Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Die Stimmung in den Chefetagen der deutschen Unternehmen hat sich im Oktober zum vierten Mal in Folge verschlechtert. Das geht aus dem aktuellen Ifo-Geschäftsklimaindex hervor. „Lieferprobleme machen den Firmen zu schaffen“, sagte Ifo-Präsident Clemens Fuest. Die Kapazitätsauslastung in der Industrie sinke. „Sand im Getriebe der deutschen Wirtschaft hemmt die Erholung“, erklärte der Fachmann.
Herr Ade, sehen Sie das auch noch so?
Holger Ade: Ja, das kann ich so bestätigen. Die Konjunktur ist nach den erheblichen Auswirkungen der Pandemie auf die Wirtschaft zwar sehr schnell wieder angesprungen. Doch haben wir zuletzt wieder eine deutliche Abkühlung gesehen, die man in manchen Bereichen als Vollbremsung bezeichnen kann. Der Automobilverband VDA war mit einer Wachstumsprognose für die Fahrzeugproduktion von 20 Prozent ins neue Jahr 2021 gestartet, musste diese Erwartungen im Laufe des Jahres aber sukzessive zurücknehmen. Zuerst reduzierte die Organisation ihre Prognose auf ein Wachstum von 13 Prozent und dann sogar auf eine Steigerung von lediglich drei Prozent. Schließlich hat der VDA vor kurzem sogar negative Erwartungen geäußert: Nun geht der Verband von einem Rückgang um 18 Prozent aus. Das ist ein bedenkliches Szenario, wenn man berücksichtigt, dass es bereits im vergangenen Jahr durch die Pandemie erhebliche Rückgänge gegeben hat.
Die Wende am Markt hat unserer Meinung nach ausschließlich ihre Ursachen in der Lieferkettenproblematik. Die Nachfrage ist zwar vorhanden, doch kann sie nicht bedient werden. Das Bild vom „Sand im Getriebe der deutschen Wirtschaft“, das Herr Fuest vom ifo-Institut benutzt, beschreibt die Situation sehr gut.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Ein wichtiger Grund, warum die Lieferketten gestört sind, ist der gravierende Mangel an Halbleitern. Gibt es darüber hinaus noch andere Faktoren?
Holger Ade: Wir haben bei unseren Lieferanten beobachtet, dass viele mit einer so schnellen Erholung nicht gerechnet haben. Es hat etwas gedauert, die Stahlwerke wieder so hochzufahren, bis sie die gestiegene Nachfrage wieder bedienen konnten. Mittlerweile dürfte sich dies bei den Stahlwerken aber wieder eingespielt haben. Allerdings kommen neue Herausforderungen hinzu. Beispielsweise ist in China die Stahlproduktion beeinträchtigt. Dabei können wir über die genauen Ursachen dafür nur spekulieren. Man hört, dass der chinesische Staat aus politischen Gründen die Produktion drosselt, um die Klimaziele zu erreichen. Es wird Energie rationiert, und bestimmte Dinge werden einfach gar nicht mehr produziert. Das merkt man jetzt noch gar nicht so sehr, doch dürfte sich dies in den kommenden Wochen noch stärker auswirken. Ob es aber wirklich die Klimaziele sind, die zur Drosselung der Produktion führen, oder aber andere Gründe eine Rolle spielen, wissen wir nicht zu hundert Prozent. Es kann auch sein, dass die Energie im Land derzeit knapp ist. Möglicherweise fehlt schlichtweg im Land die Kohle, um den Strom zu produzieren. Meine Einschätzung ist, dass der Kohlestreit, den China mit Australien führt, die Ursache dafür ist. Doch ganz genau lässt sich dies nicht sagen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sie haben gerade von der Kurzarbeit gesprochen, die Ihre Firmen in Anspruch genommen haben. Welche Rolle hat dieses staatliche Instrument, um die negativen Folgen der Pandemie abzufedern, in Ihrer Branche gespielt?
Holger Ade: Mit dem Ausklingen der wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie wurde sukzessive weniger darauf zurückgegriffen, nachdem es im Höhepunkt März bis Mai 2020 eine wichtige Rolle gespielt hat. Doch jetzt – mit der unerwarteten Vollbremsung der Autoindustrie - beobachten wir, dass die Firmen erneut verstärkt auf diese Form der staatlichen Unterstützung zurückgreifen müssen. Die Bundesregierung bietet den erleichterten Einsatz dieses Instruments bis zum Jahresende an. Wir finden aber, dass sie es noch ins Jahr 2022 verlängern sollte. Denn wir sehen derzeit nicht, dass sich die Bremsen, welche die Autoindustrie blockieren, so schnell wieder lösen werden. Übrigens haben unsere Firmen direkte staatliche Hilfen, die von der KfW angeboten worden sind, nur sehr wenig in Anspruch genommen. Da mag es einige Unternehmen gegeben haben, die sich einen Kreditrahmen gesichert haben, ohne dass aber größere Summe geflossen sind.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Norman Häring – ein Jurist und Insolvenzfachmann – hat bei uns im Interview gesagt, dass staatliche Hilfen wie die Kurzarbeit auch negative Folgen hätten. Denn dadurch seien derzeit viele Firmen aktiv, die es normalerweise gar nicht geben würde. Seiner Meinung nach werden sie nur durch die Hilfen künstlich am Leben erhalten. Sie könnten unseriöse Geschäftspartner sein, weil sie nach dem Wegfall der staatlichen Unterstützung möglicherweise ihre Rechnungen nicht zahlen.
Besteht dieses Problem auch bei Firmen Ihres Verbandes?
Holger Ade: Nein, grundsätzlich glaube ich nicht, dass der Einsatz der Kurzarbeit solche negativen Folgen hat. Dieses Instrument gibt den Unternehmen die Möglichkeit, das Personal an Bord zu halten, und die weitere konjunkturelle oder strukturelle Entwicklung zu beobachten. Auf dieser Grundlage kann die Firma dann entscheiden, wie groß die Kapazität in Zukunft sein muss. Dieses Instrument ist ein wichtiges Mittel für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, um ihre Arbeitsplätze zu halten. Es nützt aber auch gleichzeitig den Unternehmern.
Bei der Aussetzung der Insolvenzpflicht, die der deutsche Staat auch als Instrument eingesetzt hat, sehe ich die Probleme, die Herr Häring anspricht, durchaus. Dadurch kann sich schon die eine oder andere Marktbereinigung, die normalerweise eingetreten wäre, zeitlich verschoben haben.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welche Rolle spielt der Anstieg der Energiepreise für Ihre Unternehmen?
Holger Ade: Das betrifft die Branche natürlich unterschiedlich, weil nicht jedes Unternehmen denselben Energiebedarf hat und kostenseitig gleich aufgestellt ist. Doch gibt es Prozesse, die sehr viel Energie benötigen – beispielsweise, wenn das Vormaterial für die Umformung noch einmal erwärmt werden muss. Das kann für die Unternehmen, die solche Prozesse einsetzen, bei den derzeitigen hohen Energiepreise existenzgefährdend sein. Wenn eine Firma zum Beispiel einen Energiekostenanteil von fünf Prozent hat, der sich jetzt auf zehn Prozent verdoppelt, dann kann sie dies finanziell nicht leisten. Kein mittelständisches Zulieferunternehmen macht so viel Gewinn, dass es eine solche Verteuerung bewältigen kann. Diese Firmen erwirtschaften sofort Verluste. Deswegen haben wir so deutlich in der Öffentlichkeit Appelle adressiert – und zwar insbesondere an die Kunden. Wenn sich die Kosten bei den Zulieferern derart dramatisch verändern, muss man als Kunde auch bereit sein, entsprechend die Preise anzupassen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Das Fachportal „Marktundmaschine“ berichtet, dass unter den Firmen „die Angst umgeht“. Sind denn tatsächlich so viel Betriebe in ihrer Existenz bedroht?
Holger Ade: Ja, das kann man für die Unternehmen mit Sicherheit sagen, die jetzt Strom einkaufen müssen. Wenn sie bereits einen langfristigen Liefervertrag ausgehandelt haben, der beispielsweise bis 2022 oder darüber hinaus gilt, dann sind sie von dem Problem weniger betroffen. In der Regel legt sich ein mittelständisches Unternehmen, das 100 bis 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt, für ein bis drei Jahre fest. Doch ist der Einkauf von Strom grundsätzlich sehr individuell.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Stichwort „Grüner Wasserstoff“. Können Sie noch einmal erläutern, welche Probleme Sie bei diesem Thema für Ihre Branche sehen?
Holger Ade: Der Grüne Wasserstoff ist grundsätzlich eine mögliche Lösung für die Zukunft. Doch so, wie sich die Bundesregierung das derzeit in ihrer Strategie vorstellt, wird diese Form von Energie für unsere Branche erst einmal nur schwer zur Verfügung stehen. Wir glauben nicht, dass unsere Unternehmen bis 2030 damit versorgt werden. Bis zu diesem Zeitpunkt werden wohl die Firmen der Stahl- und die Chemieindustrie die ersten sein. Als nächstes kommt wahrscheinlich die Automobilbranche an die Reihe. Deren Vertreter argumentieren, dass für den Fahrzeugbestand synthetische Kraftstoffe benötigt werden, die wiederum mit Erneuerbarer Energie hergestellt werden müssten. Das bedeutet, dass wir von der Metall- und Stahlverarbeitung möglicherweise erst weit nach 2030 zum Zuge kommen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welche Probleme sehen Sie noch?
Holger Ade: Eine andere Option, um die Klimaziele zu erreichen, ist die verstärkte Produktion von Grünem Strom. Wenn die Bundesregierung diese Form von Energie erfolgreich einsetzen will, muss der Strompreis aber auch so niedrig sein, dass ihn die Betriebe bezahlen können. Dieser muss zudem auf einem verlässlichen Niveau bleiben. Das bedeutet, dass er zwar mitunter gewissen Schwankungsbreiten unterliegen kann. Doch darf der Preis keine großen Spitzen aufweisen. Jetzt ist die Frage, ob der bisherige Ausbau der Erneuerbaren Energien ausreicht, um bis 2030 oder perspektivisch bis 2045 wirklich die gesamte Industrie auf Grünem Strom umzustellen. Die Ausbaugeschwindigkeit der Erneuerbaren Energien muss entsprechend angepasst werden. Zudem ist es notwendig, die Stromnetze sehr viel schneller zu errichten. Darüber hinaus muss ein Strompreis geschaffen werden, der wettbewerbsfähig ist. Die gesamten staatlichen Kosten, die derzeit den Strompreis verteuern, sollten abgeschafft werden. Das heißt, wir müssen ein anderes Finanzierungsmodell finden. Aus unserer Sicht sollte es einen festen Industriestrompreis geben. Dies kann allerdings aus wettbewerbsrechtlichen Gründen nur innerhalb der EU geregelt werden. Aus unserer Sicht gehört dieses Thema auf die europäische Agenda.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie wird sich die deutsche Wirtschaft künftig entwickeln?
Holger Ade: Wir haben uns bisher positiv entwickelt. Bis einschließlich August haben wir noch zweistellige Zuwachsraten zu verzeichnen. Doch sehen wir ein sehr schwaches viertes Quartal. Trotzdem werden wir 2021 gegenüber dem schwachen 2020er-Corona-Jahr noch im Plus abschließen. Wir rechnen mit einem Wachstum bei der Produktion um fünf Prozent. Die weitere Entwicklung für das Jahr 2022 wird eher positiv sein. Dann werden sich die derzeit „etwas fest gefahrenen Bremsen“ in der Wirtschaft wahrscheinlich wieder lösen. Dies kann im zweiten Halbjahr 2022 möglich sein. Es werden Nachholeffekte zu beobachten sein. Alles, was jetzt nicht produziert werden kann, wird dann hergestellt werden. Wir erwarten deutlich positivere Zahlen und ein wesentlich besseres Wachstum als 2021.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herr Ade, herzlichen Dank für das Gespräch.
Zur Person: Diplom-Kaufmann Holger Ade ist Leiter Industrie- und Energiepolitik des WSM Wirtschaftsverbandes Stahl- und Metallverarbeitung.