Die Europäische Union steht derzeit vor zwei großen Herausforderungen: die ökologische Wende umzusetzen und wirtschaftliche Führungsstärke auszuüben. Beides sind existentielle Herausforderungen. So wie die ökologische Wende zum Schutz des Planeten, von dem unser Überleben abhängig ist, lebenswichtig ist, ist wirtschaftliche Führungsstärke unverzichtbar, um jenes demokratische, umweltfreundliche marktgestützte Modell zu bewahren, auf dem unsere Lebensweise beruht. Economic Statecraft bietet ein Mittel, um beide Herausforderungen zu bewältigen.
Für uns Europäer wird eine derartige Politik eine radikale Mentalitätsveränderung erfordern. Wir sind es gewohnt, eine wirtschaftliche Supermacht zu sein, aber lernen noch, wie man politische Macht ausübt. Tatsächlich hat die EU immer davon abgesehen, in den Kategorien der Economic Statecraft zu denken. Die Entwicklung der EU wurde durch Handel vorangetrieben und durch eine sich ständig weiterentwickelnde, aber letztlich berechenbare regelgestützte internationale Wirtschaftsordnung gestützt.
Doch die Welt hat sich verändert. Während der letzten beiden Jahrzehnte und insbesondere in den letzten Jahren haben eine Reihe von Erschütterungen – von der COVID-19-Pandemie hin zu Russlands großangelegter Invasion der Ukraine – die Anfälligkeit aufgezeigt, die sich aus Interdependenzen ergeben kann. Daher hat die EU ein „geopolitisches Erwachen“ erlebt, und die Mitgliedstaaten erkennen nun die Notwendigkeit größerer Souveränität, um ihre Sicherheit zu gewährleisten – nicht nur in Bezug auf die Verteidigung, sondern auch auf die Wirtschaft und, allgemeiner, Europas Vision der Welt.
An dieser Stelle kommt die Economic Statecraft ins Spiel. Wir müssen wirtschaftspolitische Strategien entwickeln, um den Status der EU als souveräne Macht zu stärken, die imstande ist, die Nachhaltigkeit ihres wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Modells sicherzustellen und ihre Werte über die eigenen Grenzen hinaus zu projizieren. Eine derartige Strategie muss auf vier Säulen aufgebaut sein.
Die erste ist eine europäische Industriestrategie. Die EU hat in diesem Bereich in den letzten Jahren – und insbesondere den letzten Monaten – deutliche Fortschritte gemacht. In Bezug auf die Energie etwa hat die EU das Programm Fit for 55 verabschiedet: ein umfassendes Maßnahmenpaket, das darauf zielt, die Netto-Treibhausgas-Emissionen bis 2030 um mindestens 55 % zu senken und bis 2050 emissionsneutral zu werden.
Darüber hinaus bemüht sich die EU, ihren Strommarkt zu reformieren, um die Stromerzeugung flexibler und weniger CO2-intensiv zu gestalten. Und sie vertieft ihre interne Vernetzung, um innereuropäische Energielieferungen sicherzustellen und so ihre Abhängigkeit von ausländischen Energie-Importen und fossilen Energieträgern zu verringern.
Die EU arbeitet gegenwärtig daran, weitere Initiativen zum Abschluss zu bringen, die ihr helfen werden, ihre Führungsrolle im Bereich der Umwelttechnologie aufrechtzuerhalten. So laufen derzeit Bemühungen zur Verschlankung und Beschleunigung einschlägiger Verwaltungsvorgänge etwa bei Genehmigungsverfahren und bei Prüfverfahren zur Vergabe staatlicher Fördermittel. Der jüngst von der EU-Kommission vorgelegte Gesetzesentwurf zur Netto-Null-Industrie ist ein Paradebeispiel hierfür.
Zugleich hat sich Frankreich für Initiativen zur Stärkung strategischer Sektoren ausgesprochen, insbesondere jener, die mit der digitalen Transformation und der Energiewende verknüpft sind. So zielen zum Beispiel das Europäische Chip-Gesetz und der Gesetz über kritische Rohstoffe darauf, die europäische Produktion zentraler Komponenten in der globalen Technologie-Lieferkette zu stärken. Europa muss zudem seine Fortschritte im Bereich der Batterieproduktion beschleunigen, die zum Erreichen der CO2-Neutralität unverzichtbar ist.
Bündel an Instrumenten
Die zweite Säule europäischer Economic Statecraft erfordert die Stärkung unseres Binnenmarktes und der Handelsbeziehungen zur übrigen Welt. Die EU ist bereits dabei, ihr Instrumentarium zum Schutz heimischer Unternehmen auszuweiten – zum Beispiel durch mit der Datensicherheit und der kritischen Infrastruktur verknüpfte Maßnahmen. Zugleich nutzt die EU ihre Größe, um Gegenseitigkeit seitens ihrer Partner sicherzustellen. Kein Unternehmen eines Drittlandes kann sich in der EU an öffentlichen Ausschreibungen beteiligen, wenn sein Heimatland europäischen Firmen nicht den Zugang zu ähnlichen Ausschreibungen eröffnet.
Die EU ist zudem gegen wirtschaftlichen Zwang und marktverzerrende Praktiken aktiv. Ihr Instrument gegen Zwangsmaßnahmen, über welches Europäisches Parlament und Europäischer Rat kürzlich eine abschließende politische Einigung erzielt haben, wird die EU in die Lage versetzen, auf wirtschaftliche Nötigungstaktiken von Gegnern zu reagieren. In ähnlicher Weise versetzt die 2019 verabschiedete Verordnung zur Schaffung eines Rahmens für die Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen die EU in die Lage, ausländische Übernahmen von oder Beteiligungen an strategisch bedeutsamen Unternehmen zu stoppen.
Die dritte Säule ist die Projektion unserer Standards und Ambitionen über Europas Grenzen hinweg. Zu diesem Zweck hat die EU eine koordinierte Anstrengung eingeleitet, um ihren Einfluss in multilateralen Gremien zu stärken und ihre Macht zu nutzen, um dafür zu sorgen, dass sich diese Organisationen weiterhin auf ihre Kernziele konzentrieren, und um wo nötig ordnungspolitische Reformen zu unterstützen.
Zudem stellt die EU durch Maßnahmen wie das Europäische CO₂-Grenzausgleichssystem und die Verordnung über entwaldungsfreie Produkte sicher, dass die von ihr importierten Güter internationale und (häufig strengere) europäische Umwelt- und Sozialstandards erfüllen. Und bei Verhandlungen über Handelsverträge arbeitet die EU darauf hin, drei Kriterien miteinander in Einklang zu bringen: ökologische Nachhaltigkeit, Europas strategische Interessen und ein faires Gleichgewicht an Zugeständnissen.
Die letzte Säule einer Strategie europäischer Economic Statecraft besteht im Einsatz „offensiver“ Instrumente, um bösartige Maßnahmen von Drittländern abzuschrecken. Dies schließt natürlich Wirtschafts- und Finanzsanktionen ein, wie sie nach dem Beginn von Russlands groß angelegtem Angriffskrieg gegen die Ukraine mit großer Geschwindigkeit entwickelt und in umfassender Weise eingesetzt wurden. Doch sollte die Handelspolitik ganz allgemein auch auf außenpolitische Zielsetzungen abgestimmt sein.
Die EU setzt bereits seit einiger Zeit Exportkontrollen in Bezug auf Güter mit doppeltem Verwendungszweck ein und wird dies auch weiterhin tun. Sie stimmt ihre Bemühungen dabei auf multilateraler Ebene ab. Doch sollte mehr passieren. Angesichts sich vertiefender chinesisch-amerikanischer Spannungen muss sich die EU zwischen vollständiger technologischer Entkoppelung und der Stärkung von Exportkontrollen entscheiden. Frankreich spricht sich für eine EU-weite Diskussion darüber aus, welche Technologien die EU nicht zu exportieren bereit ist.
Um es klar zu sagen: Europa versucht nicht, sich als geoökonomische Macht in Opposition zu anderen Ländern zu positionieren; vielmehr sind wir bestrebt, sicherzustellen, dass wir die Kontrolle über unsere eigene politische, wirtschaftliche, ökologische und soziale Entwicklung behalten. Während wir uns mit der Notwendigkeit abfinden, mehr Macht auszuüben, werden wir die für das europäische Projekt zentrale Offenheit nicht aufgeben. Infolgedessen wird unser internationaler Einfluss stetig wachsen, und wir werden in der Lage sein, gleichzeitig jenes komplexe Spiel zu spielen, zu dem sich die Geopolitik entwickelt hat, und beim Klimaschutz weltweit führend zu sein.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
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