Politik

DWN-Interview: Warum die USA ein starkes Europa bräuchten

Lesezeit: 4 min
18.08.2024 06:01
Der Krieg in der Ukraine schadet den Staaten der EU, vor allem Deutschland. Und auch wenn die USA die EU als wirtschaftlichen Rivalen betrachten und als solchen gezielt schwächen, läge eine stabile und prosperierende EU in ihrem strategischen Interesse – sagt Anatol Lieven, Direktor des Eurasien-Programms am Quincy-Institut für verantwortungsvolle Staatsführung.
DWN-Interview: Warum die USA ein starkes Europa bräuchten
Europa steht vor einer ungewissen Zukunft: Was passiert, wenn die USA ihre Außenpolitik ändern? (Foto: dpa).

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DWN: Die amerikanischen Wahlen stehen bevor. Was wären die Folgen für Europa bei einem Wahlsieg von Donald Trump und was bei einem Wahlsieg von Kamala Harris?

Anatol Lieven: Das hängt stark von der Perspektive ab, aus der Sie die gegenwärtige europäische Politik betrachten. Eine Trump-Administration würde fast sicher versuchen, frühzeitig Frieden in der Ukraine zu schaffen, wobei wir nicht genau wissen, wie das konkret aussehen würde. Es wird auch intensiven Druck von der Trump-Administration geben, die europäischen Militärausgaben zu erhöhen. Beide Maßnahmen werden in vielen Teilen Europas unpopulär sein, könnten aber letzten Endes Europa doch dabei helfen, seine Verteidigungsfähigkeit zu stärken und damit unabhängiger von den USA zu werden. Eine Harris-Administration hingegen würde wahrscheinlich die bestehende Biden-Politik fortsetzen, wenn auch zurückhaltender und mit begrenzteren Versuchen, eine Friedenslösung in der Ukraine zu erreichen. Fast alle europäischen Regierungen, außer den Ungarn und Slowaken, hoffen auf einen Sieg von Harris. Zwischen Donald Trump und dem Großteil der übrigen EU- Regierungen besteht hingegen eine tiefe ideologischen Kluft, die mit der Zeit immer deutlicher werden dürfte.

DWN: Warum aber bevorzugen die meisten EU-Regierungen Harris, wenn Trump eher für Frieden sorgen könnte?

Anatol Lieven: Das liegt zum Teil an ideologischen Affinitäten. Im Moment wird Europa überwiegend von zentristischen oder zentristisch-liberalen Parteien regiert, die eine tiefe Abneigung gegen Trump und seine Politik haben. Diese Regierungen haben sich an die Biden-Politik im Ukraine-Krieg gebunden, und es wäre äußerst peinlich für sie, ihre Haltung ändern zu müssen und eine von Trump vermittelte Friedenslösung zu akzeptieren. Darüber hinaus gibt es in Europa eine tiefe Skepsis gegenüber Trumps unberechenbarer Außenpolitik, die in der Vergangenheit immer wieder zu Spannungen geführt hat.

DWN: Wäre Europa denn in der Lage, einen Sieg der Ukraine herbeizuführen, wenn Trump das amerikanische Engagement für die Ukraine zurückfahren oder sogar beenden sollte?

Anatol Lieven: Meiner Meinung nach, nein. Es gibt zwar Europäer, die das behaupten, aber nach Gesprächen mit sachkundigen Analysten, insbesondere in Deutschland, habe ich den Eindruck gewonnen, dass die Ansicht, dass Europa zwar die wirtschaftlichen Mittel hat, um die Ukraine zu unterstützen, nicht aber die militärischen Ressourcen, um die ukrainischen Streitkräfte lange zu stützen, überwiegt. Ein solcher Versuch würde Europas eigene Waffen- und Munitionsvorräte stark erschöpfen und seine Fähigkeit zur Selbstverteidigung schwächen, was die Bevölkerung verunsichern könnte.

DWN: Europa erscheint zudem angeschlagen, insbesondere seit der Sprengung der Nord Stream-Pipelines. Was sind die industriellen Konsequenzen für Europa?

Anatol Lieven: Die Auswirkungen des Ausfalls von billigem russischem Gas auf die deutsche Wirtschaft sind verheerend, vor allem in Kombination mit anderen bekannten wirtschaftlichen Problemen. Sollte es zu einem neuen Krieg im Nahen Osten kommen, der seine Schatten schon vorauswirft, würde dies die Probleme Europas noch weiter verschärfen, bis hin zu einer großen wirtschaftlichen Depression. Die USA sind durch ihre Energieunabhängigkeit in einer besseren Position, aber Europa wäre stark betroffen. Zudem drohen Spannungen mit China. Der Druck auf Europa, seine wirtschaftlichen Verbindungen zu China zu reduzieren, wächst, was die deutsche Industrie weiter gefährden dürfte. All dies birgt erhebliche Risiken für die europäische Wirtschaft.

DWN: Wenn wir nun unsere Verbindungen zu China kappen, nachdem wir bereits unsere Verbindungen zu Russland gekappt haben, könnte Deutschland in eine tiefe Krise stürzen. Was würde die USA strategisch daraus machen?

Anatol Lieven: Das ist ein entscheidender Punkt. Die wirtschaftliche Prosperität und politische Stabilität Europas sind vitale amerikanische Interessen, insbesondere in Westeuropa und Mitteleuropa. Die USA haben im letzten Jahrhundert zwei Kriege und den Kalten Krieg geführt, um sich Westeuropa als stabile Verbündete zu sichern. Die Vorstellung, dass die amerikanischen vitalen Interessen in der Ukraine liegen, ist vergleichsweise neu. Es scheint mir riskant und historisch unklug, die Stabilität Westeuropas für die Ukraine zu gefährden. Dies ist es auch, was wir unseren Partnern und Kunden innerhalb der US-Administration gegenüber immer wieder zum Ausdruck bringen.

DWN: Der Ukraine-Krieg sorgt also für Instabilität in Europa?

Anatol Lieven: Ja, absolut. Das Abenteuer in der Ukraine hat erheblich zur Instabilität in Europa beigetragen. Die Spannungen und Unsicherheiten, die daraus resultieren, sind offensichtlich und werden noch lange nachwirken. Es ist absehbar, dass das gesamte westliche Lager dadurch geschwächt werden wird.

DWN: War es nicht der ehemalige amerikanische Sicherheitsberater Zbigniew Brzeziński, der mit seinem Buch „The Grand Chessboard“ diese Ukraine-Erzählung quasi erfunden hat?

Anatol Lieven: Ja, Brzezinski war einer der Architekten dieser Strategie, deren Auswirkungen wir nun zu spüren bekommen. Man muss jedoch berücksichtigen, dass Brzezinski Pole war und die polnische Sichtweise auf die Ukraine sehr unterschiedlich ist. In der Vergangenheit wurden die vitalen Fragen der amerikanischen Außenpolitik jedoch nicht in Warschau entschieden. Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Strategie langfristig auswirkt.

DWN: Nach Meinung des russischen Politikwissenschaftlers Sergei Karaganow geht es in den aktuellen geopolitischen Auseinandersetzungen auch um Deutschland…

Anatol Lieven: Deutschland ist immer zentral für die EU und deren Politik gewesen und wird es auch bleiben. Je mehr Amerika sich aus Europa zurückzieht, desto wichtiger wird Deutschland werden. Es geht gar nicht darum, dass Russland die Dinge innerhalb Deutschlands beeinflusst, sondern eher um den Einfluss der USA und die Frage, ob er in diesem Ausmaß bestehen bleiben oder möglicherweise schwinden wird. Innerhalb Deutschlands gibt es in der Öffentlichkeit und in einigen politischen Parteien eine starke Opposition gegen den aktuellen Kurs der Regierung, der sich scheinbar bedingungslos den amerikanischen Interessen unterordnet. Letztlich wird das deutsche Volk durch Wahlen entscheiden, wohin es gehen will. Die gegenwärtige Koalition genießt nicht das Vertrauen der Mehrheit der deutschen Öffentlichkeit, und die Wahlen in den drei ostdeutschen Ländern im September könnten weitere Hinweise auf die Stimmung in der Bevölkerung – zumindest im Gebiet der ehemaligen DDR - geben.

DWN: Noch ein Wort zu China. Erleben wir eine Verschiebung in der globalen Machtstruktur? Wird China wichtiger, während die USA an Boden verlieren?

Anatol Lieven: Ja, das ist richtig. China gewinnt zunehmend an Einfluss, während die USA weiterhin eine Supermacht bleiben, jedoch an relativer Macht verlieren. Wie die Welt in zehn Jahren aussehen wird, hängt stark von den politischen Entwicklungen in Europa und den USA ab. Sollte der Trend zur populistischen Rechten in Europa anhalten, könnte sich das europäische politische Landschaft stark verändern. Auch die zukünftige Stabilität der Europäischen Union steht auf dem Spiel. Was die Ukraine betrifft, wird es vermutlich irgendwann zu einem Waffenstillstand kommen. Die Frage ist, ob dieser zu einer umfassenden Friedensregelung führen wird und entlang welcher Linien dieser Waffenstillstand verlaufen wird.

Info zur Person: Anatol Lieven ist Direktor des Eurasienprogramms am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London.


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