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Europa – Ein sterbender Kontinent auf dem Weg in den nachhaltigen Untergang

Lesezeit: 5 min
22.07.2023 09:43  Aktualisiert: 22.07.2023 09:43
Derzeit kann man kaum eine Publikation aufschlagen, ohne dass einem wie eine Maschinengewehrsalve das Wort „nachhaltig“ entgegenschlägt. Der Eifer wird auch stets von moralisierendem Schwulst begleitet.
Europa – Ein sterbender Kontinent auf dem Weg in den nachhaltigen Untergang
Nachhaltigkeit ist ein teuflisches Phänomen, schreibt DWN-Kolumnist Ronald Barazon. (Foto: dpa)
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Derzeit kann man kaum eine Publikation aufschlagen, ohne dass einem wie eine Maschinengewehrsalve das Wort „nachhaltig“ entgegenschlägt. Es hilft auch nichts, wenn man die Sprache wechselt und einen englischen Text probiert. Da lautet das verstörende staccato dann tausendfach sustainable.

Der Eifer wird auch stets von moralisierendem Schwulst begleitet. Wir müssen, womit alle lebenden Zeitgenossen adressiert sind, wir müssen nachkommenden Generationen eine heile Welt hinterlassen, folglich dürfen wir nicht die verfügbaren Ressourcen ausbeuten und unseren Kindern und Kindeskindern eine wüste, ausgeblutete Erde übergeben.

Was macht unsere Zeitgenossen zu überheblichen Besserwissern?

Alle diese überzeugend klingenden Belehrungen haben einen schalen und bitteren Beigeschmack. Sie gehen von der Überzeugung aus, dass wir, die Zeitgenossen, so gescheit und hellsichtig sind, dass wir wüssten, was zu geschehen hätte, damit es unseren Nachfahren gut ergehen werde. Die peinliche Selbstüberschätzung sollte schon angesichts der offenkundigen Unfähigkeit, die aktuellen Herausforderungen zu meistern, einer tiefen Bescheidenheit und Demut weichen.

Auch ein Blick auf den tatsächlichen Umgang mit der Zukunft ist lehrreich. Die Bevölkerung der Europäischen Union schrumpft in atemberaubendem Tempo. Sollten sich die Zeitgenossen nicht entscheiden, prompt viel mehr Kinder zu machen, werden zum Ende des Jahrhunderts in der Union statt derzeit etwa 450 Millionen nur mehr 420 Millionen Menschen leben. Wir sorgen also dafür, dass viel zu wenige Menschen verfügbar sein werden, um die Zukunft tatsächlich gewinnen zu können.

Die Europäer sind eine Spezies, die die Arterhaltung nicht interessiert

Im Sinne der viel strapazierten Nachhaltigkeit, müsste man doch die nachfolgenden Generationen, denen man einen lebenswerten Globus übergeben will, auch produzieren. Das geschieht aber nicht. Die Menschen und insbesondere die Europäer weichen somit von einem biologischen Prinzip ab, das schon seit der Antike als wesentliches Element des natürlichen Verhaltens einer Gruppe von Menschen, Tieren oder Pflanzen gilt – die Arterhaltung. Die Europäer gehen allem Anschein nach unbekümmert der Tatsache entgegen, dass sie sich gerade vom Globus abmelden.

Die Daten würden den Schluss nahelegen, dass in Europa kein Interesse an der Institution „Familie“ besteht. Wäre dies der Fall, würde man doch viel öfter den stolzen Hinweis zu hören bekommen, wie prächtig viele Kinder, Enkel, Urenkel, Nichten und Neffen den eigenen Clan ausmachen.

Wie wichtig den Menschen die Familie ist, kann man an der Begeisterung ablesen, mit der viele Interessenten genealogische Seiten im Internet studieren, um ihre eigene Familiengeschichte zu erforschen. Das Interesse für Geschehnisse und Leistungen, die die Familie charakterisieren, ist enorm und spielt beim Eigenverständnis und sogar beim Selbstwertgefühl eine große Rolle.

Ein wesentliches Element der zukunftsorientierten Nachhaltigkeit bildet somit die Dokumentation vergangener oder aktueller Errungenschaften der Familie, die die Nachkommen beeindrucken und zur Nachahmung motivieren könnten. Die großen Herrscherfamilien, die über Jahrhunderte ganze Staaten lenkten, bieten sich als ideale Vorbilder an.

Ist noch jemand stolz auf ein altes Gründungsdatum?

Szenenwechsel: In das Bild des europäischen Untergangs passen die Ergebnisse einer kürzlich unter mittelständischen Unternehmen in Deutschland durchgeführten Studie.

In Deutschland wird in fast jedem vierten mittelständischen Unternehmen darüber nachgedacht, aufzuhören, zu verkaufen oder die Geschäftstätigkeit ins Ausland zu verlagern. Wo ist der Geist der stolzen Patriarchen geblieben, die Tag für Tag nur daran denken wie sie ihrem Betrieb das Überleben in den kommenden Jahrhunderten sichern können.

Die erschreckenden Ergebnisse der Studie machen die beiden Seiten der Medaille deutlich. Die Gesellschaft, der Staat, die Politik begreift nicht, dass Familienbetriebe eines der tragenden Elemente eines Staates bilden. Statt diesen kostbaren Unternehmen besonders angenehme Rahmenbedingungen zu bieten, werden laufend auf nationaler und europäischer Eben neue Belastungen und Erschwernisse eingeführt, die Vielen die Freude am Unternehmersein verleiden. Das Ergebnis ist in der erwähnten Studie nachzulesen.

Der Einsatz für die Arterhaltung setzt bei Bedrohung ein. Die Europäer fühlen sich offensichtlich noch nicht bedroht. In jedem Garten kann man beobachten, dass Pflanzen, sie sich auf einem Platz mit negativen Bedingungen befinden, geradezu übereifrig Blüten und Samen produzieren, die ihre Lebens- und Widerstandsfähigkeit demonstrieren sollen. In der Geschichte haben vor allem Völker, die im Gefolge politischer Entwicklungen durch Unterdrückung und Massenmorde existenziell gefährdet wurden, in der Folge einen starken Überlebenswillen demonstriert, der sich an einem großen Kinderreichtum zeigte.

Das Bemühen um Resilienz wäre ein kulturelles Anliegen

In letzter Konsequenz ist das Thema eine Frage der Kultur. Es geht um die Frage, wie will man das Leben der Gemeinschaft gestalten, wie soll das Zusammenleben in der Gesellschaft funktionieren? Werden für diese Kernfragen überzeugende Antworten gefunden, die von einer Mehrheit getragen werden, dann ergeben sich organisch gesellschaftliche Verhaltensweisen und juristische Rahmenbedingungen.

Dass hier zutiefst kulturelle Themen angesprochen sind, lässt sich auch an der eingangs angesprochenen Welle der Nachhaltigkeit ablesen. Diese aktuelle Orientierung ist eine Reaktion auf die Mängel der gegenwärtigen, gesellschaftlichen Realität. Die Konsumgesellschaft forciert kurzlebige Güter, die nicht einmal mehr repariert werden. Die Nachhaltigkeit hat auch die Achtsamkeit in den Vordergrund gerückt, Rücksicht auf die Natur und die Mitmenschen, Empathie statt rücksichtsloser Egoismus sind gefragt. Der riesige Bereich der Ernährung wird konsequent hinterfragt, traditionelle Essgewohnheiten kommen im Lichte neuer Erkenntnisse auf den Prüfstand. Die überbordende Technik wird mit wachsender Skepsis beobachtet, die Omnipräsenz von Strahlungen, der scheinbar nicht mehr in den Griff zu bekommende Müll werden als konkrete Gefahren bewusst erlebt. Das Schlagwort „nachhaltig“ steht stellvertretend „für anders leben“.

Doch zurück zur Arterhaltung. Eine Begleiterscheinung der modernen Lebensumstände ist eine

deutliche Verschlechterung der Spermaqualität. In den vergangenen vierzig Jahren ist die Zahl der Spermien bei einem Samenerguss in den Industrieländern um etwa 50 Prozent zurückgegangen. Als Ursachen ortet die Wissenschaft eine ungesunde Ernährung, Fettleibigkeit und zu wenig Bewegung. Die Faktoren, die generell als Auslöser der Zivilisationserkrankungen genannt werden, spielen also auch in diesem Bereich eine entscheidende Rolle.

Auf ein fatales Wechselspiel war schon zu verweisen. Unternehmer, denen es nicht so wichtig ist, wie ihr Betrieb in hundert Jahren aussehen wird, und Politiker, denen es nicht so wichtig ist, dass die Unternehmen unter dem Wust an Vorschriften und Auflagen die Freude am Unternehmersein verlieren, ergeben eine giftige Mixtur, die der Gesellschaft schadet.

Ein anderes, fatales Wechselspiel lautet: Paare, denen es nicht so wichtig ist, ob sie ein Kind, keines, zwei oder drei Kinder bekommen, und Politiker, denen es nicht so wichtig ist, ob Frauen ihr Privat- und Berufsleben frei gestalten können, weil Kinder problemlos in Tageskrippen, Kindergärten und Ganztagsschulen unterzubringen sind. Dass das Fehlen ausreichender Einrichtungen dieser Art nichts Anderes als gesellschaftspolitischer Sprengstoff ist und schlichtweg die Zukunft des Landes in Frage stellt, ist nicht allgemein bewusst.

Europa erinnert fatal an einen Menschen, der nach einem arbeitsreichen Leben den Übertritt in die Rente geschafft hat und sich nun darauf verlässt, dass irgendwer schon seinen gewohnten Lebensstandard sichern wird. Vor dem geistigen Auge erscheint die Reihe der entnervten Altersvorsorge-Berater, die diesem Jemand jahrzehntelang versucht haben, klar zu machen, dass ohne rechtzeitige und solide Vorbereitung eine Katastrophe droht.

Nachhaltigkeit ist ein gnadenloses Phänomen

Dem sorglosen Jemand bleibt jetzt nur mehr die Hoffnung, dass fleißige Junge einen nicht vorhandenen Generationenvertrag mit den Alten bedienen. Europa bleibt nur die Hoffnung, dass Junge, die man nicht gezeugt hat, doch eine Wirtschaftsleistung erbringen werden, die die Finanzierung von Sozialversicherungen, Anleihezinsen und Dividenden ermöglichen wird.

Nachhaltigkeit ist ein teuflisches Phänomen. Fehler, die man heute macht, und Unterlassungen, die man heute begeht, haben die Eigenschaft nachhaltig lange nachzuwirken. Diese banale Weisheit hat sich bei der Bekämpfung der Klimakrise erstaunlich rasch durchgesetzt. Wer heute eine Gramm CO2 zu viel in die Luft jagt, muss mit Ächtung durch die Gesellschaft rechnen. So sollte auch klar sein, dass eine Firma, die heute rasch einem chinesischen Investor oder einem unter Einfallslosigkeit leidendem Konzern verkauft wird, nicht morgen als Start-Up wieder aufersteht. Wie auch die Kinder, die man nicht zeugt, fehlen werden, selbst, wenn die Zuwanderung für einen, allerdings vielfach abgelehnten, Ausgleich sorgt.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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