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„Bottom Fishing“ in China: Einmalige Chance für antizyklische Anleger?

Lesezeit: 8 min
19.11.2023 08:37  Aktualisiert: 19.11.2023 08:37
Der chinesische Aktienmarkt steckt in einer historischen Abwärtsspirale – die Kurse sind am Boden und die Stimmung der Investoren verheerend. Aber bekanntlich ist jede Krise auch eine Chance. Bieten China-Aktien jetzt eine günstige Einstiegsgelegenheit für langfristig orientierte Anleger?
„Bottom Fishing“ in China: Einmalige Chance für antizyklische Anleger?
China-Aktien sind so stark gefallen, dass ein gewaltiges Ausbruchs-Potential nach oben besteht. (Foto: dpa)

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Chinas Aktienmarkt steckt in einer tiefen Krise. Nach dem dritten Crash innerhalb der letzten 24 Monate sieht alles danach aus, dass 2023 das dritte Verlustjahr in Folge wird. Der Kursverläufe der wichtigsten Indizes CSI 300 (300 wertvollste in Festland China gelistete Unternehmen) und Hang Seng 50 (50 größte an der Börse Hongkong) sind nicht erst seit diesem Jahr eine einzige Enttäuschung.

Ein langfristiger Blick zeigt den enormen Geduldsfaden, den Anleger in diesem Markt haben müssen. Mit China-Aktien konnte man im letzten Jahrzehnt vor allem prima Geld verlieren.

Ein beliebtes Investmentvehikel, der ETF auf den MSCI China Index, ist dieses rund 6,5 Prozent im Minus. Der volatilere Nasdaq Golden Dragon Index, der in den USA notierte Aktien chinesischer Unternehmen wie Alibaba, JD und Pinduoduo abbildet, verlor seit Jahresbeginn um 20 Prozent. Im Vergleich zum Allzeithoch hat der Index zwei Drittel seines Werts eingebüßt.

Zuletzt waren die Kurse ein wenig verbessert. Das lag aber wohl nicht an erfolgreichen Gegenmaßnahmen der Behörden, sondern schlichtweg daran, dass eine zarte Gegenbewegung in dem stark überverkauften Markt überfällig war. Chinesische Tech-Aktien profitierten zusätzlich, weil die oberste Internet-Regulierungsbehörde einen Entwurf zur Vereinfachung von grenzüberschreitenden Datentransfers veröffentlichte.

Die Anleger-Stimmung ist weiter verheerend, das Vertrauen in China erodiert. Die Risiken sind vielfältiger Natur: Wirtschaftlich, regulatorisch, geopolitisch. Im Moment kommen viele negative Faktoren zusammen, die eine bedrohliche Kapitalflucht ausgelöst haben. Michael Hartnett, Aktien-Stratege bei der Bank of America, kommentiert dazu: „Investoren sehen Chinas Immobilienmarkt als wahrscheinlichsten Auslöser für das nächste globale Kreditereignis.“ Und das ist bei weitem nicht die einzige Sorge. Die harte Regulierung gegen Digitalfirmen hat die Anlegerschaft verunsichert. Weitere große Risikofaktoren sind verschärfte Handelsstreitigkeiten mit den USA (Halbleiter, seltene Metalle) und eine Eskalation des Taiwan-Konflikts.

Viele ausländische Investoren haben resigniert das Handtuch geworfen und die Industrie investiert mittlerweile lieber in Chinas Nachbarländer. Gegenmaßnahmen der Finanz-Aufseher wie etwa die Reduktion der Handelsgebühren und Stützkäufe eines staatlichen Fonds am Aktienmarkt blieben größtenteils wirkungslos.

Internationale Analysten fordern begleitend große Stimulus-Maßnahmen für die angeschlagene Realwirtschaft. Die Zinssenkungen der Notenbank wirken bisher nur minimal. Der wichtigste Referenzzins, die einjährige Loan Prime Rate (Kreditzins, den Geschäftsbanken ihren Kunden mit der höchsten Bonität gewähren), wurde seit Anfang 2022 in Minischritten von 3,80 auf aktuell 3,45 Prozent gesenkt. Darüber hinaus wurden die Hypotheken-Zinsen und die Mindestkapital-Anforderungen gesenkt.

Dem Bankensystem wurde indes Mitte Oktober via MLF-Krediten und Rückkaufvereinbarungen eine Liquiditätsspritze in Höhe von umgerechnet 110 Milliarden Dollar gewährt, schon vorher wurde der Mindestreservesatz ein weiteres Mal um 25 Basispunkte gesenkt. All diese kleinen Maßnahmen sollen die Kreditvergabe ankurbeln. Die Kreditnachfrage ist jedoch gering und die Stimmung bei Konsumenten und Unternehmen gleichermaßen schlecht.

Zusätzlich legt das Politbüro alle paar Monate ein kleines Konjunkturpaket auf: Aktuell befindet sich ein neues Paket in Höhe von rund einer Billion Yuan (135 Milliarden Dollar) in Planung, der Fokus liegt wenig überraschend auf Infrastruktur.

Warten auf die „Bazooka“

All das reiche bei weitem nicht, meint Baki Irmak, Geschäftsführer von Pyfore Capital. Das, was von der Regierung bisher an Unterstützungsmaßnahmen kam, sei viel zu wenig um den Aktienmarkt zu stützen, so der Fondsmanager im Gespräch mit den DWN. Westliche Investoren wurden vergrault. Auch unter den Chinesen selbst ist viel Vertrauen verloren gegangen. Die Konsumenten streiken, sie trauen der eigenen Wirtschaft nicht mehr, sehen ihr zukünftiges Einkommen gefährdet. Die Sparquote der privaten Haushalte gehörte schon vor Corona mit über 40 Prozent in der letzten Dekade zu den höchsten der Welt.

Wie Irmak erklärt, wartet der Markt seit langer Zeit auf eine geld- und wirtschaftspolitische „Bazooka“ – also einen massiven Geldmengen-Impuls und rekordhohe Fiskalausgaben für die angeschlagene Wirtschaft. China kann es sich erlauben, schließlich ist das gegenwärtige Umfeld leicht deflationär und die Zinsen haben noch Luft nach unten.

Die Frage ist: Wie lange kann man noch geldpolitisch stimulieren? Die Zinsdifferenz zu den USA ist mittlerweile so groß, dass der Yuan schon richtig unter Druck geraten ist. „Es gibt noch Spielraum für Zinssenkungen und Senkungen der Mindestreservesätze, aber es stellt sich die Frage der Nachhaltigkeit“ sagte Guan Tao, Chefökonom von Bocom International und ehemaliger Beamter der Staatlichen Devisenverwaltung, gegenüber Reuters.

Fragwürdig ist auch die Nachhaltigkeit der ständigen Infrastrukturausgaben. Fiskalpolitisch sind jetzt neue Rezepte gefragt. Auf dem Häusermarkt brennt es lichterloh, die Verkäufe sind sturzflugartig eingebrochen und trotz Zinssenkungen sinken die Preise. Manche Experten fordern, dass die Zentralregierung als Käufer im Immobiliensektor aktiv werden soll. Eine weitere Option bestünde darin, den Konsumenten zu stimulieren, statt weiter Brücken ins Nirgendwo zu bauen. Das könnten zum Beispiel über großzügige Steuersenkungen passieren. Es steht sogar im Raum, dass die Bürger direkt mit Geldzahlungen unterstützt werden könnten, um den Konsum in der gesamten Wirtschaft anzufachen – vergleichbares passierte in den USA während der Coronakrise mit den sogenannten „Stimulus Checks“.

Weniger Kontrolle, mehr Markt

China wäre zudem gut beraten, das Vertrauen der ausländischen Investoren wiederherstellen, die für das Land von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind. „Sie müssen zeigen, dass die harten Regulierungen vorbei sind und zugeben, dass man in der Vergangenheit übertrieben hat.“, sagt Irmak. In diesem Zuge sei es wichtig, etwa Alibabas FinanzarmAnt“ und den Fahrtvermittlungs-DienstleisterDidi“ doch noch an die Börse gehen zu lassen. „Diese Kommunikation müsste von Präsident Xi selbst oder einer Person aus seinem engsten Umfeld kommen“, fügt der Anlageexperte hinzu.

Die großen Tech-Konzerne konnten jahrzehntelang mehr oder weniger machen, was sie wollten. Bis Peking die Unternehmen zu groß und mächtig wurden. Im Rahmen des verschärften Anti-Monopol-Gesetzes griff die Zentralregierung hart durch. Die Regulierungswut begann, als dem Börsengang der Alibaba-Tochter „Ant Financial“ (heute: Ant Group) ein Riegel vorgeschoben wurde. CEO Jack Ma verschwand daraufhin für viele Monate von der Bildfläche. Als nächstes ging es zahlreichen Homeschooling-Anbietern an den Kragen.

Die Digital-Konglomerate mussten sich verkleinern, Alibaba beispielsweise wurde zu einer Holding-Company mit sechs unabhängigen Tochtergesellschaften umstrukturiert. Zudem wurden im Rahmen der neuen Politik des „gemeinsamen Wohlstands“ de facto Zwangs-Spenden eingesammelt, was die Gewinne der Großunternehmen erheblich schmälerte. Die Message ist klar: Die Konzerne sind nur geduldet, die wahre Macht liegt weiterhin bei Präsident Xi Jinping und seinen Funktionären.

Für die Märkte, die Stabilität lieben, ist so ein geschäftsfeindliches Umfeld toxisch. Anleger wie Unternehmer fürchten sich vor härteren bis hin zu erratischen staatlichen Regulierungen. Regelmäßig kommt es zu Säuberungswellen in hochrangigen Parteikreisen und den sozialen Medien. Hin und wieder verschwinden erfolgreiche Konzernchefs oder Großfinanziers einfach von der Bildfläche. Das krampfhafte Festhalten Jinpings an der Null-Covid-Politik bis ins Jahr 2023 hinein wurde im Rest der Welt ebenfalls mit Unverständnis aufgenommen.

Xi Jinpings übergriffige Politik hat das Kapital nachhaltig verschreckt, sodass es jetzt wieder behutsam herangeführt werden muss. Der langjährige Präsident hat sich vom pragmatischen Weg seiner Vorgänger abgewendet und einen ideologischen Pfad eingeschlagen. Er hatte, so die Einschätzung Irmaks, wohl nicht damit gerechnet, dass ihm die Kapitalmärkte dafür letztendlich die rote Karte zeigen. „Der Markt zwingt Xi zum Umdenken.“ Staat immer mehr staatlicher Kontrolle sei es jetzt an der Zeit zu deregulieren und das Vertrauen der Investoren zurückzugewinnen.

Es gibt so viele tolle innovative Unternehmen in China, die Technologieführer sind“, meint der Fondsmanagernicht nur bei E-Mobilität und Batterien, sondern zum Beispiel auch in Branchen wie Social Commerce. Diese wirtschaftliche Kraft müsse entfesselt werden, indem die Unternehmer wieder mehr Freiraum bekommen.

China-Aktien sind historisch billig

Wenn das passiert, dann könnten wir einen großen Aktienboom erleben. Indes sind die Börsen so stark gefallen, dass es auch ohne diese Erwartungshaltung interessante Kaufchancen gibt. „Chinas Aktienmarkt ist so niedrig bewertet wie seit Jahrzehnten nicht mehr“, erklärt Baki Irmak gegenüber den DWN. „Die politische Risiken sind schon stark eingepreist“. Chinesische Firmen handeln mit einem teils gewaltigen Abschlag zur amerikanischen Konkurrenz, wenn man sich gängige Bewertungsfaktoren wie das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV), Kurs-Umsatz-Verhältnis, Kurs-Buchwert-Verhältnis und Enterprise-Value-zu-EBITDA anschaut. Ein Beispiel: Das KGV des MSCI China Index liegt mit 12,4 nur etwa halb so hoch wie beim MSCI USA mit 22,75. Chinas Aktienmarkt ist am unteren Ende der historischen Bewertungs-Bandbreiten angekommen.

Hier bieten sich demnach attraktive Einstiegsmöglichkeiten mit Chancen auf Überrendite. Der Fondsmanager nennt als Beispiel Alibaba, wo allein der Cashbestand 50 Prozent der gesamten Marktkapitalisierung ausmache. Für JD liege dieses Verhältnis bei rund 75 Prozent. Beide Unternehmen haben deutlich mehr Cash als Schulden. Bei kleineren Werten könne es in seltenen Fällen auch mal über 100 Prozent sein. Vereinzelt haben Firmen sogar einen negativen Unternehmenswert (Enterprise Value) – dies bedeutet, dass die Summe aus Börsenwert und allen ausstehenden Schulden geringer ist als liquide Mitte in der Bilanz stehen. Bei einer solchen Finanzmarkt-Anomalie ist die Firma quasi umsonst. Mehr noch: Im übertragenen Sinne bekommt der Käufer Geld dafür, dass er überhaupt gekauft hat.

Zugleich betont Irmak, dass Investieren in China beileibe nicht für jeden geeignet ist. „Das ist nur etwas für sehr langfristig denkende Anleger mit hoher Verlusttoleranz. Man muss mit der Volatilität klarkommen und sich der politischen Risiken stets bewusst sein.“ Beim Kauf von Einzelaktien müsse man das Unternehmen sehr gut kennen und verstehen – in China dürfte das schwieriger sein als in den USA. Ansonsten, erklärt der Anlageexperte, wäre ein China-Fonds oder China-ETF die bessere Lösung. Irmaks Firma Pyfore Capital verwaltet zwei Fonds mit dem Fokus auf Digitalunternehmen. Der Flagschiff-Fonds „Digital Leaders Fund“ ist zu rund 15 Prozent in China-Aktien investiert. Beim „Emerging Markets Digital Leaders Fund“ macht China 30 Prozent aus.

Eine ähnliche Ansicht hat auch Portfolio-Manager Moritz Hessel, der mit seiner Firma „MH Total Return“ die namensgebende Total-Return-Strategie verfolgt (Setzen auf steigende und fallende Kurse unterschiedlicher Wertpapiere). „Das Bewertungsniveau chinesischer Aktien ist im Vergleich zu US-Aktien niedriger und bietet aufgrund des schnellen Wachstums und hohen Bargeldbestands ein gewisses Potenzial“, erklärt er schriftlich gegenüber den DWN. Investitionen in China-Aktien sollten jedoch mit Bedacht und diversifiziert erfolgen. Die Unsicherheiten und politischen Risiken müsse man im Auge behalten, ein Totalverlust sei „grundsätzlich möglich. Zudem rät er Anlegern dazu, sich auf solide Unternehmen und Technologiewerte zu fokussieren und gegebenenfalls Absicherungsstrategien zu nutzen.

Antizyklische Mega-Chance

Fakt ist: Die Anleger-Stimmung bezüglich China ist so schlecht wie vielleicht nie zuvor, das Interesse am chinesischen Markt gefühlt auf einem Allzeittief. Niemand scheint kaufen zu wollen. Die allermeisten westlichen Fondsmanager sind längst nicht mehr investiert, was als Kontraindikator gewertet werden kann. Mit der jüngsten Verlustwelle hat es auch viele hartgesottenen Profis aus dem Markt geschwemmt. Jetzt ist die Zeit der „Bottom Fisher“. Deren These lautet grob gesagt: In den Kursen ist schon so viel negatives abgebildet, dass es nicht mehr viel schlimmer kommen kann, selbst wenn weitere schlechte Nachrichten eintrudeln.

Für antizyklische Anleger bietet sich hier eine große Chance. Es gilt jedoch zu beachten, dass der Markt in einem Abwärtstrend steckt und locker nochmal 20 Prozent fallen kann. Ein „All-in“ auf China-Aktien ist demnach nicht zu empfehlen. Aber risikoaffine Anleger können über den Aufbau erster Positionen nachdenken. Die Gefahr besteht vordergründig in noch schlimmeren Verwerfungen am Häusermarkt, was wahrscheinlich zu einer abschließenden Verkaufswelle führen würde.

Die entscheidende Frage ist, wie man dieses Risiko einschätzt. So sind etwa manche Finanzexperten der Meinung, dass Chinas Immobilienkrise nicht dieselbe Tragweite entfalten wird wie damals die Subprime-Krise in den USA, weil es sich auf den Neubau konzentriert und nicht wie in den USA die exzessive Beleihung von Bestands-Immobilien beinhaltet. Dafür war die US-Krise aber bei weitem nicht so groß in ihrer Dimension und hatte nichts mit gigantischen staatlichen Fehlinvestitionen zu tun. Zudem müssen Anleger das allergrößte übergeordnete Risiko jederzeit im Hinterkopf haben: Den chinesischen Staat und seinen Kontrolldrang. Wie heißt es so schön: „Politische Börsen haben kurze Beine.“ Kein Aktienmarkt ist so politisch wie der in China.

Lesen Sie morgen, wie Privatanleger konkret in chinesische Aktien investieren können, welcher China-Anteil im Portfolio sinnvoll ist und vieles mehr.

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Jakob Schmidt ist studierter Volkswirt und schreibt vor allem über Wirtschaft, Finanzen, Geldanlage und Edelmetalle.

Dieser Text ist keine Anlageberatung. Jede Anlage am Kapitalmarkt ist mit Chancen und Risiken behaftet. Der Wert der genannten Aktien, ETFs oder Investmentfonds unterliegt auf dem Markt Schwankungen. Der Kurs der Anlagen kann steigen oder fallen. Im äußersten Fall kann es zu einem vollständigen Verlust des angelegten Betrages kommen. Mehr Informationen finden Sie in den jeweiligen Unterlagen und insbesondere in den Prospekten der Kapitalverwaltungsgesellschaften.

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