Politik

Ende der Ära Merkel: Wie die Welt den Regierungswechsel sieht

Kanzlerin Merkel verabschiedet sich von der Weltbühne. Bei ihrem letzten G20-Gipfel in Rom hat sie mit Finanzminister Scholz schon ihren wahrscheinlichen Nachfolger dabei. Wie blickt die Welt auf den Wechsel an der Spitze der größten europäischen Wirtschaftsmacht?
28.10.2021 17:34
Aktualisiert: 28.10.2021 17:34
Lesezeit: 3 min

Seit Wochen befindet sich Bundeskanzlerin Angela Merkel auf Abschiedstour. Sie war in Washington und Moskau, Paris und Warschau. Sogar der Papst empfing sie noch einmal zu einer Privataudienz im Vatikan. In den nächsten Tagen wird sich die nur noch geschäftsführende Regierungschefin beim G20-Gipfel in Rom und der Klimakonferenz in Glasgow nun auch von der ganz großen Weltbühne verabschieden.

Beim Treffen der wichtigsten Wirtschaftsmächte Rom hat sie praktischerweise ihren wahrscheinlichen Nachfolger dabei. Der bei der Bundestagswahl siegreiche SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz nimmt als Finanzminister teil. Protokollarisch ist die CDU-Politikerin Merkel noch die Chefin. Es wirkt aber schon wie eine Art Stabübergabe.

Wie wird bei den wichtigsten Bündnispartnern und Rivalen Deutschlands im Kreis der G20 der Regierungswechsel gesehen? Ein Überblick.

USA

Die Regierung von US-Präsident Joe Biden setzt weiter auf ein starkes Deutschland, das innerhalb der EU, der Nato und der internationalen Gemeinschaft Verantwortung übernimmt. Die Amerikaner werden ganz besonders darauf achten, wie sich die neue deutsche Regierung gegenüber China positioniert. Washington dringt auf einen konfrontativeren Umgang mit dem strategischen Rivalen, während Merkels Regierung eher auf Dialog und gute Handelsbeziehungen gesetzt hatte.

Gleiches gilt für den künftigen Umgang mit Russland. Damit verbunden ist auch das alte Streitthema der Erdgas-Pipeline Nord Stream 2. Washington wird mit Nachdruck einfordern, dass die neue Regierung ihre Verpflichtungen aus einer Kompromissvereinbarung mit den USA zu dem Thema erfüllt. Demnach muss Deutschland vor allem die Ukraine unterstützen. Im Kongress setzen führende Republikaner und auch mehrere seiner Demokraten Biden deswegen unter Druck. Wenn Deutschland da keine Fortschritte vorweist, könnte es doch noch zu US-Sanktionen gegen das Projekt kommen.

China

China fürchtet, dass eine Ampel-Regierung einen härteren Kurs gegen das Land fahren wird. Merkel wird in Peking schon heute schwer vermisst, weil sie ehrlich ihre Meinung gesagt, aber immer auch Verständnis für China aufgebracht und eine eher wirtschaftsorientierte China-Politik betrieben hat.

Peking hat die Hoffnung, dass auch Scholz weiß, wie abhängig Deutschland von der wirtschaftlichen Kooperation mit China ist. Es wird vermerkt, dass der SPD-Politiker hinsichtlich seiner Pläne im Umgang mit China eher zurückhaltend gewesen sei und eine gemeinsame EU-Haltung suche.

Anders hingegen FDP und Grüne, die sich nicht nur stärker für Menschenrechte und verfolgte Uiguren und Tibeter, sondern auch für freien Handel und fairen Marktzugang einsetzen wollen. Peking selbst stellt sich aber schon wegen der Spannungen mit den USA auf schwerere Zeiten ein, indem es seine Abhängigkeit vom Ausland reduzieren will.

Russland

Die Zahl der Konflikte in den deutsch-russischen Beziehungen ist kaum überschaubar. Berlin macht Moskau etwa für einen Mord in der Nähe des Berliner Regierungsviertels, einen Cyberangriff auf den Bundestag und für Aggressionen gegen die Ukraine verantwortlich. Sanktionen sind in Kraft. Eine Verbesserung der Lage unter einem Kanzler Scholz erwartet kaum jemand in Russland - eher noch mehr deutsche Kritik, sollte es einen Außenminister oder eine Außenministerin der Grünen geben. Mit Sorge betrachtet Moskau etwa den Widerstand der Grünen gegen die Ostseepipeline Nord Stream 2.

Russland setzt unabhängig von den «politischen Meinungsverschiedenheiten», wie es im Kreml heißt, vor allem auf Zusammenarbeit in anderen Feldern mit gemeinsamen Interessen. «Deutschland ist ein großer Handels-, Wirtschafts- und Investitionspartner Russlands, deshalb hat Moskau ein Interesse daran, dass die Beziehungen erhalten bleiben und sich weiter entwickeln», sagte Putins Sprecher Dmitri Peskow unlängst.

Türkei

Beobachter gehen davon aus, dass eine neue Bundesregierung einen härteren Kurs gegen die Türkei fahren könnte. Gerade wenn das Außenamt an die Grünen ginge, könnte sich die Zusammenarbeit schwieriger gestalten. Grünen-Politiker gehen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan immer wieder scharf wegen Menschenrechtsfragen an. Die Partei fordert außerdem ein Ende des Flüchtlingsdeals zwischen der Türkei und der EU.

Erdoğan betonte bei Merkels Abschiedsbesuch als Kanzlerin in der Türkei zwar, dass er auch unter der neuen Bundesregierung auf eine enge Zusammenarbeit beider Länder hoffe. Die jüngste Krise um eine drohende Ausweisung der Botschafter, auch des deutschen, hat die Beziehungen aber vor eine neue Belastungsprobe gestellt.

Aus Sicht von Günter Seufert, Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS), muss es für die neue Bundesregierung auch um eine ganz grundsätzliche Frage gehen: Wie geht man künftig mit einem Land um, «auf dessen Kooperation die EU in bestimmten Bereichen angewiesen ist, dessen Außen- und Innenpolitik jedoch immer weniger europäischen Vorstellungen entspricht».

Frankreich

Frankreich geht es vor allem um eine möglich schnelle Regierungsbildung in Deutschland, denn Paris übernimmt im Januar den EU-Ratsvorsitz. Deutschland kommt als bevölkerungsreichstem EU-Mitglied bei neuen Projekten eine besondere Bedeutung zu.

Mit SPD, Grünen und FDP als proeuropäische Parteien erwartet Paris eine gewisse Kontinuität der bisherigen deutschen Politik, wie Éric-André Martin vom Institut Français des Relations Internationales sagt. Scholz gebe Paris als bereits bekannter und erfahrener Politiker eine gewisse Sicherheit und werde als Wunschpartner gesehen. Eine offene Frage sei für Frankreich, ob Scholz die mitunter weit auseinander liegenden Grünen und FDP werde zusammenhalten können, sagt der Experte für deutsch-französische Beziehungen. Auch wie die notwendigen Investitionen beim Klima mit der bisher eher strikten Schuldenpolitik und dem Kurs finanzieller Stabilität vereinbart würden, beobachte Frankreich aufmerksam.

Großbritannien

In Großbritannien ist das Interesse an der deutschen Regierungsbildung eher verhalten. Medien weisen vor allem auf die ruhigen Gespräche hin, die schneller voranschritten als gedacht. Eigene Baustellen lenken zur Genüge von Deutschland ab: Fehlende Lastwagenfahrer, leere Tankstellen und Regale wegen Brexit und Corona, die Ausrichtung der Klimakonferenz COP26 in Glasgow oder auch die Frage, ob wegen steigender Infektionszahlen doch wieder Corona-Regeln eingeführt werden sollen.

Für Aufmerksamkeit sorgte vorübergehend das Vorhaben der Ampel-Parteien, das Wahlalter auf 16 zu senken. Die Zeitung «Guardian» verwies darauf, dass in Europa Jungwähler ansonsten nur in Österreich und auf den britischen Kronbesitzen Isle of Man und Guernsey ein solch geringes Alter haben dürfen. «Ein solcher Schritt auf nationaler Ebene könnte andere Länder dazu bringen, der größten Volkswirtschaft des Kontinents zu folgen», kommentierte das Blatt.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen MTS Money Transfer System – Sicherheit beginnt mit Eigentum.

In Zeiten wachsender Unsicherheit und wirtschaftlicher Instabilität werden glaubwürdige Werte wieder zum entscheidenden Erfolgsfaktor....

X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.

E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung sowie die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Finanzen
Finanzen Finanzmärkte im Fokus: Nokia profitiert von Nvidia-Deal und Technologie-Giganten setzen neue Rekorde
30.10.2025

Die Finanzmärkte zeigen aktuell eine Mischung aus leichten Rücksetzern und überraschenden Kursgewinnen. Während Anleger Zinssenkungen...

DWN
Politik
Politik Handelskrieg USA China: Trumps fataler Irrtum mit globalen Folgen
30.10.2025

Ein strategisches Planspiel in Washington zeigt, dass die USA den Wirtschaftskonflikt mit China längst hätten gewinnen können – wenn...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Inflation lässt nach: Aber weiter über zwei Prozent
30.10.2025

Die Inflation geht zurück, doch von Entlastung kann keine Rede sein. Zwar sinken die Preise für Energie leicht, dafür verteuern sich...

DWN
Finanzen
Finanzen EZB-Zinsentscheid: Eurozone trotzt Zöllen und politischer Krise
30.10.2025

EZB-Zinsentscheid: Die EZB hält an ihrer vorsichtigen Linie fest, während die US-Notenbank erneut überrascht. In Europa bleibt die...

DWN
Finanzen
Finanzen Digitaler Euro: EZB plant Einführung 2029
30.10.2025

Die EZB bereitet den digitalen Euro für 2029 vor. Verbraucher sollen künftig per Wallet bezahlen können, Bargeld bleibt erhalten. Europa...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Gen Z im Job: Moral und Motivation revolutionieren den Arbeitsmarkt
30.10.2025

Die Generation Z verändert die Arbeitswelt spürbar. Aufstiegsmöglichkeiten und klassische Karriereleitern stehen für sie nicht mehr...

DWN
Panorama
Panorama Atomwaffentests USA: Trump kündigt sofortigen Beginn an
30.10.2025

US-Präsident Donald Trump sorgt weltweit für Aufsehen: Er kündigt neue Atomwaffentests an, obwohl ein jahrzehntelanges Moratorium galt....

DWN
Unternehmen
Unternehmen VW-Aktie: Porsche reißt VW-Konzern in die roten Zahlen
30.10.2025

Ein Milliardenverlust erschüttert Volkswagen: Weil Porsche schwächelt, rutscht der Konzern tief ins Minus. Das gefällt den Anlegern gar...