Vor dem Hintergrund des Regierungswechsels in den USA hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die EU-Partner laut AFP aufgefordert, Europas Handlungsfähigkeit zu stärken. Auch in den transatlantischen Beziehungen gebe es "keine Ewigkeitsgarantie für die enge Zusammenarbeit mit uns Europäern", sagte Merkel am Donnerstag in Brüssel. "Deshalb bin ich überzeugt, dass Europa und Europäische Union lernen werden müssen, in Zukunft mehr Verantwortung in der Welt zu übernehmen."
Der künftige US-Präsident Donald Trump hatte im Wahlkampf von den europäischen Alliierten in der Nato ein stärkeres finanzielles Engagement gefordert. Sein Verhältnis zur deutschen Bundeskanzlerin ist faktisch nicht existent. Trump hatte Merkel im Wahlkampf massiv wegen der Öffnung der Grenzen und der unkontrollierten Einwanderung kritisiert. In seinen bisherigen Reden hat Trump Deutschland noch nie erwähnt, auch die EU wurde von ihm noch nie angesprochen. Zu Großbritannien und Japan pflegt Trump dagegen seit seinem Wahlsieg vergleichsweise intensive Kontakte.
Für Deutschland wird vor allem die neue Industriepolitik Trumps eine Herausforderung. Der deutschen Automobilindustrie könnten harte Zeiten bevorstehen. Trump will Autos, die in Mexiko billig produziert und danach in die USA eingeführt werden, mit massiven Strafzöllen belegen. Während Amerikaner, Japaner und Italiener bereits ein Einlenken signalisiert haben, will VW weiter in Mexiko produzieren.
Doch Merkel sieht offenbar noch ein tieferes Problem: Es ist unklar, ob der EU-Austritt von Großbritannien nicht dazu führen könnte, dass sich die EU-Staaten versuchen werden, ihre Interessen ohne Brüssel durchzusetzen. Merkel forderte daher, dass sich die EU in den Brexit-Verhandlungen mit London nicht auseinanderdividieren lasse. "Die 27 müssen gemeinsam auftreten in den Verhandlungen", sagte sie. Die britische Regierung will bis Ende März den Austrittsantrag bei der EU einreichen. Um das Land trotz des EU-Austritts für Unternehmen attraktiv zu halten, hat die Regierung Steuersenkungen in Aussicht gestellt.
Auch die Amerikaner wollen die Unternehmenssteuern drastisch senken, was vor allem den großen multinationalen Konzernen nützen würde, die hohe Gewinne machen. EDs ist daher durchaus denkbar, dass es zu einem Wettlauf beim Steuerdumping kommt. Merkel ist sich des Problems bewusst - und will verhindern, dass auch Deutschland in diesen Sog gerät. Daher müssen sich die anderen 27 EU-Staaten auf ein einheitliches Vorgehen bei Unternehmenssteuern verständigen. "Wir wissen alle, wir brauchen mehr Harmonisierung", sagte Merkel am Donnerstag bei einem Besuch in Luxemburg. Wenn die britische Regierung über niedrigere Unternehmenssteuern im Zusammenhang mit dem EU-Austritt nachdenke, sei wichtig, dass "wir als Europäer versuchen, wenigstens grundlegend mehr Gemeinsamkeiten zu haben", mahnte Merkel. Dies werde nicht einfach, weil etwa auch Deutschland mit der Unterscheidung von Körperschaften und Personengesellschaften ein sehr kompliziertes Steuersystem habe.
Das Problem: Schon in weitaus einfacheren Fragen wie etwa der gerechten Verteilung der Flüchtlinge in der EU sind die gemeinsamen Pläne kläglich gescheitert. Auch bei der Banken-Rettung denken die Italiener aktuell nicht daran, sich an die gemeinsam vereinbarten Regeln zu halten. Es ist äußerst zweifelhaft, dass es gerade beim Thema Steuern zu einer Einigung kommen sollte.
Angesichts einer Vielzahl von Konflikten und Armut rund um Europa wäre es "naiv" zu glauben, dass Entwicklungen in der Nachbarschaft der EU "keine direkten Folgen auf unser Leben in Europa haben könnten", warnte Merkel in ihrer Dankesrede bei der Verleihung der gemeinsamen Ehrendoktorwürde durch die Universitäten Gent und Löwen. "Und es wäre genauso naiv, sich immer nur auf andere zu verlassen, die schon die Probleme in unserer Nachbarschaft lösen werden."
"Europa steht vor den größten Herausforderungen der letzten Jahrzehnte" und müsse Antworten darauf finden, sagte die Kanzlerin. Sie warb dabei dafür, den Beschluss der Briten zum Austritt aus der EU dabei auch als Chance zu sehen. "Wir sollten diese Entscheidung zum Anlass nehmen, gemeinsam daran zu arbeiten, Europa jetzt erst recht zusammenzuhalten, weiter zu verbessern und Bürgerinnen und Bürger auch wieder näher zu bringen."
Die Kanzlerin forderte, bis zum EU-Jubiläumsgipfel Ende März zu 60 Jahren Römische Verträge "gemeinsame Vorstellung darüber zu erarbeiten, in welche Richtung sich die Europäische Union in den kommenden Jahren entwickeln soll". Es müssten "konkrete Entscheidungen" getroffen werden in Fragen, "die für die Bürgerinnen und Bürger zentral sind". Merkel nannte dabei unter anderem die Bereiche Migration, Sicherheit und Verteidigung sowie Wettbewerb und Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit.