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Das Mainstreaming der äußersten Rechten

Lesezeit: 10 min
27.10.2023 17:49  Aktualisiert: 27.10.2023 17:49
Die „populistische Welle“ rollt über Europa. Diese Vermutung ist weit verbreitet. Migration und Globalisierung werden oft als Ursachen genannt. Aber ist das noch korrekt? Und wie kann das Wahlverhalten der Bürger anders erklärt werden?
Das Mainstreaming der äußersten Rechten
Viktor Orbán ist mit seiner Verkündigung einer „Revolution in den Wahlkabinen“ 2010 an die Macht gekommen. (Foto: dpa)
Foto: Darko Vojinovic

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Wenn es eine Metapher gibt, die in den vergangenen zehn Jahren die internationalen Expertenkreise dominiert hat, die sich den Massenmedien als Kommentatoren anbieten, ist es die „populistische Welle“. Ein Land nach dem anderen, so wird uns gesagt, gibt die liberale Demokratie auf und wendet sich autoritären Führern und Parteien zu, die behaupten, im Namen des Volkes zu sprechen.

Die mutmaßlichen „Triebkräfte“ (oder Ursachen wie es früher eleganter hieß) sind uns inzwischen geläufig: Einwanderung, Globalisierung und insbesondere der angebliche Aufstieg einer „neuen Elite“, oder, wie es der britische Politikwissenschaftler Matthew Goodwin ausdrückt, einer herrschenden Klasse, die „luxury beliefs“ pflegt, also Ideen oder Werte, die nicht unbedingt von ihr angenommen oder praktiziert werden. Diese kulturell abgrenzbare Gruppe, so Analysten wie Goodwin, leistet sich den Luxus, moralisch rechtschaffene politische Positionen zu vertreten, deren Folgen die arbeitende Bevölkerung zu tragen hat. Ihre Mitglieder stellen sowohl ausgesprochen liberale Werte als auch ein hohes Maß an Intoleranz gegenüber allen zur Schau, die diese Werte nicht teilen – nämlich gegenüber denjenigen, die oft herablassend als „gewöhnliche Leute“ bezeichnet werden.

Die angebliche populistische Welle ist aus dieser Perspektive eine Reaktion auf Entwicklungen, die viele Bürgerinnen und Bürger als bedrohlich oder zumindest befremdlich empfinden. Professoren wie Goodwin zufolge, der Verständnis für den populistischen Impuls zeigt, ist eine solche Reaktion in der Regel gesund. Die jüngste Niederlage der rechtspopulistischen Regierungspartei in Polen zeigt jedoch, dass die Lage komplizierter sein könnte, als uns die Experten glauben machen wollen. Tatsächlich wird in einem wichtigen neuen Buch des amerikanischen Politikwissenschaftlers Larry M. Bartels überzeugend dargelegt, dass die Vorstellung von einer populistischen Welle einen falschen Ausgangspunkt darstellt.

Eine Richtigstellung

Bartels ist ein hoch angesehener Wissenschaftler der Vanderbilt University, der sich in seinen früheren Arbeiten auf die zunehmende Ungleichheit in den Vereinigten Staaten konzentriert hat. Er ist unter Sozialwissenschaftlern für sein ausgesprochen nüchternes Demokratieverständnis bekannt und jemand, dem man unbedingt Gehör schenken sollte. Anhand von Daten der European Social Survey, in der Einstellungen und Verhaltensmuster der Bevölkerung in mehr als 30 europäischen Ländern erhoben werden, zeigt er in seinem Buch Democracy Erodes from the Top, dass ein Großteil der gängigen Auffassung vom heutigen Populismus schlicht falsch ist.

Ansichten und Einstellungen, die gemeinhin mit Rechtspopulismus in Verbindung gebracht werden – wie etwa eine einwanderungsfeindliche Haltung und die Ablehnung des Euro – haben in den letzten Jahren nicht merklich zugenommen. Außerdem ist die allgemeine Zufriedenheit mit der Demokratie und der Europäischen Union entgegen den Erwartungen vieler während und nach der Eurokrise 2009-15 nicht drastisch gesunken.

Bartels räumt zwar ein, dass der letzte Indikator im Zuge der Eurokrise und der Sparmaßnahmen, die den südeuropäischen Staaten auferlegt wurden etwas gesunken ist. Er stellt jedoch fest, dass er am Ende des vergangenen Jahrzehnts so hoch war wie seit 2004 nicht mehr. Entgegen der herkömmlichen Auffassung waren die Europäer 2019 mit der Funktionsweise der Demokratie genauso zufrieden wie 15 Jahre zuvor. Auch das Vertrauen in Politiker und Parlamente (das allerdings nie sehr groß war) ist praktisch unverändert geblieben.

Diese Ergebnisse scheinen besonders überraschend, wenn man an die Länder denkt, die heute üblicherweise als „illiberale Demokratien“ (obwohl antiliberale „hybride Regime“ oder im-Entstehen-begriffene-Autokratien zutreffender wäre) bezeichnet werden. Zu diesen Ländern gehören vor allem Ungarn und Polen, deren Regierungschefs ein besonderes Mandat von Bevölkerungen beanspruchen, die (wie sie nicht müde werden zu sagen) „illiberaler“ sind, mit stärker konservativen, religiösen und nationalistischen Einstellungen.

Hier ist die Studie von Bartels besonders aufschlussreich. Er zeigt, dass ein messbarer Anstieg des Illiberalismus in der Bevölkerung eine Folge und nicht die Ursache der antiliberalen Regierungsführung des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und des Vorsitzenden der scheidenden polnischen Regierungspartei, Jarosław Kaczyński ist.

Bei den entscheidenden Wahlen, die Orbán 2010 an die Macht und die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) 2015 an die Regierung brachten, riefen die Wähler nicht nach einem illiberalen Umbruch, wie Orbán mit seiner Verkündigung einer „Revolution in den Wahlkabinen“ zu suggerieren versuchte. Vielmehr drückten sie ihre Unzufriedenheit mit einer Seite in einem Zweiparteiensystem aus. Tatsächlich führten sowohl Orbáns Fidesz-Partei als auch die PiS einen gemäßigten Wahlkampf (letztere versprach lediglich einen „guten Wandel“) und gaben praktisch keine Erklärungen zu Verfassungsänderungen ab. Sie traten auch nicht mit EU-feindlichen Wahlprogrammen an obwohl Kaczyński durchaus versuchte, Ängste vor Flüchtlingen zu schüren, indem er behauptete, sie würden gefährliche Krankheiten einschleppen.

Ja, Bartels stellt fest, dass Sympathie für die Fidesz-Partei schon vor 2010 mit einer eher „konservativen Ideologie“ einherging. Aber weder Feindseligkeit gegenüber der EU, noch Angst vor Flüchtlingen waren für Fidesz-Anhänger charakteristisch. Bartels stellt ausdrücklich fest, dass „die Wähler, die der Fidesz 2010 die Schlüssel zur ungarischen Demokratie überreichten, nicht von denselben Impulsen motiviert waren, die die Unterstützung für rechtspopulistische Parteien in anderen Teilen Europas vorantreiben“.

Erst 2018, nachdem Orbáns Regierung der Öffentlichkeit jahrelang Illiberalismus eingetrichtert hatte, begannen Ressentiments gegen die EU zum bedeutenden Faktor in der Wählerbasis der Fidesz zu werden. Und selbst heute, nach Jahren der Kampagnen der ungarischen und polnischen Regierungen gegen die Europäische Kommission (und im Falle der PiS gegen die deutsche Bundesregierung), ist die EU in beiden Ländern nach wie vor erstaunlich beliebt.

Warum wurden dann sowohl Fidesz als auch PiS wiedergewählt, obwohl sie mit eindeutig fremdenfeindlichen und antieuropäischen Programmen in den Wahlkampf zogen? Hier bietet Bartels eine weitere Reihe aufschlussreicher Daten: Umfragen zeigen, dass die Zufriedenheit mit der Wirtschaft, mit dem Leben im Allgemeinen und sogar mit der „Art und Weise, wie die Demokratie in Ungarn funktioniert“, unter Fidesz gestiegen ist. Ebenso äußerten polnische Bürgerinnen und Bürger eine höhere Zufriedenheit mit der Wirtschaft und gaben – anders als in Ungarn – deutlich höhere Bewertungen für das Gesundheitswesen und Bildung ab.

Diese Unterschiede sind nicht besonders überraschend, wenn man berücksichtigt, dass die PiS eine weitgehend wohlfahrtsstaatliche Politik verfolgt hat, während Orbán das untere Drittel der Gesellschaft faktisch abgeschrieben hat (sowie das Gesundheitssystem ruiniert und das Bildungswesen vollständig seinen ideologischen Imperativen unterworfen hat). Bemerkenswert ist jedoch, dass das Vertrauen in Politiker und Parlamente in beiden Ländern zugenommen hat, und zwar unter Führungsköpfen, die sich eindeutig der Zerstörung der Demokratie widmen.

Sagenumwobene Wähler

Um die anhaltenden Wahlerfolge beider Parteien zu erklären, weist Bartels darauf hin, dass wirtschaftliche Verbesserungen eine große Rolle spielten. Ein weiterer Faktor sei aber auch, dass die meisten Bürgerinnen und Bürger der Politik einfach nicht allzu viel Aufmerksamkeit schenkten.

Zusammen mit Christopher H. Achen, einem meiner angesehenen Kollegen an der Princeton University, steht Bartels, dem was er die „folk theory of democracy“ nennt seit langem kritisch gegenüber. Dieser „naiven Demokratietheorie“ zufolge, die unter idealistischen politischen Philosophen weit verbreitetet ist, nehmen Bürgerinnen und Bürger kohärente Standpunkte zu bestimmten Themen ein, aus denen sich dann an der Wahlurne ein Mandat für die Gewinner ableitet.

Die Anhänger der naiven Demokratietheorie gehen daher davon aus, dass beobachtbare politische Ergebnisse (wie der Aufstieg „illiberaler“ Regierungsparteien) bedeutende Veränderungen in der öffentlichen Meinung widerspiegeln müssten. Bartels geht die Geduld für dieses idealisierte Bild der Bürger ab, und er gibt sich keiner Illusion über die Bereitschaft von Regierungen hin, auf die öffentliche Meinung einzugehen. Stattdessen fordert er uns auf, eine bewusst elitäre Sicht auf die Demokratie anzunehmen – nicht aus einer Vorliebe für die Herrschaft der Eliten heraus, sondern weil die Herrschaft der Eliten in den heutigen Demokratien schlichtweg Realität ist.

Für diejenigen, denen das Schicksal der Demokratie in Europa (und darüber hinaus) am Herzen liegt, gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute Nachricht ist, dass Bürgerinnen und Bürger nicht nach Autokratie schreien. Selbst in angeblich „illiberalen Demokratien“ gab es keine Belege dafür, dass die Wähler wollten, was Orbán und Kaczyński angerichtet haben – und im Falle Polens hat eine Mehrheit Bartels' Standpunkt gerade bestätigt.

Diejenigen, die die politischen Ergebnisse in diesen Ländern beiläufig auf eine angeblich einzigartige mitteleuropäische politische Kultur zurückführen, sollten Bartels' Analyse Beachtung schenken. Die westeuropäischen politischen Eliten machen es sich viel zu leicht mit der Behauptung, die armen, unwissenden Polen und Ungarn hätten nach dem Fall des Kommunismus einfach nicht genügend Zeit gehabt, die Praxis der liberalen Demokratie zu erlernen. Diese Beobachter, die oft die Propaganda aus Warschau und Budapest wiederholen, nehmen als gegeben hin, dass Mittel- und Osteuropäer nationalistischer und unverbesserlich fremdenfeindlich sind. Doch wie Bartels mehr als deutlich macht, sofern eine Krise der Demokratie vorliegt, handelt es sich dabei „in erster Linie um eine Krise der politischen Führung, nicht um eine Krise der öffentlichen Meinung“.

Der Fisch stinkt vom Kopf her

Ein Teil der schlechten Nachricht ist demnach, dass sich einige Eliten gegen die Demokratie wenden. Das ist aber noch nicht alles, denn Bürgerinnen und Bürger sind so sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt oder halten derart blindlings an der Zugehörigkeit zu einer Partei fest, dass man sich nicht darauf verlassen kann, dass sie die „Demokratie retten“ werden.

Die wichtigste Botschaft ist jedoch, dass man sich von der gängigen Meinung verabschieden sollte, die Leute seien irgendwie selbst schuld. Bartels macht glasklar deutlich, dass es die Eliten und nicht die „breite Masse“ sind, die Demokratien zerstören. Seit der Blütezeit der Massenpsychologie im neunzehnten Jahrhundert gelten „gewöhnliche Menschen“ als irrational und höchst anfällig für die Schmeicheleien aufstrebender Demagogen. Doch in Wirklichkeit sind Eliten die Variable in der Gleichung. Wenn Demagogen die Gelegenheit bekommen, demokratische Institutionen zu kapern, können sie dies oft ohne den Widerstand der Bürgerschaft tun. Wie Bartels anmerkt, gibt es zahlreiche sozialwissenschaftliche Belege dafür, dass Menschen zögern, Politiker für antidemokratisches Verhalten abzustrafen, wenn dies ihrer eigenen Partei oder ihren politischen Präferenzen zuwiderläuft.

Somit hängt fast alles von Eliten ab, und zwar von dem, was die Politikwissenschaftlerin Nancy Bermeo (eine weitere angesehene Kollegin in Princeton) als „Distanzierungsvermögen“ bezeichnet, womit die Bereitschaft gemeint ist, eine umfassendere Perspektive einzunehmen und der Demokratie Vorrang vor unmittelbaren politischen oder persönlichen Vorteilen zu geben. In dieser Hinsicht scheinen Eliten in Westeuropa spektakulär versagt zu haben.

Wie der niederländische Wissenschaftler Cas Mudde seit Jahren erörtert, gehen konservative und Mitte-Rechts-Politiker immer häufiger dazu über „die äußerste Rechte in den Mainstream einzubinden“. Sie haben bewiesen, dass sie bereit sind, Koalitionen mit populistischen, rechtsextremen Parteien zu bilden oder – weniger offensichtlich – die Rhetorik solcher Parteien zu übernehmen und damit rechtsextreme politische Positionen und Perspektiven zu politischen Herausforderungen wie Migration zu legitimieren.

Bei den letzten französischen Präsidentschaftswahlen hat etwa die gaullistische Kandidatin der Republikaner mehr Mainstream geht in der Fünften Republik nicht die Verschwörungstheorie vom „großen Austausch“ befördert, die besagt, dass Muslime nach Europa geschickt werden, um den Platz der Einheimischen einzunehmen. Anfang 2021 warf der Innenminister des französischen Präsidenten Emmanuel Macron der rechtsextremen Fraktionsvorsitzenden Marine Le Pen (ausgerechnet) vor, sie sei „zu zimperlich“ gegenüber dem Islam.

Nachdem die Mauer, die die extreme Rechte bisher zurückgehalten hat, durchbrochen wurde, lässt sie sich nicht so einfach wieder aufbauen. Wählerinnen und Wähler, die sich selbst als ehrbare Staatsbürger betrachten und einst vor den Positionen von Le Pen und dem rassistischen Brandstifter Éric Zemmour zurückgeschreckt wären, haben nun von den Mitte-Rechts-Eliten stillschweigend Erlaubnis erhalten, diesen Weg einzuschlagen und zu sehen, wohin er führt. Sollten wir überrascht sein, dass sie die Einladung angenommen haben? Wie die Führer der Rechtspopulisten selbst oft fragen: Warum die Kopie wählen, wenn man sich gleich für das „authentischere“ Original entscheiden kann?

Die Frage des Einstiegs

Deutschland war die große Ausnahme von diesem europaweiten Trend der vergangenen Jahre. Die Christlich Demokratische Union hat bisher an ihrem Standpunkt festgehalten, dass sie nicht mit der rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD) zusammenarbeiten wird. Zwar hat der Parteivorsitzende Friedrich Merz in diesem Sommer mit seiner Andeutung, dass auf kommunaler Ebene Ausnahmen gemacht werden könnten, die Stimmung getestet, erntete aber sofort Widerspruch, auch aus den eigenen Reihen.

Dennoch könnte es immer schwieriger werden, diese Brandmauer aufrechtzuerhalten. Bei den Landtagswahlen Anfang dieses Monats belegte die AfD, die bisher vor allem als ostdeutsche Protestpartei galt, den zweiten Platz in Hessen und den dritten Platz in Bayern. Darüber hinaus zeigen Umfragen, dass AfD-Wähler zunehmend aus „Überzeugung“ und nicht aus einem Protestimpuls heraus wählen, was bedeutet, dass sie sich ohne jede Scham für eine Partei entscheiden, die mit ihrem unverhohlenen Rassismus und ihrer revisionistischen Einstellung zur deutschen Geschichte kaum hinterm Berg hält.

Die Christdemokraten gingen zwar aus beiden Landtagswahlen als Sieger hervor, verloren aber Zehntausende Wählerinnen und Wähler an die äußerste Rechte – wie auch andere Parteien, darunter überraschenderweise die Grünen. Und entgegen der Annahme, die Hauptwählerschaft der Rechtsextremen bestehe aus älteren Menschen (in welchem Fall sich das Problem von selbst lösen würde), schnitt die AfD sowohl in Hessen als auch in Bayern bei jungen Wählern gut ab.

Natürlich könnte „Protest“ immer noch einen Teil dieses Wahlverhaltens erklären (ungeachtet Bartels' Skepsis gegenüber der rationalen politischen Meinungsbildung der Bürger). Schließlich ist die Angst vor dem wirtschaftlichen Niedergang unter den Deutschen weit verbreitet. Viele befürchten, ihr Land könnte erneut zum „kranken Mann Europas“ werden, ein Status, den es noch vor 20 Jahren innehatte – eine Zeit, an die sich die meisten Bürger noch erinnern. Ebenso bezeichnend ist, dass die derzeitige Regierungskoalition – bestehend aus Sozialdemokraten, wirtschaftsfreundlichen Freien Demokraten und den Grünen – herbe Verluste eingefahren hat.

Die Grünen werden gemeinhin als Gegenpol zur AfD betrachtet. Außerdem werden sie nunmehr mit Richtungskämpfen in Verbindung gebracht und regelmäßig attackiert, weil sie die Menschen angeblich ihrer Freiheit berauben, indem sie sie, neben anderen Umweltmaßnahmen, nötigen Wärmepumpen zu installieren. Diese hysterische Feindseligkeit deutet auf einen weniger offensichtlichen Mechanismus für das Mainstreaming extrem rechter Positionen hin. Wie Mudde hervorhebt, dienen so genannte „Kulturkampf“-Themen wie die Rechte von Transgender-Personen als Einstiegsdroge für Konservative allgemein.

Im Mitte-Rechts-Diskurs – der nicht gerade vor politischen Ideen strotzt – wird einer moralistischen, intoleranten linken Minderheit vorgeworfen, die freie Meinungsäußerung einzuschränken, die Leugnung der Migration zu fördern und einer Mehrheit aus „gewöhnlichen Menschen“, die zufällig anders denken und fühlen, generell Werte zu diktieren. Der typischen Erklärung zufolge haben diese ausgenutzten Wähler einfach keine andere Wahl, als für die extreme Rechte zu stimmen, um sich Gehör zu verschaffen.

Wenn die Mauer fällt

Sobald die politische Landschaft auf diese Weise verstanden wird, gibt es keinen offensichtlichen Platz für die Aufrechterhaltung einer Brandmauer. Konservative und Rechtspopulisten sind sich einig, was die größten Herausforderungen für die Gesellschaft sind – scheinheilige linke Predigten und Migration – und dass sie ehrbare bürgerliche Werte wie Redefreiheit und ein vernünftiges Verständnis des nationalen Interesses verteidigen. Die Brücke von der Mitte zur extremen Rechten ist gepflastert mit Kulturkampf-Memes und „moralischer Panik“ angesichts der vermeintlichen Gefahren für die Gesellschaft, die von Einwanderern ausgehen.

Die Alternative zur Anpassung des Mainstreams an die extreme Rechte besteht darin, die extreme Rechte an die Demokratie anzupassen. Die Forderung nach weniger Zuwanderung ist nicht per se undemokratisch. Aber natürlich ist es in einer Demokratie niemals akzeptabel, zum Hass gegen Ausländer und Minderheiten im eigenen Land aufzustacheln – nicht zuletzt, weil es immer einige Menschen geben wird, die einer solchen Rhetorik Gewalt folgen lassen.

Bartels hat ein Reservoir an Wählerinnen und Wählern ausgemacht, aus dem sowohl rechtsextreme als auch opportunistische Mitte-Rechts-Politiker schöpfen können. Aber diese Wähler sind eine laute Minderheit, nicht die schweigende Mehrheit. Sie sind schwerlich in der Lage, zu einer unaufhaltsamen Welle zu werden, die über die Demokratien der Welt hinwegfegt. Um diesen Eindruck zu erwecken, brauchen sie die Komplizenschaft der Eliten, die es besser wissen müssten.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow

Larry M. Bartels, Democracy Erodes From the Top: Leaders, Citizens, and the Challenge of Populism in Europe, Princeton University Press, 2023.

Copyright: Project Syndicate, 2023.

www.project-syndicate.org

Jan-Werner Müller, geboren 1970 in Bad Honnef, lehrt Politische Wissenschaften an der renommierten Princeton University. 

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