Ein neuartiges Antikörper-Medikament verlangsamt einer Studie zufolge das Fortschreiten von Alzheimer. Das berichtet ein internationales Wissenschaftler-Team nach der Untersuchung von knapp 1800 Patienten im frühen Stadium der Demenz-Erkrankung im „New England Journal of Medicine“.
Der Antikörper Lecanemab könne Alzheimer nicht heilen oder aufhalten, aber den geistigen Abbau relevant verlangsamen, urteilt der deutsche Alzheimer-Forscher Frank Jessen vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), der nicht an der Studie beteiligt war. Er spricht von einem „historischen Meilenstein in der Alzheimer-Forschung“.
Alzheimer ist die häufigste Form von Demenz, nach Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft leben in Deutschland rund 1,8 Millionen Menschen mit Demenz, die meisten von ihnen haben Alzheimer. Es kommt dabei zu einem Absterben von Nervenzellen im Gehirn, was zu Vergesslichkeit, Verwirrtheit, Sprachstörungen oder Orientierungslosigkeit führt. Die Krankheit schreitet langsam fort, so dass der Alltag für die Betroffenen zunehmend schwerer zu bewältigen wird. Charakteristisch für die Erkrankung sind Ablagerungen von Eiweißen im Gehirn Jahre bevor erste Symptome auftreten.
Antikörper-Therapie könnte Alzheimer-Folgen lindern
Die Sicherheit der Behandlung müsse in längeren Studien weiter untersucht werden, schreiben die Forscher. Sie berichten von Nebenwirkungen wie Hirnschwellungen und Mikroblutungen im Gehirn. Todesfälle seien als Folge der Behandlung nicht aufgetreten.
Vor wenigen Tagen erschien allerdings im Fachmagazin „Science“ ein Beitrag über einen Todesfall im Zusammenhang mit der Therapie, insgesamt sei es der zweite. Dies müsse man sehr genau beobachten, sagte Jessen. Er könne sich vorstellen, dass es bei einer Zulassung Beschränkungen für bestimmte Patientengruppen gebe, etwa für Menschen mit erhöhter Blutungsneigung.
In den USA wird Lecanemab bereits in einem beschleunigten Zulassungsverfahren geprüft. Auch in Japan und Europa ist ein Antrag auf Marktzulassung bis Ende März 2023 geplant. Lecanemab wird von dem US-Unternehmen Biogen zusammen mit dem japanischen Pharmaunternehmen Eisai entwickelt.
Der Antikörper Lecanemab fängt im Gehirn der Patienten das Eiweiß Amyloid-beta (Abeta) ein, das sich dort in Form sogenannter Plaques ablagert. Diese Plaques sind ein maßgebliches Kennzeichen von Alzheimer und gelten als Mitursache der Erkrankung.
Erste Studie mit Lecanemab gibt Grund zur Hoffnung
In die Studie wurden 1795 Menschen im Frühstadium von Alzheimer eingeschlossen – eine Hälfte bekam in zweiwöchentlichem Abstand den Antikörper, die andere ein unwirksames Scheinmedikament. Die Studie wurde an 235 Zentren in Nordamerika, Europa und Asien durchgeführt. Die Forschenden prüften in regelmäßigen Abständen den Verlauf der Erkrankung und testeten etwa die Gedächtnisleistung, das Orientierungsvermögen und die Problemlösekompetenz der Patienten.
Bei den Patienten, die den Antikörper bekommen hatten, verlangsamte sich der Abbau der geistigen Fähigkeiten um durchschnittlich 27 Prozent: Sie schnitten also bei den Tests nach 18 Monaten besser ab als die Probanden der Kontrollgruppe. Allerdings war auch bei den mit Lecanemab behandelten Menschen die Krankheit vorangeschritten.
„Diese Effektstärke liegt im Rahmen dessen, was man in der Alzheimer-Forschung zuvor für ein ausreichend wirksames Medikament festgelegt hatte“, sagt Jessen. Mit dieser Studie sei erstmals überzeugend gezeigt worden, dass sich mit einer Behandlung, die an einer der Ursachen der Erkrankung ansetzt, eine Verzögerung des klinischen Fortschreitens erreichen lasse.
Weitere Forschung an Alzheimer notwendig
„Die Ergebnisse stimmen vorsichtig optimistisch“, sagt auch Linda Thienpont, Leiterin Wissenschaft bei der Alzheimer Forschung Initiative. „Lecanemab greift in die Mechanismen der Alzheimer-Krankheit ein und reduziert nicht nur die schädlichen Amyloid-Ablagerungen, sondern verzögert auch den Krankheitsverlauf. Das ist das ausschlaggebende Kriterium für die Patientinnen und Patienten - und das hat bisher noch kein Wirkstoff geschafft.“ Die Verbesserung der Kognition sei allerdings nur sehr moderat. Es sei fraglich, wie stark dieser Effekt für Betroffene spürbar sei und tatsächlich im Alltag einen Unterschied mache. Menschen mit fortgeschrittenem Krankheitsverlauf würden zudem von der Antikörper-Behandlung nicht profitieren.
Thienpont betont – auch mit Blick auf die beiden berichteten Todesfälle –, dass genau abgewogen werden müsse, ob Nutzen und Risiken in einem vertretbaren Verhältnis stehen. „Im Falle einer Zulassung des Medikaments wird eine engmaschige ärztliche Kontrolle bei der Behandlung nötig sein. Es muss außerdem genauer eingegrenzt werden, welche Patientinnen und Patienten für eine Behandlung in Frage kommen.“
Es sei zudem wichtig, auch andere Forschungsansätze zu verfolgen, die sich mit weiteren Merkmalen der Erkrankung beschäftigen, etwa Ablagerungen des Tau-Proteins oder entzündliche Prozesse, so Thienpont. „Denn wir werden die Alzheimer-Krankheit vermutlich nicht mit einem Wirkstoff heilen können, sondern es werden Kombinationstherapien gebraucht, die individuell an unterschiedlichen Krankheitsmechanismen ansetzen.“