Unabhängig vom historisch schlechten WM-Abschneiden der Leichtathleten ohne den Gewinn einer einzigen Medaille hält der Deutsche Olympische Sportbund umfassende Neuerungen im Sportsystem für unabdingbar. „Wir haben bereits im vergangenen Jahr festgestellt, dass es tiefgreifender Veränderungen bedarf, um perspektivisch eine Trendwende im Leistungssport herbeizuführen“, teilte der DOSB am Dienstag auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur mit.
Zudem müsse das Leistungssportsystem selbst Innovation ermöglichen. „Das heißt, die Leistungssportförderung muss flexibler, digitaler und weniger bürokratisch werden“, hieß es weiter.
Die Leistungssportagentur, ein zentraler Baustein der Reform, die derzeit zwischen Bund, Ländern und DOSB entwickelt werde, solle genau das leisten. „Die unabhängige Agentur soll schneller, zielgerichteter und flexibler auf Entwicklungen im Weltsport reagieren und entsprechende Anpassungen vornehmen können“, erklärte der DOSB. Nur so könne der deutsche Leistungssport „den Anschluss an die Weltspitze wiederherstellen. Klar ist, dass es dafür Investitionen und finanzielle Mittel bedarf“.
Der Dachverband sieht deshalb die geplante Kürzung der Fördermittel für den Spitzensport für das Olympia-Jahr 2024 um zehn Prozent mit Sorge. „Die Mittelkürzungen, die bisher im Entwurf des Bundeshaushalts vorgesehen sind, werden kurz-, mittel- und langfristige Folgen haben“, so der DOSB. „Man kann keine Reform im Leistungssport umsetzen, ohne finanzielle Ressourcen dafür vorzusehen.“
Die angeschobene Reform des Leistungssports werde mit Blick auf die Olympischen Spiele vom 26. Juli bis 11. August noch keinen Effekt haben. „Solch tiefgreifende Veränderungen, wie sie die Reform vorsieht, entfalten ihre Wirkung nicht über Nacht“, betonte der DOSB.
Zehnkämpfer Hingsen: „Alle haben sich lieb“
Mit Blick auf die WM-Pleite der deutschen Leichtathleten hat der frühere Weltklasse-Zehnkämpfer Jürgen Hingsen kein Verständnis für die Abschaffung des Wettkampfcharakters bei den Bundesjugendspielen. „Ja, getreu dem Motto: Alle haben sich lieb und umarmen sich. Dabei ist doch gerade der sportliche Wettkampf, den man braucht, um im Leben später zu bestehen, in diesem Alter wesentlich. Die Motivation, Leistung zu erbringen, wird durch solche Maßnahmen zunehmend infrage gestellt. Die Gründe dafür kann ich nicht ansatzweise nachvollziehen“, sagte der 65-Jährige der Tageszeitung Die Welt.
Ab diesem Schuljahr werden die jährlich stattfindenden Spiele in der Sportart Leichtathletik für alle Grundschulkinder bis zur vierten Klasse nur noch als Wettbewerb und nicht mehr als Wettkampf organisiert. Bislang war das nur in den ersten beiden Klassen der Fall.
Der Leistungscharakter der Bundesjugendspiele tritt so in den Hintergrund. „Es ist doch überhaupt nicht so, dass sich die Kinder extremem Leistungsdruck ausgesetzt fühlen und darunter leiden. Das Lernen von Gewinnen und Verlieren halte ich für außerordentlich wichtig für die Heranwachsenden“, betonte Hingsen, der 1984 Silber bei den Olympischen Spielen gewann.
Bei der aktuellen Krise sieht Hingsen ein großes Problem in dem Fördersystem in Deutschland. „Für den gesamten Spitzensport in Deutschland werden 250 Millionen Euro bereitgestellt. Das klingt erst mal viel. Aber wenn man überlegt, dass Texas den gleichen Betrag nur für Collegemannschaften ausgibt, kann man abschätzen, warum wir nur noch im zweiten Glied stehen“, sagte Hingsen. So sei eine Förderung der Talente schwierig.
Für die Olympischen Spiele in Paris sei ein „ähnliches Desaster“ wie in Budapest zu befürchten.
Hingsen wünscht sich aber auch mehr Unterstützung aus der Politik. „Wir haben nur noch eine Streit- und keine Motivationskultur. Spitzensport in Deutschland hat keine Lobby mehr. Zu meiner Zeit etwa kam der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble noch zu Wettkämpfen und hat sich mit mir getroffen, um zu hören, wie es mir geht und wie es um das Duell mit Daley Thompson steht“, so der frühere Leichtathlet.