Weltwirtschaft

Staatswirtschaft im Endstadium: Investoren kehren China den Rücken

Lesezeit: 11 min
13.11.2023 09:24  Aktualisiert: 13.11.2023 09:24
Chinas Wirtschaftsmodell scheint endgültig am Ende zu sein und nun verlassen ausländische Investoren scharenweise das Land. Das Vertrauen in China und seinen Kapitalmarkt ist auf einem neuen Tiefpunkt angelangt. Was kann die Kommunistische Partei überhaupt noch gegen die Kapitalflucht tun?
Staatswirtschaft im Endstadium: Investoren kehren China den Rücken
Das internationale Kapital hat kein Vertrauen mehr in China. (Foto: dpa)

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Investoren haben das Vertrauen in China verloren, das internationale Kapital verlässt in Scharen das Land. Deutlich wird das anhand des massiven Abwärtstrends am Aktienmarkt. Der Kursverlauf des CSI 300-Index (300 wertvollste in Festland China gelistete Unternehmen) gleicht in den vergangenen Monaten einem regelrechtem Blutbad.

2023 scheint das dritte Verlustjahr in Folge zu werden. Anleger, die im laufenden Jahr zu vermeintlich günstigen Kursen in chinesische Aktien eingestiegen sind, haben mitunter erhebliche Verluste erlitten. Dabei gilt China als der Wachstumsmotor der Weltwirtschaft, vor dessen steigendem Einfluss der Westen sich fürchten muss. Aber immer kommt irgendetwas dazwischen, das die Aktienkurse gen Süden schickt und die Geduld der Investoren zunehmend überstrapaziert.

Nach dem Corona-Boom brach – im Einklang mit der weltweiten Bewertungs-Korrektur – auch der chinesische Aktienmarkt ein. Aber im Gegensatz etwa zu den USA konnte sich das Reich der Mitte davon nicht mehr erholen. Im Grunde begann alles schon im Herbst 2021 mit der Evergrande-Krise, die lange bekannte Missstände am Immobilienmarkt ins Rampenlicht rückte und einen Abschwung des so wichtigen Marktes ins Rollen brachte. Aber der weltweite Aktienrausch konnte das noch für einige Monate halbwegs kaschieren, bis dann zum Jahreswechsel mit der grassierenden Inflation und der Erwartung an die ersten Zinserhöhungen überall die Kurse kollabierten.

Der Markt waren gerade dabei, sich davon zu erholen, da sorgte Pekings hartes Eingreifen gegen die Macht der Technologie-Konzerne für purzelnde Kurse von Vorzeige-Werten wie Alibaba und Tencent, was auf den ganzen Markt überschwappte, da Anleger sich (zurecht) Sorgen um zunehmend härtere staatliche Regulierungen machten. Danach hielt Präsident Xi Jinping sehr lange an seiner wirtschafts-schädlichen Null-Covid-Politik fest und veranlasste damit im Herbst 2022 einen großen Abverkauf. Ganz aktuell versetzt Chinas unerwartete Wirtschaftsschwäche dem heimischen Aktienmarkt den letzten Schlag.

Wachstumszahlen zweifelhaft, langfristig enorme Risiken

Wobei: Welche Wirtschaftsschwäche eigentlich? Die nationale Statistikbehörde vermeldete doch neulich für das dritte Quartal ein jährliches nominales Wachstum von 4,9 Prozent (real gerechnet ist es durch den Effekt der Deflation sogar noch mehr). Angesichts der Krise am Immobilienmarkt, der eingebrochenen privaten Bautätigkeit und drohenden Insolvenzwelle unter den Bauträgern, Überkapazitäten in der Industrie, den rückläufigen Erzeugerpreisen und dem nachlassenden Konsum kann man am Wahrheitsgehalt des ausgewiesenen Wachstums seine Zweifel haben. Obwohl China natürlich immens davon profitiert, billiges Öl und Gas aus Russland beziehen zu können.

Chinas amtliche Zahlen werden in Übersee schon seit langem kritisch beäugt. Als die Jugend-Arbeitslosigkeit zuletzt 20 Prozent überschritt, gab man bekannt, dass die Statistik bis auf Weiteres einfach nicht mehr veröffentlicht wird. In den ersten neun Monaten 2023 sind die Industrie-Gewinne um 9 Prozent gefallen. Per September steht bei Importen und Exporten ein Minus von jeweils 6,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat – ein Zeichen für die schwache Nachfrage aus In- und Ausland.

„Wir glauben, dass sich die chinesische Wirtschaft in einer Abwärtsspirale befindet, das Schlimmste kommt noch“, schreiben Analysten des japanischen Bankhauses Nomura in einem Kommentar.

Mittelfristig haben sich gewaltige Risiken aufgetürmt. Steigende Lohnkosten und Lieferketten-Diversifizierung von internationalen Firmen (Stichworte „Derisking“ und „Nearshoring“) stellen Chinas Status als Werkbank der Welt in Frage. Das Bevölkerungswachstum, seit Jahrzehnten ein bedeutender Wachstumstreiber, ist vorbei. Die (Staats-)Unternehmen, allen voran die großen Immobilienentwickler, sind überschuldet. Dasselbe gilt für viele Provinzen und Kommunen, die vom Landverkauf abhängig sind und entsprechend hart von der Immobilienflaute erfasst wurden. Unterdessen hängt die Verbrauchernachfrage auch am wankenden Häusermarkt, der inklusive sekundärer Dienstleister 25 bis 30 Prozent der Wirtschaftsleistung ausmacht und auf dem rund 70 Prozent des Privatvermögens basiert.

Die Urbanisierung ist im Endstadium, die Gesellschaft wird immer älter und somit stagniert zunehmend die Nachfrage nach Wohnraum. Wurden 2010 noch 80 Prozent der Neubauten an Erstkäufer verkauft, sind es heute nur noch rund 10 Prozent. Immobilien gelten als sichere Altersvorsorge, jeder Chinese will mindestens eine besitzen. Vor allem für heiratswillige Männer ist es sehr wichtig, eine Eigentumswohnung zu besitzen. Wer es sich leisten kann, hat aber seine Immobilie inzwischen erworben und viel mehr Bedarf kommt nicht mehr nach.

Der Markt steckt in einem tiefen Abschwung – eine Erholung ist nicht in Sicht. Nach Angaben der Analysefirma CRIC, die sich auf Daten der einhundert größten chinesischen Immobilien-Entwickler stützen, sind die Verkäufe von Neubauten im Oktober im Vorjahresvergleich um knapp 28 Prozent eingebrochen. Schon 2022 war das Verkaufsvolumen desaströs mit einem Minus von bis zu 60 Prozent. Derweil liegen viele Bauprojekte auf Eis, weil die Finanzierung stockt und die Baufinanzierung neuer Projekte ist 2023 sogar fast auf Null gesunken.

Die Kombination aus einem immer noch bestehenden strukturellen Überangebot und einer sinkenden investiven Nachfrage der Privathaushalte muss eigentlich zur Folge haben, dass die Preise deutlich federn lassen. Das passiert gerade auch, allerdings sind die Rückgänge bisher relativ moderat. Die Verkaufspreise neuer Bauten sanken in der schlimmsten Phase Mitte 2022 in der Spitze um nur 2,4 Prozent, bei Bestandsimmobilien kam es zu einem Preisrückgang von bis zu 6 Prozent. Das sind jedenfalls die offiziellen Zahlen des nationalen Statistikbüros. Zahlen von Maklern und privaten Researchfirmen sprechen eine etwas andere Sprache. Demnach, so berichtet das Magazin „Fortune“, sind etwa in Shanghai und Shenzhen die Preise von Bestandsobjekten selbst in hervorragenden Lagen um mindestens 15 Prozent gefallen.

China hat aktuell mehr als genug Wohnimmobilien und die sind zudem nicht gerade günstig, preislich besteht also noch Luft nach unten. Sobald die Preise niedrig genug sind, könnte es einen kleinen Nachfrageschub durch diejenigen (männlichen) Chinesen geben, die sich bisher keine Immobilie leisten konnten. Gleichzeitig sinkt jetzt perspektivisch das Angebot, weil aufgrund der massiv gesunkenen Nachfrage und den Finanzierungsproblemen auch der Neubau eingebrochen ist (minus 39 Prozent in 2022).

Folgenschwere Fehlinvestitionen

Chinas fundamentales Problem: Von allem wurde schlichtweg zu viel gebaut, teilweise auch am falschen Ort. Stand 2018 standen ein Fünftel aller chinesischen Wohnungen und Apartments (130 Millionen Einheiten) leer, wie eine Studie der Southwestern University of Finance and Economics ermittelte. Ganze Stadtviertel und einige Riesenstädte sind unbewohnt. Es gibt leere Einkaufszentren und riesige Fabrikareale, die vermutlich nie mit Leben gefüllt werden.

Modernste Infrastruktur bleibt nahezu ungenutzt, wenn Gleise, Straßen und Brücken ins Niemandsland führen. Die Fehlallokation nimmt mitunter groteske Formen an. Guizhou, eine der ärmsten Provinzen des Landes, verfügt über mehr als 1.700 Brücken und 11 Flughäfen – mehr als die Gesamtzahl der Flughäfen in den vier größten Städten Chinas. Die Provinz hat schätzungsweise 390 Milliarden an ausstehenden Schulden und musste die Zentralregierung Anfang des Jahres um finanzielle Hilfe bitten, wie das Wall Street Journal berichtet.

Der Bauboom der letzten 25 Jahre hat sein Ende gefunden. Noch mehr staatliche Bau-Investitionen können eigentlich nur weitere Geisterstädte und Verkehrsanbindungen ins Nirgendwo zur Folge haben. Es fehlt schlichtweg an organischer Nachfrage und genügend Einkommen, um den gegenwärtigen Bestand auszufüllen. Eine Analyse von Bloomberg kommt zu dem Ergebnis, dass die Wohnungsbauinvestitionen in den nächsten zehn Jahren um 25 Prozent zurückgehen müssten, um das Angebot mit der Nachfrage in Einklang zu bringen.

Das könnte durchaus so passieren. Nach dem Kollaps von Evergrande steckt nun mit Country Garden der größte Entwickler des Landes in einer finanziellen Notlage. Ein endgültiges Platzen der Immobilienblase, eventuell in Kombination mit einer Implosion des überdimensionierten Schattenbankensystems, könnte eine verheerende Bilanzrezession auslösen. Der Aktienmarkt scheint dieses negative Szenario nun zunehmend zu diskontieren.

Chinas staatskapitalistisches Wirtschaftsmodell, das auf riesigen Investitionen von Staatsunternehmen in Städtebau, Infrastruktur und Schwerindustrie - und riesigen Staatsbanken, die das alles finanzieren - beruht, stößt bei einem BIP-Anteil der Investitionen von durchschnittlich 44 Prozent innerhalb der letzten 15 Jahren an seine Grenzen (globaler Durchschnitt laut Weltbank: 25 Prozent). Nicht hilfreich ist die Tatsache, dass die Staatskonzerne übermäßig viel Kredit im Verhältnis zu ihrer Wertschöpfung erhalten. Die weitaus produktiveren und innovativeren Privatfirmen kommen nicht so leicht an Darlehen, sie müssen umfangreiche Sicherheiten oder Garantien anderer Firmen vorweisen und um ein Vielfaches höher Kreditzinsen bezahlen.

Die Umstellung der Wirtschaft weg von subventionierter und schuldenfinanzierter Bau- und Schwerindustrie hin zu mehr Innovation und nachhaltigen Binnenkonsum (BIP-Anteil aktuell 38 Prozent) ist bislang nur mäßig erfolgreich. Damit die Transformation gelingt, muss die Regierung die Kräfte des Marktes mehr entfesseln. Aber der Kontrollzwang der Führungsriege um Jinping verleitet sie stattdessen dazu, immer stärker in die Unternehmensgeschicke einzugreifen. Noch mehr Planwirtschaft kann keine Lösung sein und das wissen auch die Investoren.

Lesen Sie dazu: Das wahre Problem mit Chinas Wirtschaft

Der angesehene Analyst Hong Hao (Ex-Geschäftsführer und Chefstratege von Bocom International Holdings, einer Tochtergesellschaft der staatlichen „Bank of Communications“) meint, es könne bis zu 10 Jahre dauern, um das Immobilien-Problem zu lösen und die Wirtschaft in ein strukturell gesünderes Wachstum in Branchen wie Hightech zu überführen. Das Potential ist durchaus da, so ist China etwa neben den USA führend in der Entwicklung von KI-Systemen. Problematisch ist, dass der Staat in diesen kritischen, zukunftsträchtigen Bereichen besonders stark involviert ist.

Stimmung der Investoren am Tiefpunkt

Zurück zum Kapitalmarkt. China-Aktien wurden so schnell abverkauft wie noch nie. Die Abflüsse ausländischer Fonds bei den sogenannten A-Aktien habe ein „beispielloses Niveau“ erreicht, schreiben Analysten von Morgan Stanley in einer aktuellen Mitteilung. Bei „A-Shares“ handelt es sich um ausschließlich in Festland China gelistete Werte, die für institutionelle Investoren über die Plattform „Hongkong Stock Connect“ zugänglich sind. Die Stimmung unter ausländischen Investoren ist auf einem Tiefpunkt angelangt, wie etwa die regelmäßige Umfrage der Bank of America unter US-Fondsmanagern zeigt.

Nach Berechnungen von Bloomberg sind die ausländischen Bestände an Aktien und Schuldtiteln des Landes seit Höchststand vom Dezember 2021 um umgerechnet rund 200 Milliarden Dollar oder 20 Prozent gesunken. Bei den Onshore-Aktien gab es allein seit August einen Rekordabfluss von 23 Milliarden Dollar. Ausländische Eigner verkauften 2023 bisher chinesische Staatsanleihen im Gegenwert von knapp 30 Milliarden Dollar. Grob die Hälfte der Zuflüsse in Höhe von 250 bis 300 Milliarden Dollar, die mit der Aufnahme Chinas in Staatsanleihen-Indizes seit 2019 einhergingen, sind laut Analysen von J.P. Morgan wieder verschwunden.

Das Vertrauen der Kapitalgeber ist arg überstrapaziert. Die Ausländer werfen einfach das Handtuch“, sagte Zhikai Chen, Leiter des Bereichs Asien und globale Schwellenländeraktien bei BNP Paribas, gegenüber Bloomberg. Großbanken und Vermögensverwalter an der Wall Street müssen zurzeit deutliche Umsatzeinbußen im China-Geschäft verkraften, weil die Kunden ihre Gelder aus den entsprechenden Asien- und Spezialfonds abziehen.

Selbst heimische Investoren scheinen das Vertrauen in die Zukunft des Landes zu verlieren. Dingtai Capital, ein in Shenzhen ansässiger Private-Equity-Investmentfonds, schockierte die Märkte Ende Oktober mit der Aufforderung an seine Anleger, ihre Fondsanteile zurückzugeben, und begründete dies mit einer „noch nie dagewesenen Unsicherheit“ über die wirtschaftliche Perspektive.

Kapitalflucht nimmt Fahrt auf

Zunächst flohen chinesische Investoren aus dem Westen, aktuell passiert es genau umgekehrt. China meldet erstmals seit Erfassung der Daten 1998 einen negativen Saldo bei grenzüberschreitenden Direktinvestitionen, im dritten Quartal 2023 flossen netto 11,8 Milliarden Dollar an Investitionssummen außer Landes. Alleine im September, so Schätzungen von Goldman Sachs, summierten sich Devisenabflüsse auf umgerechnet 75 Milliarden Dollar, 80 Prozent mehr als im August und der größte monatliche Betrag seit 2016.

Die Kapitalabflüsse sind vor allem der Tatsache geschuldet, dass multinationale Unternehmen inzwischen ihre in China erwirtschafteten Gewinne ins Heimatland zurückholen. Laut Wall Street Journal haben ausländische Konzerne in den letzten eineinhalb Jahren netto 160 Milliarden Dollar an Einnahmen aus dem Reich der Mitte abgezogen. In den Jahren 2013-2022 wurde noch in einer ähnlichen Größenordnung in das China-Geschäft reinvestiert. Das „Derisiking“ der globalen Wertschöpfungsketten ist in vielem Gange, ist aber nicht der einzige Faktor.

An dem Trend bei den Kapitalflüssen „wird sich so schnell nichts ändern, da die Zinsen in der Volksrepublik noch längere Zeit niedrig, in vielen westlichen Industrienationen dagegen hoch bleiben dürften“, resümieren Analysten von Goldman. Festverzinsliche Anlagen sind im Dollarraum weitaus attraktiver. Im wichtigen 10-Jahresbereich bringen US-Staatsanleihen (Rendite: 4,65 Prozent) rund zwei Prozent mehr Zinsen als vergleichbar China-Anleihen.

Entsprechend ist der Yuan auf Talfahrt und sank zuletzt auf ein 16-Jahrestief zum US-Dollar. Das ist insofern bemerkenswert, als dass der Negativtrend durch das Währungsregime noch gedämpft wird. Die chinesische Volksbank (PBOC) lässt den Yuan nur in einer Spanne von zwei Prozent um einen von ihr täglich festgelegten Mittelwert gegenüber dem Dollar handeln. Mit der Abwertung kommt auch eine relative Dollarstärke zum Ausdruck, der Greenback konnte sich von seinen Tiefs der ersten Jahreshälfte erholen. Unterdessen tragen Chinas Bemühungen zur Internationalisierung der eigenen Währung erste Früchte, die sich aber nicht in einem steigenden Wechselkurs widerspiegeln. Aktuell bekommt man 7,28 Yuan für einen Dollar.

Chinesische Staatsanleihen halten sich in diesem Umfeld überraschend stabil. 10-jährige Papiere rentieren aktuell mit 2,67 Prozent und damit eher am unteren Ende der Bandbreite. Wir vermuten, dass dafür nicht nur Markterwartungen über weitere Zinssenkungen, sonder auch die stetig sinkenden Dollar-Reserven Chinas verantwortlich sind. Die These: PBOC und Staatssbanken verkaufen Dollaranleihen und kaufen heimische Staatsanleihen auf. An Abnehmern wird es nicht mangeln. Als Gegenpartei dürften vorwiegend US-Großbanken auftreten, deren Kunden (Investoren, Privatanleger, Unternehmen) das China-Exposure rapide zurückfahren.

Um die Abwertung des Yuans zu stoppen, reichte das allerdings nicht, es hatte höchstens einen mildernden Effekt. Der Zinsabstand zu den USA ist wohl einfach zu groß, der Dollar zu fest und der Verkaufsdruck durch die ausländischen Investoren zu stark. „Der strauchelnde Yuan offenbart die Komplexität und Fülle von Chinas zugrundeliegenden wirtschaftlichen Stresspunkten inmitten eines Vertrauensdefizits“, erklärt Vishnu Varathan, leitender Analyst bei der Mizuho Bank. Weitere geldpolitische Lockerungen in China, wovon der Markt ausgeht, dürften das Währungsproblem weiter verschärfen.

Profi-Investoren schielen nach Indien

Das China-Exposure der meisten Privatanleger dürfte nicht allzu groß sein. Bei den institutionellen Investoren hat es einige übel erwischt. So etwa den US-Hedgefonds Tiger Global, der im großen Stil auf chinesische Titel setzt – zum 30. Juni machte allein die Online-Handelsplattform „JD“ 13 Prozent des Portfolios im Flaggschiff-Fonds aus.

Technologie-Konzerne wie Tencent, Alibaba und JD locken viele Fondsmanager mit einer – gerade in Relation zur amerikanischen Konkurrenz (Meta, Amazon und Co.) – sehr niedrigen Bewertung. Sie alle wurden in den letzten Jahren ordentlich abverkauft. Ähnliches gilt auch für Unternehmen, die nur in Festland China gelistet sind. Selbst CATL, Weltmarktführer in der Fertigung von Batterien für Elektrofahrzeuge, blieb vom Aktiencrash nicht verschont. Einer der ganz wenigen Lichtblicke unter den Schwergewichten ist Elektroauto-Produzent BYD, der aktuell massiv expandiert und aufgrund starker Absatz- und Gewinnzahlen vergleichsweise kaum an Börsenwert verloren hat.

Ein beliebtes Investmentvehikel, der ETF auf den MSCI China Index, ist in diesem Jahr rund 8 Prozent im Minus. Auf andere Schwellenländer hat das nicht so stark abgefärbt wie in der Vergangenheit. Der breiter gefasste MSCI Emerging Markets Index ist im gleichen Zeitraum um 3 Prozent gestiegen, da der Rest Asiens und Teile Lateinamerikas bei weitem nicht so stark abgestraft wurden. Christopher Wood, Chefstratege bei Jefferies und Asien-Experte, vermerkt, dass sich professionelle Investoren vor allem aufgrund von strukturellen Problemen zunehmend von China abwenden und stattdessen in Richtung Indien schielen.

Gegenmaßnahmen zünden nicht

Um gegen die Kapitalabflüsse und die Yuan-Schwäche vorzugehen, den Aktienmarkt zu stützen und eine mögliche Finanzkrise zu vermeiden, haben die Behörden eine Reihe von Maßnahmen auf den Weg gebracht. Durch eine Halbierung der Stempelsteuer wurden die Handelsgebühren an den Börsen in Festland China erheblich gesenkt, die Börse Hongkong will bald nachziehen. Darüber hinaus wurde ein beschleunigtes Verfahren zur Zulassung von börsengehandelten Fonds (ETFs) eingeführt. Weitere Eingriffe widmeten sich der Beschränkung von Leerverkäufen sowie Verkäufen durch Großaktionäre.

Außerdem hat „Central Huijin Investment“ (ein Zweig des chinesischen Staatsfonds) damit begonnen, ETFs sowie Aktien von Staatsbanken zu kaufen. Es ist das erste derartige Kaufprogramm seit dem Börsencrash 2015. Die Maßnahmen wirken etwas verzweifelt und sie brachten bislang auch keinen durchschlagenden Erfolg. Letzte Woche konnten sich die Aktienkurse ein wenig erholen, aber viel mehr als eine Gegenbewegung in einem rekordverdächtig überverkauften Markt mag man hier nicht erkennen.

Peking fürchtet sich vor einer Finanzkrise. Zuletzt sah sich Zentralbank-Chef Pan Gongsheng dazu gezwungen, die Märkte zu beruhigen, indem er erklärte, China werde eine Ansteckung der Risiken auf den Aktien-, Anleihe- und Devisenmärkten verhindern und für Stabilität sorgen. Statt Ursachen bekämpft die Regierung aber weiter nur die Symptome der Vertrauenskrise.

Die unterstützenden Schritte, auf die es ankäme, würden darin bestehen, mehr Raum für die Expansion des Privatsektors zu schaffen, indem die wirtschaftliche Rolle des Staates schrittweise reduziert wird. Dies scheint unter Xi sehr unwahrscheinlich zu sein“, meint Derek Scissors, Senior Fellow am American Enterprise Institute, gegenüber CNN.

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Jakob Schmidt ist studierter Volkswirt und schreibt vor allem über Wirtschaft, Finanzen, Geldanlage und Edelmetalle.


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