Finanzen

Europäischer Gerichtshof: Zentralbank-Präsidenten verlieren bei Korruptionsvorwürfen Immunität

Lesezeit: 4 min
01.12.2021 12:17  Aktualisiert: 01.12.2021 12:17
Der Europäische Gerichtshof hat geurteilt, dass die Immunität von EU-Zentralbankern aufgehoben werden darf, wenn Betrugs-, Korruption-, oder Geldwäschevorwürfe vorliegen.

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Mit einem bahnbrechenden Urteil hat der Europäische Gerichtshof die Macht von Zentralbankern beschnitten. Dem Urteil vom 30.11.2021 (Rechtssache C-3/20) zufolge darf die Immunität von Zentralbankpräsidenten innerhalb der EU aufgehoben werden, wenn Korruptionsvorwürfe vorliegen. Betrug, Geldwäsche und Korruption gehören dem Urteil zufolge nicht zu den amtlichen Handlungen eines Zentralbank-Chefs gehören und widersprechen den Interessen der EU.

Die Presseerklärung zum Urteil im Wortlaut:

Im Juni 2018 erhob die lettische Staatsanwaltschaft beim Rīgas rajona tiesa (Bezirksgericht Riga, Lettland) gegen den Präsidenten der Zentralbank Lettlands (im Folgenden: AB) Anklage wegen verschiedener Korruptionsdelikte. Konkret wird AB vorgeworfen, zwei Bestechungsgeschenke im Zusammenhang mit einem aufsichtsrechtlichen Verfahren betreffend eine lettische Bank angenommen und das aus einem dieser Bestechungsgeschenke stammende Geld gewaschen zu haben. Als Präsident der Zentralbank Lettlands war AB, dessen letzte Amtszeit als Zentralbankpräsident im Dezember 2019 endete, auch Mitglied des Erweiterten Rates und des Rates der Europäischen Zentralbank (EZB).

In Anbetracht dieser Besonderheit hat das Bezirksgericht Riga Zweifel, ob AB aufgrund seiner Eigenschaft als Mitglied des Erweiterten Rates und des Rates der EZB Immunität nach Art. 11 Buchst. a des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union1 in Anspruch nehmen kann, der den Beamten und sonstigen Bediensteten der Union für alle in amtlicher Eigenschaft vorgenommenen Handlungen eine Befreiung von der Gerichtsbarkeit gewährt. Das Bezirksgericht Riga beschloss daher, dem Gerichtshof die Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen und nach welchen Modalitäten der Präsident einer Zentralbank eines Mitgliedstaats die Befreiung von der Gerichtsbarkeit nach dem Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen im Rahmen eines Strafverfahrens gegen ihn in Anspruch nehmen kann.

Würdigung durch den Gerichtshof

Unter Hinweis darauf, dass alle Präsidenten der Zentralbanken der Mitgliedstaaten Mitglieder des Erweiterten Rates der EZB sind und dass die Präsidenten der Zentralbanken der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, außerdem Mitglieder des Rates der EZB sind, hat der Gerichtshof (Große Kammer) zunächst festgestellt, dass das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen nach seinem Art. 22 für die EZB, die Mitglieder ihrer Beschlussorgane und ihre Bediensteten gilt. Folglich ist dieses Protokoll auf die Präsidenten der Zentralbanken der Mitgliedstaaten als Mitglieder zumindest eines der Organe der EZB anwendbar.

In diesem Rahmen können die Präsidenten der Zentralbanken insbesondere die in Art. 11 Buchst. a des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen vorgesehene Befreiung von der Gerichtsbarkeit für die von ihnen in amtlicher Eigenschaft als Mitglieder eines Organs der EZB vorgenommenen Handlungen in Anspruch nehmen. Nach dieser Bestimmung gilt diese Befreiung von der Gerichtsbarkeit für diese Zentralbankpräsidenten auch nach Beendigung ihrer Amtstätigkeit. Was den Zweck und den Umfang des in Art. 11 Buchst. a des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen vorgesehenen Schutzes anbelangt, hat der Gerichtshof sodann darauf hingewiesen, dass nach Art. 17 Abs. 1 dieses Protokolls die Befreiung von der Gerichtsbarkeit ausschließlich im Interesse der Union gewährt wird. Art. 17 Abs. 2 dieses Protokolls setzt diesen Grundsatz um, indem er vorsieht, dass jedes Organ der Union diese Befreiung in allen Fällen aufzuheben hat, in denen dies nach seiner Auffassung den Interessen der Union nicht zuwiderläuft.

Somit obliegt es allein der EZB, wenn sie mit einem Ersuchen um Aufhebung der Befreiung eines Präsidenten einer Zentralbank von der Gerichtsbarkeit im Hinblick auf ein laufendes nationales Strafverfahren befasst ist, zu beurteilen, ob die Aufhebung der Befreiung den Interessen der Union zuwiderläuft. Dagegen teilen die EZB und die für das Strafverfahren gegen einen Präsidenten einer nationalen Zentralbank zuständige Behörde die Zuständigkeit für die Feststellung, ob etwaige strafbare Handlungen von dem Zentralbankpräsidenten in amtlicher Eigenschaft als Mitglied eines Organs der EZB vorgenommen wurden und daher in den Anwendungsbereich der in Art. 11 Buchst. a des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen vorgesehenen Befreiung von der Gerichtsbarkeit fallen.

Zu den Modalitäten dieser Aufteilung der Zuständigkeiten hat der Gerichtshof klargestellt, dass dann, wenn die für das Strafverfahren zuständige Behörde feststellt, dass die betreffenden Handlungen von dem Zentralbankpräsidenten offenkundig nicht in seiner Eigenschaft als Mitglied eines Organs der EZB vorgenommen wurden, das Verfahren gegen ihn fortgesetzt werden kann, da die Befreiung von der Gerichtsbarkeit dann nicht zur Anwendung kommt. Dies ist der Fall bei vom Präsidenten einer Zentralbank eines Mitgliedstaats vorgenommenen Betrugs-, Korruptions oder Geldwäschehandlungen, die zwangsläufig aus dem Bereich der Amtstätigkeit eines Beamten oder sonstigen Bediensteten der Union fallen. Stellt die nationale Behörde dagegen in irgendeinem Stadium des Strafverfahrens fest, dass die betreffenden Handlungen von dem betreffenden Zentralbankpräsidenten in amtlicher Eigenschaft als Mitglied eines Organs der EZB vorgenommen wurden, muss sie um Aufhebung der Befreiung von der Gerichtsbarkeit ersuchen.

Hat die nationale Behörde insoweit Zweifel, so hat sie die EZB zu konsultieren und, falls diese der Ansicht ist, dass die Handlungen in amtlicher Eigenschaft vorgenommen wurden, um Aufhebung der Befreiung des betreffenden Zentralbankpräsidenten zu ersuchen. Solchen Ersuchen um Aufhebung der Befreiung ist stattzugeben, es sei denn, es steht fest, dass die Interessen der Union dem entgegenstehen. Die Beachtung dieser Aufteilung der Zuständigkeiten unterliegt im Übrigen einer Kontrolle durch den Gerichtshof, bei dem eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV erhoben werden kann, wenn die nationalen Behörden ihre Verpflichtung verletzt haben, das betreffende Unionsorgan zu konsultieren, wenn nicht alle Zweifel bezüglich der Anwendbarkeit der Befreiung von der Gerichtsbarkeit vernünftigerweise ausgeschlossen werden können. Umgekehrt kann, wenn das zuständige Unionsorgan die Aufhebung der Befreiung ablehnt, die Gültigkeit dieser Ablehnung Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof oder einer Klage des betreffenden Mitgliedstaats nach Art. 263 AEUV sein.

Zur Tragweite der Befreiung von der Gerichtsbarkeit nach Art. 11 Buchst. a des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen hat der Gerichtshof klargestellt, dass diese Befreiung nicht der Strafverfolgung insgesamt, namentlich nicht den Ermittlungsmaßnahmen, der Erhebung von Beweisen und der Zustellung der Anklageschrift, entgegensteht. Wird jedoch bereits im Stadium der Ermittlungen der nationalen Behörden und vor Anrufung eines Gerichts festgestellt, dass der Beamte oder sonstige Bedienstete der Union die Befreiung von der Gerichtsbarkeit für die Handlungen in Anspruch nehmen kann, die Gegenstand der strafrechtlichen Verfolgung sind, ist es Sache dieser Behörden, beim betreffenden Unionsorgan um Aufhebung der Befreiung zu ersuchen. Im Übrigen steht diese Befreiung, da sie dem betroffenen Beamten oder sonstigen Bediensteten der Union nur für eine bestimmte Handlung zusteht, der Verwendung der während der polizeilichen oder justiziellen Ermittlungen gegen einen solchen Beamten oder sonstigen Bediensteten erhobenen Beweise in anderen Verfahren, die andere, nicht unter die Befreiung fallende Handlungen betreffen oder sich gegen Dritte richten, nicht entgegen.

Schließlich hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass – auch wenn die Befreiung von der Gerichtsbarkeit nicht zur Anwendung kommt, wenn die Person, der diese Befreiung zusteht, in einem Strafverfahren Handlungen beschuldigt wird, die nicht im Rahmen der Aufgaben vorgenommen wurden, die sie für ein Organ der Union wahrnimmt – eine missbräuchliche nationale Strafverfolgung wegen nicht unter diese Befreiung fallender Handlungen, um Druck auf den betreffenden Bediensteten der Union auszuüben, in jedem Fall gegen den in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verstoßen würde.


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