Immobilien

Anders leben: Wie Berlin jungen Mietern neues Wohnen schmackhaft macht

Lesezeit: 5 min
30.12.2023 14:22  Aktualisiert: 30.12.2023 14:22
Immer mehr kommunale Vermieter in deutschen Städten versuchen sich gerade neu zu erfinden. Zum Beispiel die WBM in Berlin, die Ende des Jahres den ersten Spaten in die märkische Erde gestochen hat für einen Neubau mit neuartigem Wohn-Konzept. Sozialwohnungsbau, gänzlich neu interpretiert.
Anders leben: Wie Berlin jungen Mietern neues Wohnen schmackhaft macht
Ziemlich abgehoben: Dieses Rendering der Architekten Love Architecture aus Österreich veranschaulicht den geplanten Otto-Lilienthal-Riegel an der Köpenicker Straße 104-114 in Berlin samt der 52 trendy Cluster-Wohnungen. (Foto: Love Architecture and Urbanism)

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Cluster-Wohnen heißt die neue Idee, die Hipster in Berlin-Mitte abholen soll am Immobilienmarkt. Die Gestaltung der Mietverträge dürfte indessen, ganz und gar alltäglich, interessant werden. Die Deutschen Wirtschaftsnachrichten stellen wir den Wohntrend der Post-Corona-Zeit hier erstmals vor. Eine ganz eigene Art von Gemeinschafts-WG scheint sich da zu etablieren, nicht nur in Berlin, sondern in Zürich und Wien, Köln und anderen Hotspots.

Der Genius loci: Schon Otto Lilienthal, pommerscher Ingenieur und großer Flugpionier, umtrieben hier hochfliegende Pläne an der Köpenicker Straße 104-114 in Berlin. In einer Dampfmaschinen-Fabrik hat er einst in der Luisenstadt, südlich des Spree-Ufers, anno 1883 seine ersten Flieger verleimt und montiert - unter dem Namen Normalsegel-Apparate gingen die Fluggeräte im Hinterhof in Serie. Was für eine Vorgeschichte - die perfekte Werbung für das neue Berlin.

Ungeklärt, was aus dem Denkmal für Lilienthal wird

Eine unansehnliche Stele, anlässlich der Luftfahrtmesse ILA 2006 aufgestellt und inmitten eines Parkplatz-Streifens versteckt, erinnert also an die Anfänge deutscher Luftfahrt. Doch: Die Parkplätze sind längst entwidmet, und auch das Denkmal soll Baggern und letztlich einem prestigeträchtigem Neubau der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM) weichen. Die vom Büro Love Architecture and Urbanism (Graz/Berlin) geplante Häuser-Reihe um U-Bahnhof Heinrich-Heine-Straße, dem alten Grenzkontrollpunkt für Bundesbürger bei der Einreise nach Ost-Berlin, auch in wohnlicher Zukunft den Namen Otto-Lilienthal-Riegel tragen wird, ist bislang nicht ausgemacht.

Über 50 Cluster-Wohnungen im Haus geplant

Wohl aber, dass Berlin im Bereich Sozialwohnungen damit neue Wege beschreiten will und gewissermaßen - wie Otto Lilienthal - in neue Sphären abzuheben versucht. 102 Wohnungen sollen bis Ende 2025 in dem geplanten Gebäude-Riegel entstehen - 52 davon sind ausdrücklich als „Cluster-Wohnungen“ konzipiert. Was das genau heißt, wird sich erst noch praktisch erweisen müssen.

Mehr als 40 Seiten umfasst ein eigens von der WBM verfasstes Handbuch über das experimentelle Wohnen, das wohl seinen begrifflichen Anfang in der Gartenstadt-Bewegung Ebenezer Howards vor 100 Jahren nahm: „Living in clusters“, in einem Haufen zusammen wohnen, beschreibt heutzutage neudeutsch die Konzentration von Unternehmen, den Verbund von Wissenschaftlern und nun auch Mietern in einer Art Wertschöpfungskette.

Egal ob in der Schweiz, im Schwabenland oder in Dänemark, jede Kultur hat persönliche Vorlieben für ein perfektes Get-together. Es könnte auf dem Dachgarten sein, am Grillplatz, im Kinoraum oder an der Tischtennisplatte im Keller. Auf den Mehrwert, besser Wohnwert, kommt es an. Das Miteinander der Gemeinschaft, und trotzdem die unbedingte Chance des Rückzugs in die eigenen vier Wände - falls einer dem anderen zu sehr auf die Pelle rückt.

Jene Handreichung der WBM veranschaulicht, wie das beengte WG-Zimmer durch Zugang zu Küche und Wohnzimmer und Gemeinschaftsräumlichkeiten die übliche Ein-Zimmer-Tristesse sprengt, ohne viel teurer zu werden als ein Micro-Apartment. Oder um es mit den Worten der Autoren zu beschreiben:

„Die Idee ist einfach: Autarke Wohneinheiten unterschiedlicher Größe werden mit gemeinschaftlichen Räumen zusammengeschlossen. Dadurch können Menschen im Vergleich zum regulären Wohnungsmarkt kostengünstiger wohnen. Gleichzeitig eröffnen die Gemeinschaftsflächen eine räumliche Freizügigkeit, wie man sie in üblichen Mietwohnungen nicht vorfindet.“

Die städtische WBM denkt schon seit Jahren für derartige Wohnexperimente nach, und sie möchte sie auch andernorts umsetzen, wie Pressesprecherin Karen Jeratsch den DWN erklärte. In den Love-Häusern entlang der Köpenicker Straße, vis-á-vis vom berühmten Sage-Club, soll das Modellvorhaben anno 2025 erstmals dem Praxistest unterzogen werden. Das heißt: Mieter ziehen ein, bekommen Mietverträge und müssen Erfahrungen über das künftige Miteinander in ihrer Gemeinschaftsunterkunft sammeln. Vor allem müssen sie mit dem Lärm der Nachbarschaft umzugehen lernen, dafür haben die Architekten gut belüftete Fenster entwickelt, die man nicht mal mehr öffnen muss.

Cluster-Mietvertrag - für den Advocatus Diaboli

Das dürfte alles sehr spannend werden. Noch scheint die Rechtsabteilung der WBM in der Findungs-Phase zu stecken. Seit über zehn Jahren ist das Vorzeige-Projekt schon in der Pipeline. Der erste Spaten steckt im Detail.

Es seien prinzipiell zwei Vertragsmodelle denkbar, heißt es. In Form von Einzelverträgen mit den Mietern zum Beispiel, die dann in einer Anlage zum Mietvertrag je Nutzungseinheit eine detaillierte Gemeinschaftsordnung unterschreiben mögen. Denn da es bei Auszug und der Neuvergabe garantiert ordentlich Beef gibt zwischen den Bewohnern, sollen präzise Vorgehensweisen ausgearbeitet werden für den Fall aller Streitfälle. Und die Paragraphen im Mietvertrag müssen, das besagt die Lebenserfahrung, dann auch dem gestrengem Blick der deutschen Gerichtsbarkeit standhalten.

Die andere Alternative wäre, den ganzen Ärger gleich bei geschulten und geduldigen Sozialarbeitern abzuladen. „Die Vermietung einer Cluster-Wohnung anhand eines Generalmietvertrages wird präferiert“, heißt es bei der WBM. Am liebsten wäre der dortigen Geschäftsführung natürlich, wenn ein Hauptmietvertrag mit einem sozialen Träger geschlossen würde, der als Hauptmieter den Bewohnern in gewisser Weise „Untermietverträge“ offeriert.

Die Einschränkung folgt auf dem Fuße: Bei geförderten Wohneinheiten könne dies „unter Umständen gar nicht umgesetzt werden“, da die Einhaltung der Belegungsbindung per Wohnberechtigungsschein (WBS) sicherlich „haftungsrechtliche Konsequenzen gemäß Fördervertrag“ beinhaltet. In jedem Fall behält sich die WBM schon mal ein Sonderkündigungsrecht vor.

Scheint so, als könnte es da noch auf das Kleingedruckte ankommen in der Zukunft. Immerhin verspricht die WBM dem Steuerzahler, den klaren Fokus auf sozialverträgliche Mieten zu behalten. Gemäß Kooperationsvereinbarung sind 50 Prozent der Wohnungen im Neubau Mietpreis gebunden - und somit nur WBS-Berechtigten vorbehalten. Für den Rest der Neubauwohnungen gilt, dass diese für eine Nettokaltmiete von durchschnittlich maximal elf Euro pro Quadratmeter angeboten werden müssen. Familien, Alleinerziehende, Senioren, Singles und auch Studenten sind die Zielgruppen der WBM für ihr Cluster-Modell. Die WBM nennt dies die „Berliner Mischung“ im Mitte-Kiez.

Spannend wird ganz sicher die Auswahl der Mieter: „Um eine faire und nachhaltige Vergabe an Gruppen zu gewährleisten, kann die WBM Mini-Wettbewerbe mit transparenten Vergaberichtlinien, angelehnt an Konzeptvergabe-Verfahren, ausrichten. Dabei liefert eine Punkte-Vergabe, anhand vorab definierter Kriterien, die Bewertungsgrundlage.“

Also Schufa-Auskünfte, möchte man meinen, nur ganz anders gedacht. Denn auf finanzielle Leistungsfähigkeit kommt es ja trotzdem an. Das Mieter-Cluster muss sich zusammen hinsetzen in der bei Ikea bestellten Gemeinschaftsküche, und ihr Gruppen-Netto-Einkommen ausrechnen, da maximal 30 Prozent für die Grundmiete ausgegeben werden sollen.

Gruppendynamische Gespräche am Küchentisch

Da jede Cluster-Wohnung aus etwa vier bis sechs Wohneinheiten besteht und dort je nach Variante bis zu 14 Personen leben, dürften die Verhandlungen gruppendynamisch spannende Prozesse garantieren. Es sollen sich einerseits größere generationsübergreifende Wohngruppen zusammenfinden. Als Zielgruppen schweben der WBM Familien, Paare, Alleinerziehende mit Kindern und Freunde vor, „die gemeinsam wohnen möchten“ - für Cluster-Wohnungen aus Ein- bis Drei-Personen-Units.

Die kleinere individuelle Wohngruppe andererseits richtet sich vorrangig an Einzelpersonen oder auch Paare oder andere Zweier-Konstellationen (Auszubildende/Studierende oder Senioren). Die Bewohner-Zahl sollte maximal sieben Personen betragen, und die jeweilige Cluster-Wohnung vornehmlich aus Ein- und Zwei-Personen-Einheiten bestehen.

Ein Reibungspunkt dürfte sicherlich die Umlage der Nebenkosten sein. Wer die Gemeinschaftsflächen schlecht gelaunt eher selten frequentiert, favorisiert vermutlich nicht, die Nebenkosten nach seinen Quadratmetern berechnet zu sehen, sondern möchte maximal ein kleines Eintrittsgeld veranschlagt wissen - Solidarität unter den Mitbewohnern hin oder her.

10179 Berlin: WBM nimmt Bewerbungen entgegen

Die Erkenntnis lautet: „Um das Zusammenleben einer großen Gruppe reibungslos zu organisieren, braucht es viel Kommunikation und Kompromissbereitschaft aller Beteiligten“, ahnen die Autoren des WBM-Handbuches. Gleichwohl würde die WBM „den Gruppen bei ihrer internen Organisation möglichst freie Hand lassen“. Dass die Wohnungen in den begrünten Innenhöfen des Lilienthal-Riegels in Berlin ein Traum sind, steht außer Frage. Sich dafür jetzt bei der WBM in Berlin anzustellen, könnte eine Entscheidung sein, die fraglos das Leben verändern würde.

Die WBM teilt mit, dass sich Interessenten schon jetzt bewerben könnten. Das neue Berlin und das Wohnen der Zukunft hat eine Anschrift in 10179 Berlin.

                                                                            ***

Peter Schubert ist stellv. Chefredakteur und schreibt seit November 2023 bei den DWN über Politik, Wirtschaft und Immobilienthemen. Er hat in Berlin Publizistik, Amerikanistik und Rechtswissenschaften an der Freien Universität studiert, war lange Jahre im Axel-Springer-Verlag bei „Berliner Morgenpost“, „Die Welt“, „Welt am Sonntag“ sowie „Welt Kompakt“ tätig. 

Als Autor mit dem Konrad-Adenauer-Journalistenpreis ausgezeichnet und von der Bundes-Architektenkammer für seine Berichterstattung über den Hauptstadtbau prämiert, ist er als Mitbegründer des Netzwerks Recherche und der Gesellschaft Hackesche Höfe (und Herausgeber von Architekturbüchern) hervorgetreten. In den zurückliegenden Jahren berichtete er als USA-Korrespondent aus Los Angeles in Kalifornien und war in der Schweiz als Projektentwickler tätig.



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