Politik

Nord Stream: Westliche Beamte zweifeln an Russlands Schuld

Lesezeit: 7 min
27.12.2022 15:43
Laut Washington Post bezweifeln westliche Beamte, dass der Kreml für die Nord Stream-Sprengungen verantwortlich ist. Die Ermittler tappen währenddessen weiter im Dunkeln.
Nord Stream: Westliche Beamte zweifeln an Russlands Schuld
Rohrsysteme und Absperrvorrichtungen in der Gasempfangsstation der Ostseepipeline Nord Stream 1. (Foto: dpa)
Foto: Jens Büttner

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Seit der Sabotage an den Nord Stream Pipelines Ende September steht immer noch nicht fest, wer für den Anschlag verantwortlich ist. Nun bezweifeln westliche Beamte, dass der Kreml verantwortlich ist. Ende September gab es Explosionen an den Pipelines Nord Stream 1 und 2. Die Pipelines wurden schwer beschädigt. Russland war sich bezüglich der Verantwortlichkeit bereits drei Tage nach der Sprengung sicher und beschuldigte die USA an den Explosionen schuld zu sein.

Stimmen der Skeptiker an Russlands Schuld häufen sich

Die westlichen Staats- und Regierungschefs legten sich ihrerseits zum gleichen Zeitpunkt fest und machten Moskau schnell für die Explosionen entlang der Erdgaspipelines verantwortlich. Sie beschuldigten den Kreml eines dreisten und gefährlichen Sabotageakts. Ihre Begründung damals: Angesichts des nahenden Winters schien es, als wolle der Kreml die Energieversorgung von Millionen Menschen auf dem ganzen Kontinent abwürgen, ein Akt der „Erpressung“, wie einige Staats- und Regierungschefs meinten, der die Länder dazu bringen sollte, ihre finanzielle und militärische Unterstützung für die Ukraine einzustellen. Belege für diese Behauptung gibt es bis heute nicht.

Doch nun, nach monatelangen Ermittlungen ändert sich laut der Washington Post die Stimmung mehr und mehr. So sagen zahlreiche Beamte insgeheim, dass Russland möglicherweise doch nicht die Schuld an dem Angriff auf die Nord Stream-Pipelines trägt. Entsprechend erklärte ein europäischer Beamter der amerikanischen Tageszeitung zufolge: „Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keine Beweise dafür, dass Russland hinter den Sabotageakten steckt.“ Der Beamte gab damit die Einschätzung von 23 diplomatischen und Geheimdienstmitarbeitern aus neun Ländern wieder, die in den letzten Wochen befragt wurden.

Einige dieser Beamten gehen einen Schritt weiter und sagen, dass sie nicht glauben, dass Russland verantwortlich ist. Andere, die Russland immer noch für einen der Hauptverdächtigen halten, sagten, dass eine eindeutige Zuordnung des Anschlags, zu welchem Land auch immer, unmöglich sein könnte. In den Monaten nach den Explosionen, die zu einer der größten Methangasfreisetzungen aller Zeiten geführt haben, haben die Ermittler Trümmer durchkämmt und Sprengstoffreste analysiert, die auf dem Grund der Ostsee gefunden wurden. Seismologen haben den Zeitpunkt der drei Explosionen am 26. September, die vier Lecks an den Pipelines Nord Stream 1 und 2 verursachten, genau bestimmt.

US-Nachrichtendienst hat keine Beweise für Russlands Schuld

Niemand bezweifelt hingegen, dass die Schäden vorsätzlich herbeigeführt wurden. Ein Beamter der deutschen Regierung, die laut Washington Post eigenen Ermittlungen durchführt, sagte, dass die Sprengsätze anscheinend an der Außenseite der Bauwerke angebracht worden seien. Aber selbst diejenigen, die die forensischen Details kennen, können Russland nicht schlüssig mit dem Anschlag in Verbindung bringen, so die Beamten, die unter der Bedingung der Anonymität sprachen, um Informationen über den Fortschritt der Ermittlungen weiterzugeben, von denen einige auf geheimen Informationen beruhen. So erklärte ein hoher Beamter des US-Außenministeriums „Die Spurensicherung bei einer Untersuchung wie dieser wird äußerst schwierig sein.“

Die Vereinigten Staaten fangen der Washington Post zufolge routinemäßig die Kommunikation russischer Beamter und Militärs ab, eine geheime nachrichtendienstliche Maßnahme, die dazu beitrug, Moskaus Einmarsch in die Ukraine im Februar genau vorherzusagen. Bislang haben die Analysten jedoch noch keine Erklärungen von russischer Seite gehört oder gelesen, in denen sie die Lorbeeren für sich beanspruchen oder andeuten, dass sie versuchen, ihre Beteiligung zu vertuschen, so die Beamten. Auch dies ist ein Indiz dafür, dass Russland möglicherweise nicht hinter dem Sabotageakt steckt.

Zuordnung des Angriffs von Beginn an schwierig

Die Lecks wurden in den ausschließlichen Wirtschaftszonen von Schweden und Dänemark entdeckt. Die europäischen Staaten haben versucht zu ermitteln, welche Schiffe sich in den Tagen vor den Explosionen in der Region aufgehalten haben, in der Hoffnung, den Kreis der Verdächtigen einzugrenzen. Finnlands Außenminister Pekka Haavisto erklärt gegenüber der Washington Post, dass Experten am Werk waren: „Wir wissen, dass es sich bei dieser Menge an Sprengstoff um einen staatlichen Akteur handelte. Es ist nicht nur ein einzelner Fischer, der beschließt, die Bombe dort zu platzieren. Es ist sehr professionell.“ Haavisto verdeutlich welche Schlüsse Finnland aus dem Vorfall gezogen hat: „Wir haben die Lektion gelernt. Es zeigt wie verwundbar unser Energienetzwerk, unsere Unterseekabel und das Internet für alle Arten von Terroristen sind.“

Die Zuordnung des Angriffs war von Anfang an schwierig. Die erste Explosion ereignete sich mitten in der Nacht im Südosten der dänischen Insel Bornholm. Mehr als 12 Stunden später entdeckten die Wissenschaftler zwei weitere Explosionen nordöstlich der Insel. Angesichts der relativ geringen Tiefe der beschädigten Pipelines, etwa 80 Meter am Ort einer Explosion, könnten theoretisch verschiedene Akteure den Anschlag verübt haben, möglicherweise mit Hilfe von Unterwasserdrohnen oder Überwasserschiffen, so die Beamten gegenüber der Washington Post. Die Liste der Verdächtigen beschränkt sich nicht nur auf Länder, die über bemannte U-Boote oder Erfahrung mit Tiefseesprengungen verfügen.

Trotz der Skepsis vieler Beamter gibt es der Washington Post zufolge immer noch Beamte, die Russland als Hauptverdächtigen sehen. Ein Grund seien die jüngsten Bombardierungen ziviler Infrastruktur in der Ukraine und die angebliche Neigung zu unkonventioneller Kriegsführung. Es sei laut den Beamten nicht so abwegig zu denken, dass der Kreml Nord Stream angreifen würde, vielleicht um die Entschlossenheit der NATO zu untergraben und Verbündete abzuschälen, die von russischen Energiequellen abhängig sind.

Beamte bedauern die schnelle Festlegung auf Moskau

Mit ein Grund warum die Verurteilung Moskaus so schnell ablief, war die schnelle Festlegung der US-Regierung. Am 30. September, vier Tage nach den Explosionen, erklärte die US-Energieministerin Jennifer Granholm gegenüber der BBC: „Es ist „wahrscheinlich“, dass Russland die Schuld trägt. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass es sich bei diesen Vorfällen um Zufälle handelt.“ Auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck deutete an, dass Russland, das die Verantwortung stets abgestritten hat, für die Explosionen verantwortlich sei. So sagte er Anfang Oktober: „Wenn Russland sagt: „Wir waren es nicht“, ist das so, als würde man sagen: „Ich bin nicht der Dieb.“

Bedauern gibt es bei vielen Beamten, dass so viele Staats- und Regierungschefs mit dem Finger auf Moskau zeigten, ohne andere Länder und extremistische Gruppen in Betracht zu ziehen, die genauso Fähigkeit und das Motiv haben könnten, den Anschlag auszuführen. So erklärte ein Europäischer Beamter: „Die Regierungen, die mit ihren Kommentaren gewartet haben, bevor sie Schlussfolgerungen gezogen haben, oder sich gar nicht festlegten, haben das Richtige getan.“

Beamter: „Russlands Schuld hat für mich nie einen Sinn ergeben“

Je länger sich die Ermittlungen hinziehen, desto lauter werden Skeptiker darauf hinweisen, dass Moskau wenig davon hatte, Pipelines zu beschädigen, die Westeuropa mit russischem Erdgas versorgen und jährliche Einnahmen in Milliardenhöhe generieren. Daran würden auch nicht die jahrelangen Kontroversen und Debatten über die Nord Stream Projekte, wegen der Bindung Deutschlands und anderer europäischer Länder an russische Energiequellen etwas ändern. Entsprechend klar äußerte sich ein westeuropäischer Beamter gegenüber der Washington Post: „Die Begründung, dass es Russland war (das die Pipelines angegriffen hat), hat für mich nie einen Sinn ergeben.“

Fast einen Monat vor dem Bruch stoppte der russische Energieriese Gazprom die Durchleitung von Nord Stream 1, Stunden nachdem die Gruppe der sieben Industriestaaten eine bevorstehende Preisobergrenze für russisches Öl angekündigt hatte, ein Schritt, der eine Delle in die Staatskasse des Kremls reißen sollte. Während Putins langer Amtszeit hat der Kreml die Energie laut Beamten als politisches und wirtschaftliches Druckmittel eingesetzt, indem er mit der Androhung von Kürzungen die Länder dazu zwang, sich seinen Zielen anzuschließen. Angesichts dieser Tatsache sei es unlogisch, dass Russland dieses Druckmittel ohne Not aufgeben würde.

24-Stunden-Kontrolle von Pipelines nicht realisierbar

Deutschland hatte die endgültige Genehmigung für Nord Stream 2 laut Washington Post nur wenige Tage vor dem Einmarsch der russischen Streitkräfte in die Ukraine gestoppt. Doch die Pipeline war intakt und wurde bereits mit 300 Millionen Kubikmetern Erdgas vollgepumpt, um sie betriebsbereit zu machen. Europäische und US-amerikanische Beamte, die Russland nach wie vor für den wahrscheinlichsten Schuldigen halten und die Theorien der Skeptiker nicht unterstützen, sagen, dass es ein plausibles Motiv für Russland gebe: Der Angriff auf Nord Stream 1 und 2, die laut den Beamten keine Einnahmen für die russischen Kassen generierten, hätte gezeigt, dass Pipelines, Kabel und andere Unterwasserinfrastrukturen verwundbar waren und dass die Länder, die die Ukraine unterstützten, einen hohen Preis zu zahlen riskierten.

Zu sehen ist, dass Länder in Europa versuchen ihre Sicherheit zu verbessern. Ein Beleg dafür ist das Beispiel Finnlands, wie Haavisto verdeutlich. So habe Finnland seit den Explosionen Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktursicherheit ergriffen. Zudem haben Deutschland und Norwegen der Washington Post zufolge die NATO gebeten, ihre Bemühungen zum Schutz kritischer Infrastrukturen wie der Kommunikationsleitungen in der Nordsee und der Gasinfrastruktur zu koordinieren.

Trotz dieser Bemühungen macht Haavisto klar, dass eine totale Kontrolle nie realisierbar sei: „Es stimmt auch, dass wir nicht alle Pipelines, alle Kabel rund um die Uhr kontrollieren können. Man muss vorbereitet sein. Wenn etwas passiert, muss man überlegen, welche Alternativen es gibt.“ Wie man an Haavistos Erklärung sehen kann, hat der Angriff auf Nord Stream hat bei europäischen Regierungen Verunsicherungen ausgelöst, wie weit Akteure gehen könnten.

Norwegen hat Angst, dass der Täter nie zugeordnet wird

Der schwedische Außenminister Tobias Billstrom erklärte gegenüber der Washington Post, seine Regierung warte darauf, dass die unabhängige Staatsanwaltschaft des Landes ihre Ermittlungen zu den Explosionen abschließt, bevor sie sich ein Urteil bildet. Unmittelbar nach dem Anschlag verstärkte Schweden zusammen mit Dänemark seine Seepatrouillen: „Wir haben über (die Explosionen) gesprochen, weil wir der Meinung sind, dass sich die Sicherheitslage im nördlichen Teil Europas nach der russischen Aggression gegen die Ukraine mit all ihren Folgen verschlechtert hat.“

Die Aussicht, dass die Explosionen möglicherweise nie eindeutig zugeordnet werden können, ist für Länder wie Norwegen, das über 9.000 Kilometer Unterwasser-Gaspipelines nach Europa verfügt, beunruhigend. So erklärte ein norwegischer Beamter, das Land versuche, die Sicherheit seiner eigenen Pipelines und anderer kritischer Infrastrukturen zu erhöhen.

So investiert Norwegen in die Überwachung, arbeitet mit Großbritannien, Frankreich und Deutschland zusammen, um die Marinepatrouillen zu verstärken und versucht, Wege zu finden, den Öl- und Gasfluss im Falle eines weiteren Angriffs aufrechtzuerhalten. Weiterhin untersucht Norwegen auch das Auftauchen nicht identifizierter Drohnen in der Nähe seiner Öl- und Gasanlagen zur Zeit der Nord Stream-Anschläge. Der Beamte erklärt: „Es ist keine gute Sache, dass die Nord Stream-Explosionen ungelöst bleiben könnten. Wer auch immer es getan hat, könnte damit durchkommen. Sowas darf man nicht hinnehmen.“

Irischer EU-Parlamentarier kritisiert Stille in Europa

In den Augen der australischen Journalistin Caitlin Johnstone war die Unschuld Russlands schon vor der Skepsis der Beamten im Artikel der Washington Post klar. Dies machte die Journalistin auf am 21. Dezember ihrem Twitter Account deutlich: „Natürlich war es für jeden, der die Sache mit intellektueller Redlichkeit betrachtet, von Anfang an klar, dass es sich nicht um Russland handelte, denn es ergab keinen Sinn, dass sie ihre eigenen Pipelines angriffen, denn wenn sie diese Leitungen abschalten wollten, würden sie einfach das Ventil schließen.“

Kritik an der Stille europäischer Medien und europäischer Politiker äußerte am 17. Dezember der irische EU-Parlamentsabgeordnete Mick Wallace auf seinem Twitter Kanal: „Der Angriff auf Nord Stream war ein schrecklicher Angriff auf lebenswichtige europäische Infrastruktur, es war ein Akt des Umweltterrorismus, eine katastrophale Freisetzung von Methan. Warum zeigt die EU so wenig Interesse daran, herauszufinden, wer es getan hat? Hat man Angst, dass die Antwort nicht gefallen wird?“

Es bleibt abzuwarten, ob sich im nächsten Jahr etwas an der Stille der europäischen Politik und der europäischen Medien bezüglich der Nord Stream Explosionen ändert. Abwarten muss man auch ob irgendwann doch die Fragen vieler Bürger nach den Tätern und den Umständen der Sprengung beantwortet werden können.


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