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Die Schwarmintelligenz flüchtet von X zu Bluesky - nur Robert Habeck ist zurück auf Seite(n) Elon Musks

Social Media gewinnt Wahlen. Wer gehört werden will, muss raus auf den Marktplatz der Meinungen. Das ist längst nicht allein die Fußgängerzone, sondern das Internet. Welches Forum setzt sich durch? Welche Plattform wird strategisch gezielt missbraucht?
18.11.2024 11:03
Lesezeit: 6 min

Man möchte Wirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen zurufen: „Siehst Du, das ist wieder mal der Unterschied zwischen gut gemeint und gut gemacht.“ Bereits in der Wirtschaftspolitik hat Habeck bewiesen, dass er zwar durchaus die Richtung kennt und verfolgt, ihm leider nur das Verständnis fehlt, wie Economy praktisch funktioniert.

Wirtschaft, Social Media - Habeck kann es nicht

Auch in Sachen Kommunikation setzt der grüne Spitzenkandidat erneut auf das falsche Pferd. Denn Habeck hat (für viele überraschend) jetzt seine Kanzlerkandidatur mit der Rückkehr auf Elon Musks Network X verknüpft. In seinem ersten Post brüstete sich Habeck ernsthaft, er sei "back for good" - also endgültig zurück. Wie gut das ankommt, wird sich erst noch zeigen müssen. Wo doch die (von Tesla-Boss Musk 2022 teuer an der Börse übernommene) Plattform längst zu einem fragwürdigen Wahlkampf-Instrument verkommen ist - und das nicht nur in den USA, sondern auch bei uns in Deutschland. Es steht für reaktionäre Hetze und gezielte Desinformation. Und Habeck nimmt daran nun wieder teil - naiv und unbekümmert.

Stimmt natürlich: Politiker kommen heute ohne Präsenz in den sozialen Medien nicht mehr aus, um wirklich alle Wählerschichten und Altersgruppen zu erreichen. Doch warum ausgerechnet bei X neu anfangen? Dort, wo Eigentümer Elon Musk den Text vorgibt, und er Kanzler Olaf Scholz rücksichtslos einen "Narr" genannt hat - nach dem Ampel-Aus. Es gab Zeiten, da hatte Habeck noch getönt, Twitter sei kein geeignetes Medium für politischen Dialog. Er könne es nicht akzeptieren, dort von Trollen und Hatern "täglich als grüner Nazi beschimpft zu werden, der aufgehängt gehört". Davon hat Habeck sich jetzt augenfällig distanziert - es geht halt um Größeres, als seine persönlichen Ansichten. Es gehe jetzt um Deutschland und seine Kanzlerschaft. Da müssen wohl Befindlichkeiten und die Moral zurücktreten. Der Beobachter reibt sich verwundert die Augen. Warum nur? Und warum ausgerechnet jetzt und hier?

Es gibt doch längst Alternativen - Threads von Meta etwa oder etwa Bluesky, das einst wie Twitter auch von Jack Dorsey gegründet worden war. Und zumindest in den USA ist nach Trumps Wahl Anfang des Monats doch gerade vernehmlich Bewegung in den Wettbewerb der freien Meinung gekommen. Warum also hier schreien, wo man in er Kakophonie ohnehin untergeht - so oder so.

Die Bluesky-App, inzwischen nicht mehr nur auf Einladung hochzuladen, sondern allen zugänglich, verzeichnet aktuell einen mächtigen Wachstumsschub. Allein in der Woche nach dem 5. November hat Bluesky um 700.000 Nutzer in den USA zugelegt. Sas hat das gemeinnützige Unternehmen auf dem Technologie-Blog „The Verge“ mitgeteilt. Bluesky kommt damit nun auf über 14,5 Millionen Nutzer. Viel weniger als bei X vermutlich immer noch. Doch wer weiß?

Musk macht ja gar keine Angaben zu den aktiven Mitgliedern. Gut möglich, dass dort Millionen „Karteileichen“ darunter sind, die sich noch nicht abgemeldet haben, sondern passiv abwarten, wo die Reise hingeht. Und womöglich zigtausende Bots, die nur eine Ziffernfolge sind, ohne wahre Identität. Hatte Elon Musk nicht genau mit diesen Argumenten versucht, nach seinem Übernahmeangebot nachträglich den Preis für Twitter an der Wall Street zu drücken?

Lange wirkten die Diskutanten wie gelähmt. Mitmachen oder nicht? Dass X ein nützliches Element beim aufdringlichen Buhlen um Aufmerksamkeit ist, das bestreitet niemand. Aber das lag vor allem an der mangelnden Reichweite der Konkurrenz bzw. den nicht wirklich alternativen Diskussionsforen. Nun hat sich die Sache mit der Bequemlichkeit aber vielleicht überholt? Denn plötzlich scheint es so, als habe die versammelte Schwarmintelligenz Bluesky für sich entdeckt - und erwägt sie ernsthaft zu optieren. "Gone for good", heißt es seither immer öfter.

Was steckt hinter der Social-Media-Seite Bluesky?

Bluesky ist eine Social-Media-Plattform, die ähnlich aussieht und funktioniert wie X - also das frühere Twitter. Der Grund dafür ist offenkundig: Bluesky, dezentral aufgestellt und dem Gebot der Transparenz verpflichtet, war ursprünglich als sogenannte Bluesky-Initiative mal ein Teil Twitters. Jack Dorsey, der einstige Twitter-Gründer und ehemalige CEO, hat das Projekt durch seine finanzielle Unterstützung am Leben gehalten. Nach Musks Übernahme von Twitter ist es seither nun eine von mehreren alternativen Social-Media-Kanälen am Markt. Seit Frühjahr 2022 agiert es unabhängig von Twitter - und auch Jack Dorsey.

Wie funktioniert die Plattform Bluesky?

Technologisch geht Bluesky einen anderen Weg als X. Es basiert wie auch Mastodon, ein weiterer Social-Media-Kanal, auf dem „Authenticated Transfer Protocol“ (AT-Protokoll). Das Protokoll soll - ähnlich dem Prinzip Eugen Rochkos von Mastodon, die Dezentralisierung der Einträge und Speicherfunktionen sichern. Der Gedanke erinnert ein Stück weit an die Krypto-Technologie des Bitcoins. Konkret bedeutet es, dass es keine zentrale Autorität oder Institution gibt, die das Netzwerk kontrolliert oder reguliert.

Praktisch agieren die verschiedenen Server als föderales Netzwerk, das untereinander kommunizieren kann. Dadurch ist Bluesky nicht nur auf einen Standort begrenzt. Das AT-Protokoll nutzt selbst-authentifizierte Daten und ist nicht auf einen zentralen Host angewiesen. So können sich - anders als bei X, Tiktok oder Instagram - unterschiedliche Nutzer über viele kleine Server registrieren. Bluesky verzichtet nach eigener Angaben außerdem auf Datensilos. Der Vorteil: Die Online-Identität der im Forum Agierenden bleibt so bei der Souveränität der einzelnen Personen unangetastet. Beiträge werden nicht als schnöder Content eines in erste Linie kommerziell tätigen Unternehmens veräußert.

Bluesky versucht vor allem das Algorithmus-Diktat zu knacken und zu überwinden So sollen die Nutzer selbst entscheiden, mit welchen Algorithmus sie Inhalte filtern und anzeigen lassen - das AT-Protokoll hält dafür sogar eigens einen Modus für offene Algorithmen parat. Um sich gegen illegale Inhalte zu wappnen, hat Bluesky ein Moderationsmodell eingeführt - es trägt den Namen „Rede und Reichweite“. Wie geht es auch noch in Zukunft funktioniert, falls weitere Millionen Nutzer zu Bluesky wechseln, wird sich erst noch zeigen müssen

Wie wirkt Bluesky für den Anwender?

Haptisch und in Sachen Darstellung ist Bluesky an das alte Twitter angelehnt. Die grundlegenden Funktionen wie die Profiloberfläche ähneln dem Original finden. Profile haben ein Profilbild, Hintergrund und Beschreibung. Zudem werden Zahlen zu Followern und gefolgten Accounts angezeigt. Nutzer können sich einen speziellen Benutzernamen zulegen und ein @-Handle für sich erstellen. Selbst die begrenzte Zeichenzahl für Postings findet sich bei Bluesky wieder - nur 256 Zeichen lang dürfen sie sein, aber auch Fotos beinhalten. Interaktions-Möglichkeiten wie auf anderen sozialen Netzwerken gibt es auch: Posts werden gelikt, kommentiert, geteilt und weitergegeben. Accounts von anderen Teilnehmern können gesucht werden, aber notfalls auch stummgeschaltet oder sogar blockiert werden. Intuitiv kann es also weitergehen wie bisher, warum womöglich plötzlich so viele Akteure zum Wechsel entschieden und aufgerafft haben. Der große Unterschied: Direkte Messages sind bisher nicht möglich, und auch das Weiterleiten von Videos, was Vor- und Nachteil zugleich sein kann für viele.

Kann jeder teilnehmen und mitmachen bei Bluesky?

Sowohl in den App-Stores von Apple und Google ist Bluesky mittlerweile frei zugänglich und kann unproblematisch heruntergeladen werden. Anfänglich war Bluesky noch nicht für jeden frei zugänglich. Wie auch die zwischenzeitlich anno 2020 gehypte App Clubhouse gab es eine künstliche Verknappung der Accounts - man benötigte einen Einladungscode, um die Plattform betreten zu können. Das Ziel: Bots und Hass-Verbreiter sollten ferngehalten werden und sich nicht unkontrolliert ausbreiten können. Der Plan ging erst einmal ganz gut auf: Die Codes waren sogar teilweise heiß begehrt. Es heißt, die Einladungen zu Bluesky hätten so ordentlich Geld eingebracht. Enttäuschte Twitter-Kunden oder gar auf X gefangene Follower zu Bluesky rüber zu ziehen - dafür reichte die Aufmerksamkeit allerdings bislang noch nicht.

Welche Organisation steckt hinter Bluesky?

Bluesky geht zwar noch auf Jack Dorseys Zeiten als Twitter-CEO zurück. Mittlerweile steht das Social-Media-Projekt aber auf eigenen Beinen. Seit 2021 ist Bluesky ein eigenständiges Unternehmen und wird seit dem Frühjahr 2022 auch nicht mehr von Twitter finanziert. Geleitet wird Bluesky von der Software-Ingenieurin Jay Graber. Bluesky mit Sitz in Seattle/Washington ist dabei als eine sogenannte Public Benefit Limited Liability Company (PBLLC) eingetragen. Das Steuer begünstigte Unternehmen muss von daher einem öffentlichen Nutzen dienen und diesen auch immer wieder nachweisen. Das ist vermutlich der Hauptgrund, warum Bluesky als Public Benefit Corporation es derzeit leichter fällt, für sich das Argument der größeren Glaubwürdigkeit zu reklamieren und so kritische Akteure von einem Wechsel zu überzeugen.

Viele warten scheinbar noch ab, fahren vorerst noch bewusst zweigleisig. Andere wie Robert Habeck indessen scheren sich offenbar nicht sonderlich darum, dass Elon Musk nach seiner Übernahme von Twitter die zivilisierten Strukturen geschreddert und vor allem das für eine seriöse Moderation notwendige Personal ausgedünnt hat. Seither geht bei X fast alles anstandslos durch - nicht genug Personal, um Hate Speech zu unterdrücken. Darum ging es Musk, der sich selbst als Disruptor und Zerstörer begreift. vermutlich ja auch. Es scheint, als sei die EU-Kommission nunmehr die einzige verbliebene Kontrollfunktion, um das von Elon Musk geschaffene Biest überhaupt noch bändigen zu können.

Und wie löst Habeck diesen grundsätzlichen Konflikt für sich und uns die Wähler auf? "Orte wie diesen den Schreihälsen und Populisten zu überlassen ist leicht", schrieb der Minister unter seinem ersten Post. "Aber es sich leicht zu machen, kann nicht die Lösung sein. Nicht heute. Nicht in dieser Woche. Nicht in dieser Zeit", so Habeck. "Deshalb bin ich wieder auf X."

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Peter Schubert

Peter Schubert ist stellv. Chefredakteur und schreibt seit November 2023 bei den DWN über Politik, Wirtschaft und Immobilienthemen. Er hat in Berlin Publizistik, Amerikanistik und Rechtswissenschaften an der Freien Universität studiert, war lange Jahre im Axel-Springer-Verlag bei „Berliner Morgenpost“, „Die Welt“, „Welt am Sonntag“ sowie „Welt Kompakt“ tätig. 

Als Autor mit dem Konrad-Adenauer-Journalistenpreis ausgezeichnet und von der Bundes-Architektenkammer für seine Berichterstattung über den Hauptstadtbau prämiert, ist er als Mitbegründer des Netzwerks Recherche und der Gesellschaft Hackesche Höfe (und Herausgeber von Architekturbüchern) hervorgetreten. In den zurückliegenden Jahren berichtete er als USA-Korrespondent aus Los Angeles in Kalifornien und war in der Schweiz als Projektentwickler tätig.

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