Politik

Gastkommentar: "Europa muss den Aufstieg der Rechtsextremen bekämpfen"

Europäische Nationalisten erringen bedeutende Siege und stellen das politische Gleichgewicht im Europäischen Parlament auf die Probe. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament haben rechtsextreme, populistische Parteien außergewöhnlich gut abgeschnitten.
19.06.2024 08:12
Aktualisiert: 19.06.2024 08:52
Lesezeit: 4 min
Gastkommentar: "Europa muss den Aufstieg der Rechtsextremen bekämpfen"
Marine Le Pen (Mitte), die Vorsitzende der französischen rechtsextremen Partei „Rassemblement National“, steht zusammen mit Giorgia Meloni (links), Präsidentin der nationalkonservativen italienischen Partei „ Fratelli d’Italia“ im italienischen Fernsehen (Foto: dpa). Foto: Alessandro Di Meo

In Frankreich, Italien und drei weiteren Ländern konnten sie die höchste Zahl von Stimmen für sich verbuchen. Mit einem Viertel der Sitze im Parlament liegen sie insgesamt jetzt nur knapp hinter der gemäßigten Rechten.

Für Europa, das bereits unter dem Krieg in der Ukraine, der Gefahr einer zweiten Trump-Präsidentschaft in den Vereinigten Staaten, stagnierenden Lebensstandards, überlasteten Sozialsystemen und extremen Wetterereignissen leidet, sind die Nationalisten eine massive Bedrohung. Häufig sympathisieren diese Parteien mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin oder lehnen Klimapolitik, Migranten und EU-Institutionen entschieden ab.

Den etablierten europafreundlichen Parteien bleiben allgemein drei Möglichkeiten, auf diese Entwicklung zu reagieren: Nachlässigkeit, Anpassung oder Gegenangriff. Beginnen wir mit der Option, so weiter zu machen wie bisher. Viele Europäer glauben (fälschlicherweise), EU-Wahlen seien bedeutungslos. Die Wahlbeteiligung ist viel geringer als bei nationalen Wahlen, und viele Menschen geben Proteststimmen ab, die sich häufig gegen die Regierungsparteien richten.

Trotzdem haben die proeuropäischen Parteien im nächsten Parlament immer noch die Mehrheit. Die gemäßigt rechte Europäische Volkspartei (EVP) unter der Leitung der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat sogar Sitze hinzugewonnen.

Außerdem sind die rechtsextremen Parteien zutiefst gespalten. Sie teilen sich in zwei rivalisierende parlamentarische Gruppen auf, und einige gehören sogar keiner von beiden an. Sie sind sich uneinig über den Ukrainekrieg, die Wirtschaftspolitik, LGBTQ-Rechte, und – am wichtigsten – ob sie innerhalb des EU-Systems oder gegen das System arbeiten sollen. Durch diese Spaltung wird ihr Einfluss unweigerlich verringert.

Aber trotzdem ist Nachlässigkeit gefährlich. Die politische Mitte hat nur gehalten, weil sie weiter definiert, ist als je zuvor: Sie umfasst nicht nur die EVP und die Sozialdemokraten (S&D), sondern auch die klassischen und sozialen Liberalen von Renew Europe und die Grünen. Von der Leyen scheint im Parlament genug Stimmen auf sich vereinen zu können, um als Kommissionspräsidentin wiedergewählt zu werden – aber nur knapp. Und bei einer geheimen Abstimmung kann alles passieren. Dies lässt kaum auf eine starke und stabile EU-freundliche Mitte schließen – insbesondere auch deshalb, weil die EVP zulegen konnte, indem sie Wahlkampf gegen die grüne EU-Agenda gemacht hat.

Noch beunruhigender ist, dass sich in wichtigen Mitgliedstaaten die politische Landschaft durch die Wahl verändert hat. Trotz Neonazi-Tendenzen und fragwürdigen Kontakten zu Russland und China wurde die extremistische AfD in Deutschland zweitstärkste Partei – noch vor der SPD des Kanzlers Olaf Scholz. Und in Frankreich hat die Nationale Sammlungsbewegung 32% der Stimmen gewonnen, mehr als doppelt so viel wie die zentristische Partei des Präsidenten Emmanuel Macron – eine krachende Niederlage, die Macron dazu gebracht hat, vorgezogene Neuwahlen auszurufen. Also sind die beiden mächtigsten europäischen Staatschefs massiv geschwächt, was die EU angesichts immenser wirtschaftlicher, sicherheitspolitischer und klimatischer Herausforderungen potenziell führerlos macht.

Die zweite Möglichkeit ist, sich an die Rechtsextremen anzupassen, was auf nationaler Ebene häufig stattfindet: Insbesondere in der Migrationspolitik übernehmen viele Mitte-Rechts-Parteien (und auch einige gemäßigte Linke) die Sprache und die Politik der Extremisten. In einigen Mitgliedstaaten regieren sie sogar gemeinsam.

Auf EU-Ebene argumentieren manche Pragmatiker, einige rechtsextreme Parteien könnten in den konservativen Mainstream integriert werden. Betrachten wir nur, wie von der Leyen die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni umwirbt, die sich (trotz der neofaschistischen Wurzeln ihrer Partei Fratelli d’italia) als traditionelle Konservative präsentiert – und sich dadurch beliebt gemacht hat, dass sie mit den EU-Institutionen zusammen arbeitet anstatt gegen sie. (Dieser Trick ist bekannt: Nach ihrem Kampf mit den EU-Behörden, der 2015 beinahe zum Ausschluss Griechenlands aus der Eurozone geführt hat, konnte auch die stramm linke Syriza-Regierung in das Lager der EU-Unterstützer gelockt werden.)

Die Gefahr ist aber, dass nicht die Rechtsextremen von den gemäßigten Rechten vereinnahmt werden, sondern umgekehrt. Denken wir daran, wie sich die EU-Asylpolitik von der Willkommenskultur der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel des Jahres 2015 zur überwiegenden Flüchtlingsfeindlichkeit der heutigen Zeit wandeln konnte. Darüber hinaus können rechtsextreme Parteien davon, dass ihre Ansichten salonfähig werden, auch profitieren, wie der Sieg der Freiheitspartei von Geert Wilders bei den niederländischen Wahlen des letzten Jahres gezeigt hat.

Der Versuch, die extreme Rechte zu vereinnahmen, kann auch spektakulär nach hinten losgehen: Die Fidesz-Partei des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán gehörte beispielsweise einmal der EVP an. Jetzt ist Orbán ein Putin-freundlicher Abtrünniger, der Rechtsstaatlichkeit und demokratische Errungenschaften mit Füßen tritt. Und Meloni mag manchen Zentristen zwar genießbar erscheinen, aber niemand ist besonders erpicht darauf, mit der französischen Nationalen Sammlungsbewegung zusammen zu arbeiten – geschweige denn mit der deutschen AfD.

Dies führt uns zur dritten Möglichkeit: die extreme Rechte zu bekämpfen. Macron hat sich für diesen Weg entschieden, indem er vorgezogene Neuwahlen ausrief. Angesichts seiner Unbeliebtheit und der feindlichen Wählerstimmung wird dies aber weithin als riskantes Spiel betrachtet. Es ist durchaus denkbar, dass Frankreich im nächsten Monat über eine Stichwahl einen rechtsextremen Premierminister wählt. In diesem Fall hätte Macron in seinen verbleibenden drei Amtsjahren nicht mehr viel zu sagen.

Aber seine Stellung ist sowieso bereits massiv geschwächt, und seine Regierungskoalition, die keine parlamentarische Mehrheit hat, schwebte in ständiger Gefahr, einem Misstrauensvotum zum Opfer zu fallen. Durch die Auflösung der Nationalversammlung hat Macron die Initiative wiedererlangt und sich zwei mögliche Wege zum Sieg über die extreme Rechte geschaffen:

Erstens könnte die Bedrohung durch die Rechtsextremisten im Wahlkampf für die Wähler ein großes Thema werden, was zu einer parlamentarischen Mehrheit aus linken und rechten Parteien beitragen könnte, die gemeinsam versuchen, die Nationale Sammlungsbewegung in Schach zu halten. Da Macron aber sehr unbeliebt ist, erscheint dies recht unwahrscheinlich.

Plausibler ist die Annahme, Macron könnte darauf setzen, dass die Rechtsextremen scheitern. Am besten funktionieren Populisten meist, wenn sie die Außenseiterrolle übernehmen, die etablierten Parteien herausfordern können und keine Verantwortung tragen müssen. Schauen wir nur, wie die britischen Konservativen nach der Erfüllung ihres Brexit-Versprechen von der Wirklichkeit eingeholt wurden. Und auch Wilders’ Freiheitspartei hat jetzt, wo sie regiert, bereits an Beliebtheit eingebüßt.

Sollte die Nationale Sammlungsbewegung die Mehrheit erlangen oder eine größere rechte Koalition anführen, würde sie sich mit der harten Regierungsverantwortung vermutlich schwertun. Immerhin müsste sie schwierige Haushaltsentscheidungen treffen – und entscheiden, ob oder wie sie mit EU-Institutionen zusammenarbeiten wollen. Mäßigt die Partei ihre Hardliner-Politik, könnte dies ihr Anti-Establishment-Profil schwächen. Bleibt sie hingegen radikal, könnte sie das Land in eine Krise stürzen. Beides könnte die Beliebtheit ihrer Parteichefin Marine Le Pen untergraben – und dies bereits vor einer wahrscheinlichen Präsidentschaftskampagne. Besser ein rechtsextremer Premierminister 2024 als eine rechtsextreme Staatspräsidentin 2027.

Copyright: Project Syndicate, 2024.

www.project-syndicate.org

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Philippe Legrain

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Philippe Legrain, ehemaliger Wirtschaftsberater des Präsidenten der Europäischen Kommission, ist leitender Gastdozent am European Institute der London School of Economics und Verfasser von Them and Us: How Immigrants and Locals Can Thrive Together (Oneworld, 2020).

 

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