Politik

Juncker demontiert die EU: Fünf Varianten für den Untergang

Lesezeit: 6 min
03.03.2017 23:19
EU-Präsident Juncker hat einen Offenbarungseid über den Zustand der EU abgelegt: Seine Vorschläge sind undurchführbar und unrealistisch und führen alle geradewegs in den Untergang der EU. Wir beobachten das gespenstische Szenario einer Selbst-Demontage, die noch sehr teuer werden kann.

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Fünf Varianten, wie sich die EU in Zukunft entwickeln könnte, hat der Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, vorgelegt. Jede Variante stellt eine Bankrotterklärung dar und somit hat die Präsentation auch europaweit für Erstaunen bis Entsetzen gesorgt. Die Perspektiven entsprechen den Diskussionen, die an Stammtischen geführt werden, berücksichtigen also scheinbar die Kritik, die EU sei zu wenig bürgernah. Juncker hat sich auch prompt vor dem EU-Parlament mit einem Kraftausdruck darüber empört, dass man seinen Weg zu den Menschen nicht würdige. Der Präsident der Kommission sollte wissen, dass er nicht als oberster Stammtisch-Bruder agieren kann. Von ihm werden konkrete, brauchbare Initiativen erwartet.

Die Beschränkung auf den Binnenmarkt vernichtet das Gründungsziel

Von den fünf Szenarien sei die Nummer zwei vorweg angesprochen: Die EU könnte sich auf den gemeinsamen Markt beschränken. Dieser Weg stand am Beginn zur Debatte und wurde verworfen. Es gab die Möglichkeit, anstelle der EWG, der späteren EG und nun der EU einfach das Konzept der EFTA umzusetzen. Alle europäischen Staaten wären autonome Staaten geblieben, aber alle hätten in einem Freihandelsabkommen Zölle und andere Handelshemmnisse abgebaut. Ohne Zweifel hätte dieses Modell Vorteile gehabt.

Jetzt, nach sechzig Jahren Arbeit am Aufbau einer Gemeinschaft, das EFTA-Modell zu debattieren, erscheint absurd. Man wollte die EU bauen, um zu verhindern, dass die europäischen Staaten wie in den vorangegangenen Jahrhunderten in sinnlosen Kriegen einander überfallen und den Kontinent mit Blut tränken. Die EU-Gründer waren überzeugt, dass dieses Ziel mit der Freihandelszone EFTA nicht zu erreichen sei, weil die Staaten in diesem Modell ihre Souveränität und Autonomie behalten. Außerdem sollte ein geeintes Europa zu einem weltpolitisch entscheidenden Faktor werden.

Wie notwendig die Begriffe „Union“ und „Gemeinschaft“ sind, zeigt sich am Verhalten der Mitgliedstaaten im Umgang mit der Flüchtlingskrise. Es war und ist völlig unmöglich, eine gemeinsame Politik zu formulieren, geschweige denn umzusetzen. Bei diesem Problem wurde offenkundig, dass der Ungeist des Krieges knapp unter der Oberfläche weiterlebt: Die „Mitglied“-staaten kannten und kennen nur ein „jeder gegen jeden“.

Als sich die Befürchtung breit machte, Russland könnte nicht nur in der Ukraine eingreifen und die Krim annektieren, sondern auch EU-Staaten im Osten angreifen, war von der „politischen Union“ wenig zu spüren. Die EU verhängte Wirtschaftssanktionen, die gleichermaßen der Gemeinschaft und Russland schaden, aber nichts zur Befreiung der Krim oder zur Stärkung der EU-Ostgrenze leisten. Die betroffenen Staaten wandten sich an die USA, die im Rahmen der NATO die militärische Präsenz von Estland bis Rumänien verstärkten.

Wenn der EU-Kommissionspräsident die Beschränkung der EU auf den Binnenmarkt diskutiert, dann stellt er die EU zur Disposition. Eine größere Unterstützung der EU-Gegner ist kaum denkbar. Daran ändert auch die Erklärung nichts, dass die fünf Punkte nur eine Diskussionsgrundlage bilden sollen.

Die Fortsetzung des Bisherigen bedeutet den Untergang

Das Szenario Nummer eins stellt die Fortsetzung der bisherigen Politik zur Debatte. Nach dem Austritt Großbritannien würden die verbleibenden 27 in der gewohnten Weise weiter agieren. Eine derartige Perspektive sollte dem Präsidenten der EU-Kommission nicht in den Sinn kommen und schon gar nicht als Variante in einem Papier über die Zukunft der EU Platz finden.

Die EU in ihrer derzeitigen Erscheinungsform ist auch für begeisterte Europäer und überzeugte Gegner nationalistischer Tendenzen unerträglich. Die absurden und lähmenden Vorschriften sind bereits so zahlreich und wirken in allen Lebensbereichen, dass eine Toleranz nicht mehr möglich ist. Das Argument, man dürfe doch im Ärger über banale Vorschriften das europäische Friedensprojekt nicht in Frage stellen, zieht nicht mehr.

Die EU hat sich von den rechtsstaatlichen Prinzipien immer weiter entfernt. Der seit jeher bestehende Strukturfehler, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten in der EU-Gesetzgebung ein Veto-Recht haben, darf nie vergessen werden. Vor allem aber hat sich die Kommission zu einer übermächtigen Bürokratie entwickelt, die maßgeblich den Inhalt der Gesetze bestimmt, für die Formulierung der absurden Vorschriften verantwortlich ist, die Verwaltung steuert und als Strafbehörde tätig ist. In dieser Entwicklung liegt eine der Ursachen für den Austritt Großbritanniens begründet. Auch die vor allem in Osteuropa laute Kritik an der EU will die Macht der Kommission reduzieren und die Position der nationalen Regierungen stärken. Und nicht zuletzt: Millionen Bürger ärgern sich täglich, stündlich über den Wust an Vorschriften.

Die Kommission hat also zum großen Teil die Krise der EU verursacht. Es liegt in der Kompetenz der EU und vor allem ihres Präsidenten, das bürokratische Allmacht-Gehabe abzulegen und eine brauchbare Politik zu betreiben. Dass Juncker überhaupt die Fortsetzung des Bisherigen als eine Variante präsentiert, stellt seine Kompetenz als Chef der Kommission in Frage.

Das einzig mögliche Szenario könnte Juncker selbst tagtäglich betreiben

Als vierte Variante erklärt Juncker, die EU möge sich um weniger Themen kümmern, aber diese effizienter und effektiver behandeln. Diese Aussage ist fast frivol. Der Großteil der Initiativen in der EU geht von der Kommission aus. Es liegt also an Juncker und seinen Kollegen sich auf wesentliche Themen zu konzentrieren und für diese brauchbare Vorschläge zu erarbeiten und deren Umsetzung zu betreiben.

Stattdessen werden zahlreiche Bereiche reguliert, die entweder gar keiner Regulierung bedürfen oder besser von nationalen, oftmals sogar von regionalen Behörden zu ordnen wären. Zudem hat sich die Kommission für die Durchsetzung ihrer Vorschriften-Ideen eine perfide Methode zurecht gelegt, die ebenfalls der Präsident abstellen könnte.

- Ein findiger Beamter in einem der zahllosen Räume der Kommission erstellt den Entwurf einer Regelung. Der zuständige Kommissar, die Kommissarin, es sind immerhin 28, künftig 27, von jedem Land einer oder eine, zeigt sich erfreut, die eigene Existenzberechtigung unter Beweis stellen zu können. Der Entwurf wird auf die Reise durch die Kommission, durch den Rat der Regierungen und durch das Parlament geschickt.

- Nirgends findet die Idee besonderen Anklang und so verschwindet der Akt wieder in der Schublade des Erfinders.

- Monate, Jahre später wird das Werk, mit einem neuen Umschlag versehen, wieder zum Thema gemacht. Niemand weiß genau, worum es geht. Vage hat sich aber herumgesprochen, dass man das mutmaßliche Problem doch lösen müsse.

- Und irgendwann, nach vielen Hin und Her wird das neue Regelwerk vom Parlament und vom Rat grundsätzlich beschlossen, die Kommission, also der Erfinder, mit der Ausarbeitung der Detail-Vorschriften betraut und wieder gibt es neue Vorschriften und neue Strafen bei Nicht-Einhaltung.

Der Chef dieses Systems, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, meint, die EU könnte sich auf Wesentliches konzentrieren. Man ist versucht, von einer Verhöhnung zu sprechen.

Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten landet im Straßengraben

Unter der beschönigenden Formel „Länder, die mehr tun wollen, mögen mehr tun“ bringt Juncker das schon oft strapazierte Modell eines „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ zur Sprache. Die Formel ist bekannt: Die höher entwickelten, erfolgreicheren Staaten sollen die Integration stärker vorantreiben, die schwächeren Länder mögen sich Zeit lassen und weniger strenge Vorschriften anwenden. Dieses Modell sei ohnehin schon durch den EURO vorweggenommen, der nicht in allen EU-Staaten zum Einsatz kommt. Also könne man auch in anderen Bereichen differenzieren.

Man muss diese harmlos klingenden Sätze in Klartext übertragen. Folgende Szenarien drängen sich auf:

- Die EU-Osterweiterung wird rückgängig gemacht. Estland, Lettland und Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Kroatien sowie Rumänien und Bulgarien bleiben nach außen Mitglieder, sind aber in der Praxis nur mehr assoziiert.

- Griechenland, Italien, Spanien und Portugal, auch Irland und Malta sowie Zypern werden zu zweitrangigen Mitgliedern herabgestuft.

- Deutschland, Frankreich, die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Österreich, Dänemark, Finnland und Schweden bilden die Stars der schnellen Geschwindigkeit.

Allerdings weisen die Stars keineswegs alle tatsächlich Spitzenleistungen aus.

Also gibt es die EU nicht mehr.

- Damit aber nicht genug. Unter den Stars haben Deutschland, Frankreich, die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Finnland und Österreich den EURO als Währung. Die gemeinsame Währung sollte durch eine gemeinsame Wirtschaftspolitik abgesichert sein. Sollte. Somit würden diese Staaten eine eigene Gruppe bilden.

- Die Stars Schweden und Dänemark betreiben auch jetzt eine eigene Wirtschaftspolitik, könnten also als Klein-Gruppe definiert werden.

- Unter den Mitgliedern der langsamen oder der besonders langsamen Geschwindigkeit sind viele EURO-Länder: Portugal, Spanien, Italien und Griechenland, die Slowakei, Slowenien, Malta, Irland, Lettland, Estland, Litauen, Zypern. Will man diesen einen zweiten Euro zuweisen, einen Schmalspur-Euro?

Wer vom „Europa der zwei Geschwindigkeiten spricht“ sagt, vielleicht ohne es zu wissen, ein „Europa der sechs Geschwindigkeiten“, also kein Europa und keine EU.

Ein Blick in die unvermeidliche Praxis:

- Wer macht die Einstufung?

- Die Ergebnisse der Länder in den einzelnen Gruppen, die sich abzeichnen, sind höchst unterschiedlich. Also werden einige auf ihre Daten verweisen, die die Zuordnung zu einer „besseren“ Gruppe rechtfertigen. Womit schon bei der Einstufung eine Zerreißprobe unvermeidlich ist.

- Und was geschieht, wenn sich zu einem späteren Zeitpunkt die Lage eines Landes dramatisch verschlechtern oder verbessern sollte? Wie erfolgt dann die Änderung der Einstufung?

Das Traum-Szenario: Viel mehr gemeinsam unternehmen!

An fünfter Stelle formuliert Juncker den Traum von einer initiativen, tatkräftigen EU, die den Binnenmarkt weiter entwickelt, eine gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik betreibt und sich als starker Partner im Konzert der Weltmächte profiliert. Diese Perspektive wird als Aufforderung an die Mitglieder formuliert, eigene Interessen hintanzustellen und das gemeinsame Europa – endlich – zu bauen.

Die Staaten haben bei zahlreichen Gelegenheiten in den vergangenen Jahrzehnten gezeigt, dass sie von sich aus nur zögerlich und widerwillig Kompetenzen abgeben. Dies galt bereits in einer Zeit, da man sich noch offiziell zur Integration bekannte, aber in der Praxis bremste. Heute stellen offen vertretene nationalistische Tendenzen das Projekt EU in Frage. Das Motto „Viel mehr gemeinsam unternehmen!“ muss verhallen.

Juncker selbst hätte aber in diesen Tagen Gelegenheit, die EU als starke Kraft zu präsentieren. In Washington wird der neue US-Präsident Donald Trump nicht müde, protektionistische Maßnahmen anzukündigen. Ob er diese auch umsetzen wird, ist im Moment Nebensache. Der Präsident der EU-Kommission hätte längst als Vertreter der Zollunion, die die EU bildet, einen Paukenschlag setzen müssen: Wenn die USA die Importzölle erhöhen, werde die EU sofort nachziehen, wenn die USA Steuerbegünstigen für US-Produzenten einführen, werde die EU ihre Förder-Regeln ändern. Außerdem werde die EU die Geschäfts-Möglichkeiten für US-Banken, -Versicherungen und –Transportunternehmen in Europa einschränken. Davon ist nicht die Rede. Die EU-Kommission möchte dieses Thema im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO behandeln, die bekanntlich Jahre für eine Entscheidung braucht. Zudem erklärt Trump, er habe nicht die Absicht, sich an die Vorgaben der WTO zu halten. Wo bleibt also die starke Stimme der EU?

Das EU-Parlament machte es in diesen Tagen vor: Die Abgeordneten verlangen eine Visa-Pflicht für US-Bürger. Dies wäre eine wirksame Reaktion auf die unerträglichen Verhältnisse bei der Einreise in die USA. Und Europa würde sich gegen den Umstand wehren, dass die USA gegenüber den EU-Staaten Rumänien, Bulgarien, Kroatien, Polen und Zypern die Visa-Pflicht aufrechterhält. Zuständig wäre die Kommission, die aber auch in dieser Frage zögerlich agiert und auf „diplomatische“ Lösungen hofft.

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF. 

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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