Weltwirtschaft

Wem gehört die Arktis? China, Russland und die USA ringen um den hohen Norden – Europa könnte ihn bereits verloren haben

Lesezeit: 4 min
25.10.2024 15:58
Im Jahr 2035 könnte die Arktis für einige Monate eisfrei sein. Dann wäre ein intensiver Schiffsverkehr zwischen Shanghai, Murmansk und Hamburg möglich, wie auch die Ausbeute gigantischer Vorkommen wertvoller Rohstoffe. Die USA sind erzürnt, Deutschland und die EU erstaunlich ruhig. Wem gehört die Arktis — und wie verändert sie das geopolitische Gefüge zwischen Ost und West?
Wem gehört die Arktis? China, Russland und die USA ringen um den hohen Norden – Europa könnte ihn bereits verloren haben
Eine eisfreie Arktis eröffnet neue Handelschancen- und Auseinandersetzungen (Foto: dpa).
Foto: David McGeachy

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An der Nordküste Westsibiriens entsteht derzeit Russland größtes Flüssigerdgasprojekt. Einst wurde das Projekt Arctic LNG 2 von der deutschen Firma Euler Hermes unterstützt und von Linde mit deutscher Verflüssigungstechnologie beliefert. Doch seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sollen westliche Sanktionen die russische LNG-Produktion unterbinden. Linde und Euler Hermes sind aus dem Gebiet verschwunden, auch amerikanische Partner wie Baker Hughes, der französische Total und japanische Unternehmen wandten sich von dem Projekt ab. Seit über zwei Jahren kämpft Arctic LNG 2 ums Überleben.

Doch wider Erwarten sind Schiffe auf dem Weg zur Gydan-Halbinsel. Es sind vermutlich Frachter der chinesischen Firma Wison, die mehrere hausgroße Kraftwerke transportieren. Mit ihnen soll das Projekt vorangetrieben werden, sodass die dort geplanten Verflüssigungsanlagen wenigstens auf einem annehmbaren Niveau fungieren können. Was wie ein schmerzlicher Kompromiss klingt, wird von der Firma Novatek, die diese Kraftwerke installiert, als Auftakt einer Revolution angepriesen. Denn hier lagern ungeahnte Erdgasvorkommen, die Russland verflüssigen und exportieren möchte — in der Hoffnung, dabei nicht von westlichen Sanktionen gehindert zu werden. Das Bestreben, die Arktis wirtschaftlich zu nutzen, ist nicht neu. So wie die Ostsee als das Mittelmeer gehandelt wurde, war die Arktis schon seit Beginn der Zivilisationsgeschichte eine exquisite Vorratskammer.

Der hohe Norden — Sehr Jahrtausenden eine Transitroute und exquisite Vorratskammer

Bereits im 7. Jahrhundert vor Christus zog es griechische Entdecker in den Norden. Sie fuhren mit Handelsware durch die Pfeiler des Herakles, entlang der gallischen Küste und kamen schließlich bis nach Thule, einem mystischen Ort, der heute zwischen Island und Saareema bei Estland verortet wird. Forscher und Händler wie Pytheas berichteten von wunderlichen Phänomenen wie Packeis, das sie „schweres Wasser“ nannten, und auch von den seltsamen Bewohnern nahe der Frostzone, die ihren Wein aus Wasser und Honig gewannen. Aber am wichtigsten war für die Entdecker der Kauf von Zinn und Bernstein, Materialien, die im Mittelmeerraum nicht produziert werden konnten und somit große Gewinnmargen versprachen.

Später waren es die Wikinger, die im grönländischen Teil der Arktis Walrosse jagten und das edle Elfenbein nach Europa verkauften. Doch eine schwere Kälteperiode ließ das grüne Land zu Eis erstarren und den Handel unattraktiv werden. Die Wikinger verschwanden und überließen das riesige Eisland seinen autochthonen Bewohnern. Erst ab 1648 begannen vorsichtige Erkundungen der Arktis durch zaristische Truppen, die sich mitten im Kampf um Sibirien befanden.

Durch den Zweiten Weltkrieg intensivierte sich der Handel zwischen der abgeschnittenen Sowjetunion und den alliierten Kräften — so konnten kriegsentscheidende Waffen aus den USA eingeführt werden, die den Kriegsverlauf zugunsten Stalins lenkten. Die Deutsche Kriegsmarine versuchte, die Lieferungen mit regelmäßigen Angriffen durch U-Boote zu unterbinden, blieb dabei aber letztlich erfolglos.

Im Kalten Krieg arbeitete die Sowjetunion unablässig an der Produktion schwerer Eisbrecher, um die oft ganzjährig zugefrorene Seeroute nördlich von Russland befahrbar zu machen. Anders als die zaristischen Vorgänger arbeiteten die sowjetischen Machthaber mit Hochdruck daran, den Raum zu erkunden und nutzbar zu machen. Denn schon damals war zu erahnen, dass sich hier Schätze befanden, die in der modernen Welt gebraucht werden würden. Was versprechen sich die Russen und Chinesen heute von der Arktis?

Die Schätze der Arktis: Seltene Erden, Gas und ein Handelsweg

Die Arktis wird aller Voraussicht nach wieder ergrünen. 14,5 Millionen Quadratkilometer, die sich um den Nordpol verteilen, könnten schon in wenigen Jahren eisfrei sein. So wird geschätzt, dass die Arktis im Sommer 2035 einen riesigen Ozean bildet, der von konventionellen Handelsschiffen befahren werden kann. Freilich dürfte das Eis im Winter zurückkehren, doch der Aufwand, es mit Eisbrechern zu befahren, dürfte dann erheblich geringer ausfallen als bisher.

Hier lagern etwa 25,5 Billionen Liter Öl und 30% des weltweit bisher nicht geförderten Erdgases. Darüber hinaus vermuten Experten hier etwa 40% des weltweiten Palladiums, 20% aller Diamanten und 15% des weltweiten Platinums, dazu eine unschätzbare Menge an seltenen Erden. Auch werden hier ein Drittel aller Fische gefangen, die in Russland verkauft werden, ein Wert, der sich in eisfreien Sommern drastisch erhöhen dürfte.

Wichtiger ist aber die nordische Schifffahrtsroute als Gelegenheit für China und Russland, die sich in eisfreien Zeiten eröffnen würde. Hier könnte über Russland als Transitland schneller und sicherer gefahren werden als entlang der arabischen Halbinsel. Brauchen Handelsschiffe etwa von Shanghai nach Hamburg 35 Tage über den Suezkanal, sind es über die nordische Route lediglich 18 Tage. Sie sind dort weder von jemenitischen Rebellen bedroht, noch laufen sie Gefahr, im Südchinesischen Meer von Alliierten der USA bedrängt zu werden.

Im Kontext einer sich erhärtenden Front gegen China scheint die Nordroute eine gelungene Alternative darzustellen. Somit wird sie gelegentlich auch als „arktische Seidenstraße“ gehandelt. Hier kann China als Hegemon von einer hervorragenden Hafen- und Eisenbahnstruktur, sowie von der weltgrößten Eisbrecherflotte Russlands Gebrauch machen. Moskau begreift sich in dieser Konstellation allerdings nicht nur als Transitland und Juniorpartner, sondern als Hauptprofiteur einer eisfreien Arktis.

Russisch-Chinesische Kooperation geht in die nächste Runde

Laut den norwegischen High North News sind die Schiffe von Wison auf dem Weg zur Arktis, um die dortigen russischen Verflüssigungsanlagen aufzubauen. Laut Experten könnte die Anlage auch ohne westliche Hilfe in Betrieb genommen werden, wenn auch nur mit einer Leistung von 50%. Zwar wurde das Projekt der Arctic LNG 2 noch im Juni 2024 für ausgesetzt erklärt, doch der chinesische Zulieferer arbeitet hartnäckig an der Aufrechterhaltung des Projekts.

Passend dazu geht die chinesisch-russische Kooperation in die nächste Runde, so wollen beide Länder Schiffe mit höchster Eisklasse bauen, die die Nordroute ganzjährig befahren können. Die chinesische Angst vor US-amerikanischen Sanktionen scheint hier weitgehend ausgesetzt zu sein. Auch wenn die LNG Arctic 2 Anlagen derzeit unter Druck geraten sind, dürfte die Entwicklung einer chinesisch-russisch dominierten Arktis vorerst unaufhaltbar sein, denn während die Russen Manpower im großen Stil in den hohen Norden verlegen, investieren die chinesischen Partner immer mehr technologische Mittel, um die nordische Seidenstraße zum Leben zu bringen.

Europa und die Arktis: Eine vertane Chance?

Indessen verharren einige west- und mitteleuropäische Staaten im Beobachterstatus, anstatt dem Arktischen Rat beizutreten. Es scheint hier klar zu sein, dass ein Streit um die Arktis die Kapazitäten der Europäer strapazieren würde, aber auch, dass der Alte Kontinent vom vereinfachten Handel über die Nordroute deutlich profitieren würde. Fraglich bleibt allerdings, wieso das zu Dänemark gehörende Grönland nicht stärker in den Fokus der europäischen Machthaber gerät.

Hier lagern große Vorkommen an Gold, Platinmetallen, Uran, Coelestin und Seltenen Erden. Anstatt diese auszubeuten, hadern die europäischen Mächte mit Umweltaktivisten und der Errichtung einer Förderinfrastruktur auf dem einst verheißungsvollen Land. Das könnte sich als fataler Fehler erweisen. Einerseits will die australische Firma Tanbreez bereits in diesem Jahr den Abbau der begehrten Rohstoffe auf Grönland selbst in die Hand nehmen. Andererseits bringen die USA seit 1867 immer wieder den Vorschlag ins Spiel, Grönland von Dänemark abzukaufen. Donald Trump schlug diesen Kauf bereits im Jahr 2019 vor, und dies könnte im Falle einer erneuten Präsidentschaft Trumps zeitnah wieder an Aktualität gewinnen. Würde ihm dieser Kauf gelingen, wäre der Traum von Europas Unabhängigkeit bei den seltenen Erden wohl erst einmal hinfällig.

                                                                            ***

Virgil Zólyom, Jahrgang 1992, lebt in Meißen und arbeitet dort als freier Autor. Sein besonderes Interesse gilt geopolitischen Entwicklungen in Europa und Russland. Aber auch alltagsnahe Themen wie Existenzgründung, Sport und Weinbau fließen in seine Arbeit ein.



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