch schlechteren Regime). Aber es deutet auch wenig darauf hin, dass die Russen noch einmal so reagieren wie nach der Annexion der Krim, als Putins Beliebtheitswerte durch die Decke gingen.

Schließlich haben Russland und die Russen durch die Übernahme der Krim und der ostukrainischen Region Donbass nichts gewonnen. Nachdem der Kreml sieben Prozent des ukrainischen Hoheitsgebiets erobert und verwüstet hat, muss er diesen Territorialgewinn jetzt mit bezahlten Söldnern, zusätzlichen Infrastrukturprojekten (wie der gewaltigen Brücke zwischen dem russischen Festland und der Krim) sowie mit Sozialleistungen für die dort lebende Bevölkerung – die kein normales Leben mehr führen und keiner normalen Arbeit mehr nachgehen kann – sichern.

Darüber hinaus hat Russland – vielleicht für immer – das traditionelle Wohlwollen der ukrainischen Gesellschaft verspielt, die historisch gesehen immer der russischen Kultur zugeneigt war (eine ähnliche kulturelle „Scheidung“ geschieht gerade in Weißrussland.) Früher haben die Ukrainer russisches Fernsehen gesehen, russische Musik gehört und russische Konsumgüter gekauft; kaum jemand war stolz auf seine ukrainische Identität – wenigstens nicht östlich von Kiew. Das ist nun Geschichte. Kein ukrainischer Politiker hat die Ukrainer so erfolgreich hinter der Idee einer ukrainischen Nation versammelt wie Putin.

Als Reaktion auf die russische Aggression hat die Ukraine ihre Armee vergrößert und konsolidiert, die kulturelle, wirtschaftliche und politische Integration in den Westen vertieft und – wenn auch langsam – innenpolitische Reformen durchgeführt. Putin hat es sogar geschafft, Politiker – wie beispielsweise den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj – die eigentlich pro-russisch waren, dazu zu bringen, für die Unabhängigkeit ihres Landes zu kämpfen.

Die nächste „Errungenschaft“ der russischen Führung wird höchstwahrscheinlich darin bestehen, Selenskyjs schwächelnder Partei neue Wähler zuzutreiben und damit seine Wiederwahl zu sichern. Dieses Ergebnis schien bis vor Kurzem eher unwahrscheinlich, führte doch – und führt auch in den derzeitigen Umfragen noch, wobei die Betonung auf „noch“ liegt – die pro-russische Oppositionspartei „Für das Leben“. Doch ihr Vorsprung bröckelt gewaltig – Putin hat dafür gesorgt, dass die pro-russischen Kräfte an Unterstützung verlieren.

An anderer Stelle konnte Putin seiner immer länger werdenden „Erfolgsliste“ die Zerstörung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit der Tschechischen Republik hinzufügen, die kürzlich 60 russische Diplomaten ausgewiesen hat. Bevor aufgedeckt wurde, dass Russland hinter der Explosion eines tschechischen Munitionslagers im Jahr 2014 stand, bei dem zwei Menschen getötet wurden, war Miloš Zeman, der Präsident des Landes, der vermutlich größte Putin-Freund in Europa, und Ministerpräsident Andrej Babiš hatte sich lange gegen die Ausweitung der EU-Sanktionen gegen Russland ausgesprochen. Inzwischen hat auch die Tschechische Republik „Rosatom“, die staatliche Agentur für Atomenergie Russlands, von der öffentlichen Auftragsvergabe ausgeschlossen. Und nach seinem letzten Tobsuchtsanfall kann Putin auch seinen Plan vergessen, den in Russland hergestellten Corona-Impfstoff Sputnik V großflächig in die ganze EU zu verkaufen.

Auch die Pipeline „Nord Stream 2“, die russisches Erdgas durch die Ostsee nach Deutschland bringen soll, hängt jetzt am seidenen Faden. Wenn das Projekt bis zur Bundestagswahl im September nicht abgeschlossen ist, könnte die Pipeline zur bloßen Touristenattraktion für Taucher werden. Zur Zeit liegen die Grünen in den Umfragen an der Spitze und sowohl weite Teile der deutschen Presse als auch der deutschen Gesellschaft fordern, dass das Projekt eingestampft wird.

Obwohl wir nicht genau wissen, wie viel Geld Russland für die aktuelle Verlegung von fast 150.000 Soldaten, schwerem Gerät und Feldlazaretten an die ukrainische Grenze aufwendet, sind die Kosten für die Wirtschaft des Landes nicht unerheblich. Den Russen sind diese Kosten schmerzlich bewusst. Nach zehn Jahren fallender (inflationsbereinigter) Reallöhne zieht Putins neues demonstratives Säbelrasseln nur noch bei wenigen.

Es hätte auch anders laufen können. Putins Russland hätte sich statt außenpolitischer Abenteuer für die Modernisierung des Landes entscheiden können. Putins politischer Leitstern, die Sowjetunion, hat sich ebenfalls für Ersteres entschieden, und das heutige Russland erinnert mehr und mehr an die Spätphase der UdSSR, die damals mit Juri Andropow ebenfalls von einem KGB-Mann gelenkt wurde. Russland hat in der Ukraine genau das Gleiche erreicht, wie die UdSSR in ihrem Afghanistan-Krieg von 1979 bis 1989.

Jetzt hat der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu angekündigt, dass Russland mit dem Abzug seiner Armeen aus der russischen Grenzregion beginnt. Anscheinend war Putins Rede tatsächlich ein bloßer Wortschwall, der zeigt, dass der russische Präsident sowohl im Inneren als auch im Ausland an Einfluss verliert.

Sławomir Sierakowski ist Gründer der Bewegung „Krytyka Polityczna“, Direktor des „Institute of Advanced Studies“ in Warschau und Senior Fellow der „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“.

Copyright: Project Syndicate, 2021.

www.project-syndicate.org

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