Deutschland

Top-Ökonom: Bundesregierung unterschätzt Insolvenzrisiken durch Corona-Krise

Der Ökonom Marcel Fratzscher sagt, dass die Finanzhilfen für Unternehmen nicht ewig aufrechterhalten werden. Die Frage sei nicht ob, sondern lediglich wann und wie stark ein Anstieg der Unternehmensinsolvenzen in den kommenden zwei Jahren sein werde.
16.06.2021 17:21
Aktualisiert: 16.06.2021 17:21
Lesezeit: 3 min

Die Bundesregierung unterschätzt nach Ansicht des Berliner Ökonomen Marcel Fratzscher das Risiko von Firmenpleiten infolge der Corona-Krise. Die Frage sei nicht ob, sondern lediglich wann und wie stark ein Anstieg der Unternehmensinsolvenzen in den kommenden zwei Jahren sein werde, warnt der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) im Gespräch mit dem „Handelsblatt“ laut Vorabbericht. Denn die Hilfen und die Kreditgarantien durch den Staat könnten „nicht ewig“ aufrechterhalten werden. „Die Bundesregierung unterschätzt das Risiko von Insolvenzen und Überschuldungen für Unternehmen. Sie braucht eine Strategie, wie sie mit einem Anstieg von Insolvenzen und Unternehmensschließungen umgehen will“, so Fratzscher. Doch die Bundesregierung meint, dass nur ein kleiner Teil der Unternehmen bedroht sei. Es werde zwar Firmenpleiten, jedoch keine Insolvenzwelle geben, meint sie.

Der Hauptgeschäftsführer des Unternehmerverbands Niedersachsenmetall, Volker Schmidt, warnt in der Corona-Krise vor stark steigenden Insolvenzzahlen. „Dass die Bundesregierung mit Tunnelblick das wachsende Insolvenzrisiko vieler Betriebe offenkundig ausklammert, bereitet mir mittlerweile große Sorge“, sagte er der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. „Durch die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht wird das Problem im Grunde genommen nur kaschiert. Faktisch tickt hier eine Zeitbombe, und das Risiko, dass sie hochgeht, wird von Tag zu Tag größer.“

Schmidt zeigte sich grundsätzlich unzufrieden mit dem Corona-Kurs der Bundesregierung und hat beispielsweise kein Verständnis für die Androhung einer Testpflicht für Unternehmen. „Es ist schon bemerkenswert, wie die Bundeskanzlerin die umfangreichen Maßnahmen ignoriert, die die Unternehmen selbst und zu hohen Kosten ergreifen. Ich denke, die CDU/CSU muss höllisch aufpassen, dass der Keil zwischen Bundesregierung und Wirtschaft durch Forderungen wie eine Testpflicht nicht noch größer wird als er ohnehin schon ist.“

Die Wirtschaftsauskunftei Crifbürgel rechnet aufgrund der Corona-Pandemie noch in diesem Jahr mit einer Insolvenzwelle in Deutschland. Die Zahl der Firmenpleiten könne sich gegenüber 2020 mehr als verdoppeln. Insgesamt 35.500 Firmeninsolvenzen seien möglich, berichtete Crifbürgel-Geschäftsführer Frank Schlein am Freitag in Hamburg.

Die Europäische Union ist somit mit einem Anstieg von Insolvenzen und notleidenden Krediten konfrontiert, sobald die wirtschaftliche Erholung nach der Pandemie Einzug hält und die Regierungen staatliche Nothilfen zurückziehen, die viele Unternehmen am Leben halten, heißt es in einem EU-Dokument. Ein drastischer Anstieg von Insolvenzen konnte bisher abgewendet werden, weil die EU-Regierungen Nothilfen im Volumen von 2,3 Billionen Euro bereitgestellt hatten.

Ohne diese Hilfe und neue Kredite von Banken hätte fast ein Viertel der EU-Unternehmen bis Ende 2020 Liquiditätsprobleme gehabt, nachdem sie ihre Bargeldpuffer aufgrund des durch die COVID-19-Pandemie verursachten wirtschaftlichen Chaos erschöpft hatten. „Sobald die beispiellosen öffentlichen Unterstützungsmaßnahmen abgelaufen sind, werden wahrscheinlich eine Reihe von Unternehmen ihren Schuldenverpflichtungen nicht mehr nachkommen, was zu höheren notleidenden Krediten und Insolvenzen führen wird“, heißt es in dem Dokument. Fast die Hälfte aller Unternehmen, die im vergangenen Jahr aufgrund der Pandemie Liquiditätsprobleme gehabt hätten, hatten bereits vor der Krise ein hohes Ausfallrisiko und wurden nur noch durch staatliche Hilfe über Wasser gehalten, so der englischsprachige Dienst von Reuters.

„Miguel Ríos hatte ein gutes Geschäft mit vier Karaoke-Bars in Barcelona, bis das Coronavirus ihn zwang, sie zu schließen. Er nahm Bankdarlehen im Wert von 80.000 Euro auf, was 96.000 US-Dollar entspricht, stellte seine 10 Mitarbeiter in ein staatliches Lohnunterstützungsprogramm und hoffte auf das Beste. Fast ein Jahr später sind die Türen seiner Bars immer noch geschlossen. Nun befürchtet Ríos, dass sein Geschäft scheitern wird, was ihn mit einem Haufen Schulden zurücklässt und seine Banken Verlusten aussetzt. ,Wir widersetzen uns dank Ersparnissen und Bankkrediten, aber wir können nicht mehr lange so durchhalten‘, sagt der 59-jährige Unternehmer. Seine Geschichte wiederholt sich in ganz Europa, weil kleine Unternehmen darum kämpfen, sich im Verlauf der Pandemie über Wasser zu halten. Ihr Überleben ist der Schlüssel für die Banken der Euro-Zone, die zusammen über zwei Billionen Euro ausgeliehen haben – 40 Prozent der gesamten Geschäftskreditbücher der Kreditgeber. Insgesamt haben die Kreditgeber die notleidenden Kredite aus der vorherigen Krise erheblich bereinigt, aber viele sind immer noch mit Souring-Portfolios beschäftigt. Sie kämpfen auch darum, in einem Umfeld mit negativen Zinssätzen Geld zu verdienen. Die Aufsichtsbehörden befürchten, dass eine neue - und möglicherweise größere - Welle von Ausfällen die Banken dazu bringen könnte, Verluste zu erleiden (…) Andrea Enria, Leiterin der Bankenaufsicht bei der Europäischen Zentralbank, hat gewarnt, dass notleidende Kredite in der Eurozone - mehr als nach der Finanzkrise - bis zu 1,4 Billionen Euro erreichen könnten, wenn die Wirtschaft stärker als erwartet schrumpft“, so das „Wall Street Journal“ in einem Artikel, der auf den 20. Januar 2021 datiert ist.

Probleme mit der Unternehmensliquidität spiegeln sich der EU zufolge noch nicht in schlechten Kreditquoten wider. „Während es klar ist, dass die Schuldendienstkapazität des Privatsektors durch die Pandemie beeinträchtigt wurde, haben staatliche Kreditgarantien und Moratorien für die Rückzahlung von Krediten bisher einen Anstieg der Kreditausfälle verhindert“, heißt es in der Mitteilung der EU. Die EU-Kommission wörtlich: „Daher spiegeln die Headline-NPL-Quoten (Non-Performing Loan) - basierend auf einem relativ stabilen NPL-Bestand und dem zunehmenden Nenner des Kredits - noch nicht die zugrunde liegende Verschlechterung des Kreditprofils der Kreditnehmer wider.“

Von den fast 2,3 Billionen Euro an staatlichen Liquiditätsmaßnahmen auf EU-Ebene haben Unternehmen und Haushalte rund 32 Prozent des Gesamtbetrags in Anspruch genommen, hauptsächlich mit öffentlichen Garantien.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen MTS Money Transfer System – Sicherheit beginnt mit Eigentum.

In Zeiten wachsender Unsicherheit und wirtschaftlicher Instabilität werden glaubwürdige Werte wieder zum entscheidenden Erfolgsfaktor....

X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.

E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung sowie die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Finanzen
Finanzen US-Börsen: So schützen sich Anleger vor einem möglichen KI-Crash an den Finanzmärkten
04.11.2025

Die US-Finanzmärkte sind in Bewegung. Technologiewerte und Entwicklungen rund um künstliche Intelligenz sorgen für Begeisterung und...

DWN
Finanzen
Finanzen Autokosten: Check zeigt steigende Preise für Versicherung, Pflege und Reparaturen
04.11.2025

Die Preise rund ums Auto steigen rasant – von Versicherung bis Wartung. Ein aktueller Autokostencheck zeigt, wie stark sich der Unterhalt...

DWN
Finanzen
Finanzen Aktien richtig beobachten: Mit diesen Tipps vermeiden Anleger Verluste
04.11.2025

Anleger stehen vor der Herausforderung, den richtigen Zeitpunkt für den Verkauf ihrer Aktien zu erkennen. Dabei spielen sowohl...

DWN
Finanzen
Finanzen Aktien Frankfurt: DAX-Kurs aktuell mit Verlusten – Börse heute von drohendem US-Shutdown belastet
04.11.2025

Der DAX-Kurs steht im Börsenhandel am Dienstag erneut unter Druck: Nach dem kurzen Zwischenhoch zum Wochenstart folgt die Ernüchterung an...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Krise in der Autoindustrie: Mahle-Stellenabbau trifft Stuttgart besonders hart
04.11.2025

Der Mahle-Stellenabbau erschüttert die Automobilbranche: Der traditionsreiche Zulieferer reagiert mit harten Sparmaßnahmen auf die Krise....

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Donald Trumps Industriepolitik: US-Regierung prüft Einstieg in Schlüsselindustrien
04.11.2025

Angesichts globaler Spannungen und wachsender wirtschaftlicher Unsicherheit gewinnen staatliche Eingriffe in Schlüsselindustrien an...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft KfW-Analyse: Mittelstand-Beschäftigungsrekord erreicht – Bürokratie bleibt Bremse
04.11.2025

Der Mittelstand in Deutschland erreicht einen historischen Mittelstand-Beschäftigungsrekord, doch die Euphorie bleibt gedämpft. Steigende...

DWN
Finanzen
Finanzen SAF-Holland-Aktie: US-Zölle bremsen Nachfrage – Lkw-Zulieferer senkt erneut Umsatzziel
04.11.2025

Die SAF-Holland-Aktie steht erneut im Fokus: Der Lkw-Zulieferer muss seine Umsatzprognose senken, während US-Zölle und schwache Märkte...