Politik

Naher Osten: Die Staaten nähern sich einander an - sogar Iran, Türkei und Saudi-Arabien suchen Frieden

Lesezeit: 4 min
12.09.2021 10:00
Im Nahen Osten tun sich erstaunliche Dinge: Selbst verfeindete Staaten verhandeln miteinander. Ist das der Auftakt zu umfassenden Friedensverhandlungen?
Naher Osten: Die Staaten nähern sich einander an - sogar Iran, Türkei und Saudi-Arabien suchen Frieden
Der türkische Außenminister Mevlut Cavusoglu (l) im Gespräch mit seinem saudischen Amtskollegen Faisal bin Farhan al-Saud. (Foto: dpa)

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Wie ist die aktuelle Neuordnung der Beziehungen und Allianzen im Nahen Osten einzuschätzen? Zwischen erbitterten Feinden erblüht die Diplomatie, zwischen engen Freunden entstehen Risse. Regionalmächte wie Saudi-Arabien, Iran, Türkei und Ägypten rekalibrieren ihre Außenpolitik und bringen ihre Beziehungen mit entfremdeten Nachbarn in Ordnung. Die USA und Russland stehen sich in der Region wieder als Rivalen gegenüber, und mit China ist ein neuer Akteur auf den Plan getreten.

Diese geopolitischen Verschiebungen könnten den Nahe Osten zur Bühne eines erbitterten globalen Wettstreits machen. Sie könnten aber genauso gut auch regionale Rivalitäten entschärfen und Länder zusammenbringen, die traditionell nur durch Hass verbunden sind. Viel wird von den wichtigsten Trends abhängen, die hinter der Neuausrichtung stehen: Amerikas teilweiser Rückzug, der Aufstieg Chinas sowie die negativen Folgen der COVID-19-Pandemie auf die sowieso schon schwachen Volkswirtschaften der Region.

US-Präsident Joe Biden hat klar gemacht, dass der Nahe Osten für seine Regierung keine außenpolitische Priorität mehr hat. Während der frühere Präsident Donald Trump auf eine gegen den Iran gerichteten Koalition unter Führung von Saudi-Arabien und Israel setzte, versucht Biden, sich von Saudi-Arabien zu distanzieren, unter anderem, indem er dem Land die US-Unterstützung für den Krieg im Jemen entzieht. Die Biden-Administration versucht weiterhin, das Atomabkommen mit dem Iran von 2015, aus dem Trump die USA 2018 zurückgezogen hatte, auf diplomatischem Wege wiederzubeleben, und hält mit der Türkei und Ägypten zwei von Trumps Lieblingspartnern auf Distanz.

Mit dem vollständigen Abzug der US-Truppen aus Afghanistan im August hat Biden deutlich gemacht, dass sich die USA künftig aus den Kalten Kriegen in der Region heraushalten und ihre Aufmerksamkeit verstärkt Asien und China zuwenden. Nicht zuletzt deshalb wird überall im Nahen Osten Amerika nicht länger als echter Partner wahrgenommen.

Und während sich die Vereinigten Staaten zurückziehen, erhöht China seine Präsenz in der Region. Im März schloss das Land ein wichtiges Abkommen mit dem Iran, das in den nächsten 25 Jahren im Gegenzug für regelmäßige Öl- und Gaslieferungen Investitionen in Höhe von 400 Milliarden US-Dollar vorsieht. Auf einer Tour durch Saudi-Arabien, die Türkei, den Iran, die Vereinten Arabischen Emirate, Bahrain und den Oman (ebenfalls im März), bestätigte der chinesischen Außenminister Wang Yi das Engagement seines Landes für die Sicherheit und Stabilität der Region. Mit einem offenen Seitenhieb gegen die USA sagte er, China lehne Einmischungen aus dem Ausland ab und wolle als ehrlicher Makler zur Lösung alter Konflikte in der Region beitragen.

Außerdem lockte Wang mit der Aussicht auf ein chinesisches Freihandelsabkommen, das die Neue Seidenstraßen-Initiative Chinas mit lokalen Entwicklungsprojekten verknüpfen und so Investitionsmöglichkeiten in Höhe von vielen Milliarden US-Dollar eröffnen würde. Dieses wirtschaftliche Zuckerbrot findet viel Anklang im Nahen Osten, wo schon lange vor der Pandemie die Jugendarbeitslosigkeits- und Armuts-Quoten sowie viele andere ökonomische Kennzahlen trostlos waren. In den vergangenen 18 Monaten hat COVID-19 die ernsten sozialen Krisen in vielen Ländern weiter verschärft.

Unter diesen Umständen ist es kein Wunder, dass Dialog und Diplomatie in der Region ein Comeback genießen. Die meisten Regierungs-Chefs sind sich bewusst, dass es für die Sicherheit ihres Regimes wichtiger ist, die Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung zu erfüllen, als die sektiererische Abgrenzung und den Hass auf „andere“ zu schüren. So diskutierten Saudi-Arabien und der Iran im April in geheimen Gesprächen, wie der Konflikt im Jemen - in dem eine Koalition unter Führung der Saudis seit März 2015 die vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen bekämpft - beendet werden kann.

Auch seinem Nachbarn Katar, der freundliche Beziehungen mit dem Iran unterhält und zu dem man im Juni 2017 sämtliche Verbindungen abgebrochen hatte, nähert sich Saudi-Arabien wieder an. In einer wirkungsvollen Geste der Versöhnung hat König Salman von Saudi-Arabien den Emir von Katar, Tamim bin Hamad Al Thani, zu einem offiziellen Besuch seines Landes eingeladen.

Als weiteres Zeichen der umfassenden politischen Neuordnung haben die Saudis ihre Beziehungen zum Irak – einem Verbündeten Irans – normalisiert und damit drei Jahrzehnte der gegenseitigen Entfremdung und Feindschaft beendet. Und nach Jahren des Konflikts mit dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, der ebenfalls ein enger Partner des Iran ist, führten saudische Offizielle vor kurzem geheime Gespräche mit ihren syrischen Amtskollegen in Damaskus und befeuerten damit Berichte über ein baldige Normalisierung der diplomatischen Beziehungen.

Auch der Iran scheint gewillt, seinen Nachbarn und insbesondere den Vereinigten Arabischen Emiraten neue Brücken zu bauen. Der iranische Außenminister Mohammed Dschawad Sarif plant Berichten zufolge nach einer diplomatischen Charmeoffensive, die ihn im April nach Katar, Irak, Kuwait und den Oman führte, in Kürze einen Besuch in den Emiraten.

Die wichtigste Nachricht jedoch ist eine mögliche Annäherung zwischen dem Iran und Saudi-Arabien. Zwar scheidet der gemäßigte Präsident Hassan Rohani demnächst aus dem Amt, aber auch der Hardliner Ebrahim Raisi, der ihn ersetzt, sieht „keine Hindernisse“ für die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit dem Königreich. Dies könnte die Bürger- und Stellvertreterkriege in Syrien und im Jemen – zwei der größten humanitären Krisen der heutigen Zeit – eindämmen und Stabilität in politisch und religiöse gespaltene Länder wie den Irak und Libanon bringen.

Und schließlich hat auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine diplomatische Offensive eingeleitet, um das schwierige Verhältnis seines Landes mit anderen Staaten der Region und insbesondere Ägypten und Saudi-Arabien zu entspannen. Nachdem es letztes Jahr in Libyen fast zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und Ägypten gekommen wäre, will Erdogan nun die wirtschaftlichen Beziehungen mit Ägypten und anderen regionalen und globalen Mächten verbessern.

Die Gründe für die vielen Neuausrichtungen in der Region sind eine neue Einschätzung des Kräftegleichgewichts und sich einander immer stärker annähernde Interessen. Durch den Rückzug Amerikas sind die Regionalmächte gezwungen, die Beziehungen zu ihren Nachbarn zu kitten, um selbst für ihre Sicherheit zu sorgen. Die Staats-Chefs der Region sehen langsam ein, dass es ihnen nichts bringt, wie Trump Öl ins Feuer zu gießen. Mit Hilfe internationaler Diplomatie unter Leitung Amerikas, Europas, Chinas, Russlands und Japans könnte der Nahe Osten seinen derzeitigen Weg der Deeskalation fortsetzen.

Kann die internationale Gemeinschaft ein Abkommen zu einer neuen umfassenden Sicherheitsarchitektur und einem atomwaffenfreien Nahen Osten vermitteln? Oder zumindest die Verfahren zu Dialog und Konfliktmanagement, die sich gerade entwickeln, unterstützen und ermutigen? Diese Vision ist heute kein reines Wunschdenken mehr. Endlose Konflikte prägen vielleicht die Vergangenheit des Nahen Osten, sind aber nicht das unabwendbare Schicksal der Region.

Fawaz A. Gerges ist Professor für Internationale Politik sowie die Politik des Nahen und Mittleren Ostens an der "London School of Economics and Political Science". 

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