Deutschland

Teure Energie droht die Gesellschaft zu spalten

Energie wird in Deutschland noch über Jahre teuer bleiben. Die dafür verantwortlichen Politiker warnen bereits vor den drohenden sozialen Spannungen.
09.07.2022 16:10
Aktualisiert: 09.07.2022 16:10
Lesezeit: 3 min
Teure Energie droht die Gesellschaft zu spalten
Laut Vizekanzler Robert Habeck droht Deutschland eine "Zerreißprobe, die wir lange so nicht hatten". (Foto: dpa) Foto: Michael Kappeler

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) geht davon aus, dass Maßnahmen gegen Energieknappheit auch über den kommenden Winter hinaus notwendig sein werden. In einer am Samstag veröffentlichten Videobotschaft sagte der Kanzler: «In diesen Tagen beschäftigt uns die Sicherheit unserer Energieversorgung. Sie wird es noch die nächsten Wochen, Monate und auch Jahre.»

Es ist nicht die erste Warnung von Scholz in dieser Woche. Am vergangenen Montag hatte er die Bürger bereits auf eine lang anhaltende Krise mit hohen Preisen eingestimmt.

Ähnlich äußerte sich auch Bundesnetzagentur-Chef Klaus Müller. «Auch wenn wir in keine Gasnotlage kommen, bleibt das Gas teuer», sagte Müller dem Nachrichtenmagazin «Focus». Dabei seien die Folgen der aktuellen Gasknappheit preislich bei den Verbrauchern noch gar nicht angekommen. «Das kann für eine Familie schnell eine Mehrbelastung von 2000 bis 3000 Euro im Jahr bedeuten. Da ist die nächste Urlaubsreise oder die neue Waschmaschine dann oft nicht mehr drin.» Deutschland drohe eine «Gasarmut».

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, warnte vor einer «sozialen Zerreißprobe». Bewegungen wie die Gelbwesten in Frankreich seien auch in Deutschland möglich, sagte Fratzscher dem «Handelsblatt». «Die gegenwärtige Krise könnte der letzte Tropfen sein, der das Fass der zunehmenden sozialen Spaltung zum Überlaufen bringt.» Der DIW-Chef forderte höhere Löhne und eine dauerhafte Anhebung der Sozialleistungen. Die Politik sollte nicht versuchen, «mit Placebos wie Einmalzahlungen Menschen ruhig zu stellen».

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sprach im Interview mit dem Deutschlandfunk ebenfalls von einer drohenden «Zerreißprobe». Sollte das «Albtraum-Szenario» einer Gas-Unterversorgung Realität werden, rechne er mit heftigen Debatten, sagte Habeck. «Das wird Deutschland vor eine Zerreißprobe stellen, die wir lange so nicht hatten», fügte er hinzu. «Das wird die gesellschaftliche Solidarität bis an die Grenze und wahrscheinlich darüber hinaus strapazieren.»

Linke-Parteichef Martin Schirdewan forderte im Gespräch mit der Funke Mediengruppe eine gezielte Unterstützung einkommensschwacher Haushalte mit einem «sozialen Klimabonus» von 125 Euro pro Monat plus 50 Euro für jedes weitere Haushaltsmitglied. Außerdem sprach er sich für eine Deckelung der Energiepreise aus, «damit die Leute im nächsten Winter noch heizen und Fernsehen gucken können». Finanziert werden solle dies durch eine Übergewinnsteuer.

Appellen zum Energiesparen erteilte Schirdewan eine Absage. «Ich rate den Leuten, nicht auf die Verzichtspropaganda hereinzufallen», sagte er. «Es kann nicht darum gehen, weniger zu heizen oder kälter zu duschen.»

Netzagentur-Chef Müller erneuerte dagegen mit Blick auf eine drohende Mangellage in Herbst und Winter den Aufruf, Energie und damit Gas zu sparen. «Jede noch so kleine Maßnahme zählt», sagte er dem Focus. «Ich verstehe, dass da manche jetzt drüber lachen. Wenn sie die nächste Gasrechnung bekommen, wird ihnen das Lachen aber vergehen.»

Sollte die Bundesregierung die dritte und letzte Stufe im Notfallplan Gas ausrufen, agiert die Bundesnetzagentur als Bundeslastverteiler - sie entscheidet also, wer wie viel Gas bekommt. Sogenannte geschützte Kunden, darunter auch private Haushalte, haben dann Vorrang. Viele Unternehmen, etwa in der Industrie, erhalten dann aber möglicherweise kein Gas mehr. «Wer nicht aus Solidarität oder im Sinne des Klimaschutzes Gas sparen will, sollte an die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes denken», sagte Müller.

Verschärft wird die Debatte durch die Angst um ein Ende der Gaslieferungen aus Russland. Am Montag (11. Juli) sollen jährliche Wartungsarbeiten an der Ostseepipeline Nord Stream 1 beginnen, die in der Regel zehn Tage dauern. Die große Sorge ist, dass Russland nach der Wartung den Gashahn nicht wieder aufdreht. Das wäre der «Supergau», sagte Peter Adrian, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK). «Viele Betriebe müssten ohne Gas-Bezug ihre Produktion einstellen. Wenn dieser Fall eintritt, dann befürchte ich ganz klar eine Rezession.»

Hinzu käme das Problem von Engpässen, so Adrian weiter. Es gebe Firmen, die beispielsweise zur Herstellung von Schläuchen für Dialysegeräte Gas bräuchten. «Aus den bisherigen Informationen wissen diese Unternehmen nicht, was mit ihnen passiert. Aber wenn solchen Betrieben im Winter der Gashahn zugedreht wird, dann werden wir auch in der Gesundheitsversorgung sehr schnell Engpässe erleben. Es gibt Tausende solcher Beispiele, wo Wechselwirkungen oder mögliche Kettenreaktionen im Vorhinein nicht richtig bedacht werden können.»

Bundeskanzler Scholz betonte am Samstag in seiner Botschaft, die Bundesregierung habe bereits binnen kurzer Zeit viele Entscheidungen getroffen, damit Deutschland gut vorbereitet sei «auf Mangellagen, etwa wenn es um Gas geht». Er sagte: «Wir bauen Pipelines, Flüssiggasterminals. Wir sorgen dafür, dass eingespeichert wird in unsere Gasspeicher. Und wir sorgen dafür, dass jetzt Kohlekraftwerke genutzt werden, damit wir Gas sparen.»

Auf lange Sicht werde es aber darum gehen, unabhängig zu werden vom Import von Öl, Kohle und Gas und den Anteil der erneuerbaren Energien auszubauen. «Das machen wir mit vielen Gesetzen, die gerade in dieser Woche beschlossen worden sind», sagte der Kanzler. Dies geschehe in einem Tempo, «wie es bisher noch nicht in Deutschland gesehen worden ist, und das ist notwendig».

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Medienkrieg: Warum Paramount Skydance das Netflix-Angebot sprengt
10.12.2025

Ein Übernahmekampf erschüttert die US-Medienbranche, weil Paramount Skydance das vermeintlich entschiedene Rennen um Warner Bros....

DWN
Unternehmen
Unternehmen Volkswagen beendet Fahrzeugproduktion: Umbaupläne für Gläserne Manufaktur in Dresden
10.12.2025

Die VW-Fahrzeugproduktion in Dresden endet aus wirtschaftlichen Gründen nach mehr als 20 Jahren. Über die Zukunft des ehemaligen...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Jobabbau bei BASF und Co.: Deutsche Chemie-Industrie historisch schlecht ausgelastet
10.12.2025

Teure Energie, Wirtschaftskrise und Preisdruck: Die deutsche Chemiebranche steckt in der schwierigsten Krise seit 25 Jahren. Auch 2026...

DWN
Politik
Politik Schutz vor Einschüchterung: Bundesregierung beschließt besseren Schutz vor Schikane-Klagen
10.12.2025

Die Bundesregierung schützt Journalisten, Wissenschaftler und Aktivisten künftig besser vor sogenannten Schikane-Klagen. Mit dem Vorhaben...

DWN
Finanzen
Finanzen Kapitalmarkt 2026: Mehr Börsengänge in Deutschland und Europa erwartet
10.12.2025

Mit Ottobock, TKMS und Aumovio zählen drei deutsche Börsendebüts zu den gewichtigsten in Europa im laufenden Jahr. Doch viele...

DWN
Finanzen
Finanzen Weihnachtsfeier steuerlich absetzen: So gelingt es – Tipps vom Steuerberater
10.12.2025

Viele Unternehmen möchten ihre Weihnachtsfeier steuerlich absetzen und gleichzeitig die Kosten im Blick behalten. Eine gut geplante Feier...

DWN
Politik
Politik „Reichsbürger“-Verfahren: Prinz Reuß wird zu Vorwürfen sprechen
10.12.2025

Der mutmaßliche „Reichsbürger“ Heinrich XIII. Prinz Reuß wird zu den Vorwürfen eines geplanten „Staatsstreichs“ Stellung...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft KI-Blase: Warum die Rekordausgaben der Tech-Giganten zum Risiko werden
10.12.2025

Die Tech-Konzerne pumpen Milliarden in künstliche Intelligenz und treiben ihre Investitionslast auf historische Höhen. Doch aus dem...