Mit der Sprengung von Nordstream 1 und Nordstream 2 und der Weigerung der deutschen Regierung, deren letzte verbleibende intakte Röhre in Betrieb zu nehmen, ist eine De-Industrialisierung Deutschlands unausweichlich geworden. Die geopolitischen Folgen dieses Prozesses werden weitreichend sein. Während sich die USA als der große Profiteur dieser Entwicklung sehen, stehen der Euro und die EU in ihrer jetzigen Form nun vor dem Scheitern. Selbst Kriege innerhalb des Gebietes der heutigen EU können dann nicht mehr ausgeschlossen werden. Eine Analyse.
Warschau und Washington profitieren
Der US- amerikanische Außenminister Antony Blinken hält die Sprengung der Erdgaspipelines für eine „tremendous opportunity“, eine enorme Gelegenheit – und damit dürfte er Recht behalten. Nicht nur werden zahlreiche Industrien aufgrund nun unbezahlbarer Gaspreise aus Deutschland abwandern und ihren Hauptsitz möglicherweise in die USA verlegen. Es ist auch damit zu rechnen, dass unzählige mittelständische Unternehmen Konkurs anmelden müssen.
Anschließend können sie, samt Patenten und Knowhow, aufgekauft und filetiert werden. Viele von diesen Betrieben sind „hidden champions“ (unbemerkte Weltmarktführer) – und davon hat Deutschland laut Forbes 1307 – weit mehr als jedes andere Land der Welt. Wer immer hinter den Anschlägen auf Nordstream steckt – es sollte ihm gelungen sein, das deutsche Wirtschaftsmodell zu zerstören und der deutschen Wirtschaft das Rückgrat zu brechen.
Gerade bei der Kappung der Ströme billigen Erdgases nach Deutschland wird aber auch deutlich, wie sehr der Wirtschaftskrieg, der inzwischen auch mit militärischen Mitteln geführt wird – sollte man die Sprengung der Pipelines als militärische Aktion begreifen - mit den geopolitischen Ambitionen anderer Akteure verzahnt ist. Zu diesen gehört unter anderem auch Polen. Während Russland nun vor einer Investitionsruine steht und sich eines potentiellen Druckmittels – nämlich den Gashahn gegebenenfalls auf- und zudrehen zu können – beraubt sieht, bekommt Polen, durch dessen Territorium die temporär nicht operative Jamal- Pipeline verläuft, nun seinerseits ein potentielles Druckmittel gegen Deutschland in die Hand, das nun von einem großen Teil seiner direkten Gasversorgung abgeschnitten ist. Die erneut – sicherlich nicht zufällig am Tag der deutschen Einheit - vorgetragenen polnischen Reparationsforderungen gegen Deutschland bieten einen Vorgeschmack auf das, was noch alles kommen kann.
Nachteile für die EU
Dabei dürfte die bevorstehende De-Industrialisierung Deutschlands auch eine Schwächung der EU nach sich ziehen, da nun ihr wichtigster Geldgeber ins Straucheln gerät. Ein schwaches Zentrum aber kann keine bindende Kraft mehr entfalten. Zentrifugalkräfte an der Peripherie des Staatenbundes dürften stärker werden und die EU in ihrer jetzigen Form auseinanderreißen.
Ein besonderes Augenmerk verdient in diesem Zusammenhang die Drei-Meeres-Initiative, die auf maßgebliches Bestreben Polens hin im Jahr 2016 gegründet wurde und inzwischen 13 mittel- und osteuropäische Staaten umfasst. Mit ihr kristallisiert sich ein Gegengewicht zum alten, „karolingischen“ Europa heraus, dessen wichtigste Achse zwischen Paris und Berlin zunehmend brüchig erscheint.
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Geographisch betrachtet bilden die Länder der Drei-Meeres-Initiative einen effektiven Sperrriegel zwischen Russland und Deutschland und können potentiell auch die Entwicklung der „Neuen Seidenstraße“, die nicht nur aber vor allem den eurasischen Wirtschaftsraum zu erschließen trachtet, beeinträchtigen. So nimmt es nicht Wunder, dass die USA diese Entwicklung mit Wohlwollen betrachten. Washington und auch London dürften versuchen, vor allem Polen als Antagonisten Deutschlands aufzubauen. Dies dürfte vor allem durch die Zerschlagung der deutschen Wirtschaft zu bewerkstelligen sein. Denn je schwächer Deutschland wird, desto stärker wird – im Verhältnis – automatisch Polen.
Damit droht Europa in eine Lage zurückzufallen, die es in ähnlicher Form vor den beiden Weltkriegen bereits gegeben hat. Großbritannien, das die EU – möglicherweise ja in weiser Vorausahnung – bereits verlassen hat, kann bereits als ein Alliierter Polens betrachtet werden, während es gleichzeitig bestrebt ist, engere Bande zu den USA und Commonwealth-Staaten wie Australien zu knüpfen.
Rettungsanker Frankreich?
Deutschland, umringt von zahlreichen Nachbarn, liefe Gefahr, in eine geopolitische Zange genommen zu werden, wäre von bezahlbarem Erdgas abgeschnitten und dürfte darüber hinaus seine Beziehungen zu Russland auf absehbare Zeit zerstört haben. In einer solchen Situation wäre für Deutschland eine engere Anbindung an Frankreich möglicherweise ein Rettungsanker. Dies würde allerdings voraussetzen, dass sich die europäischen Staaten aus ihrer Abhängigkeit von den USA befreien und eigenständige Interessen verfolgen. Tun sie es nicht, dürfte die EU, oder was demnächst noch von ihr übrig ist, weltpolitisch in der Bedeutungslosigkeit versinken. Als de-industrialisiertes Anhängsel Eurasiens wird sie weder mit China, noch mit den USA, noch demnächst mit Indien auf Augenhöhe verhandeln können.
Vor diesem Hintergrund zeigt der Ukraine-Krieg auch ein kolossales Versagen der europäischen Diplomatie. Deutschland und Frankreich hätten auf einer Umsetzung der Minsker Abkommen bestehen müssen, anstatt sich den amerikanischen und britischen Interessen bedingungslos unterzuordnen. Denn der Krieg, den die Nato – sagen wir es offen – auf dem Territorium der Ukraine gegen Russland führt, richtet sich gleichzeitig auch gegen Deutschland.
Dieses Militärbündnis war ja, um es mit den Worten seines ersten Generalsekretärs Baron Hastings Ismay zu sagen, gegründet worden, um „die Russen draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten zu halten". Die Frage ist allerdings, inwieweit das Denken in den Schablonen des 19. und 20. Jahrhunderts einer Welt noch gerecht wird, in der sich die Machtachsen immer mehr in Richtung Asien verschieben. Die De-Industrialisierung Deutschlands und der Zerfall der EU dürften diesen Prozess weiter beschleunigen. Die Anschläge vom 26. September werden in diesem Zusammenhang in die Geschichte eingehen: Weniger als Wendepunkt als viel mehr als Sinnbild für den Verfall des westlichen Europas.