Politik

Die Nato liegt im Sterben

Letztes Jahr feierte die Nato ihren 70. Geburtstag. Wird sie ihren 75. noch erleben?
Autor
02.08.2020 07:35
Lesezeit: 3 min

Die Nato mag zwar – wie ihr Generalsekretär Jens Stoltenberg behauptet – das „erfolgreichste Bündnis der Geschichte” sein, aber sie steht möglicherweise auch am Rande des Scheiterns. Nach einigen turbulenten Jahren, in denen US-Präsident Donald Trump der Nato zunehmend den Rücken gekehrt hat, sind nun die Spannungen zwischen Frankreich und der Türkei dramatisch eskaliert und haben deutlich werden lassen, wie zerbrechlich das Bündnis geworden ist.

Der Zwist zwischen Frankreich und der Türkei nahm Mitte Juni seinen Anfang, als eine im Mittelmeer unter Nato-Kommando operierende französische Fregatte versuchte, ein Frachtschiff zu inspizieren, das im Verdacht stand, gegen ein von der UNO verhängtes Waffenembargo gegen Libyen zu verstoßen. Frankreich behauptet, drei türkische Schiffe, die das Frachtschiff begleiteten, hätten sich seiner Fregatte „überaus aggressiv“ genähert und drei Mal das Feuerleitradar auf sie gerichtet – ein Signal, das auf einen bevorstehenden Angriff hinweist. Die Türkei dementierte die Darstellung Frankreichs und behauptete, die französische Fregatte hätte stattdessen ihre Schiffe bedrängt.

Ungeachtet der Details ist festzustellen, dass zwei Nato-Bündnispartner einem Schusswechsel im Rahmen einer Nato-Mission sehr nahe kamen. Das markiert einen neuen Tiefpunkt für die Allianz – der ihren Niedergang einläuten könnte.

Der erste Nato-Generalsekretär Lord Hastings Ismay merkte einst in berühmten Worten an, dass die Mission des Bündnisses darin besteht, „die Russen draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten zu halten.“ Diese Dynamik hat sich in den darauffolgenden Jahrzehnten offenkundig verändert, insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses zu Deutschland. Unverändert blieb jedoch die breite Grundlage der Zusammenarbeit – nämlich eine gemeinsam wahrgenommene Bedrohung, starke amerikanische Führung und ein gemeinsames Gefühl der Sinnhaftigkeit.

Ohne die Führung der USA droht die gesamte Struktur ins Wanken zu geraten und schließlich zu zerbrechen. Es ist kein Zufall, dass beim letzten Mal, als zwei NATO-Verbündete so kurz vor einem Schlagabtausch standen, nämlich während der türkischen Invasion von Zypern im Jahr 1974, die USA anderweitig beschäftigt waren, nämlich mit dem Vietnamkrieg. Tatsächlich ereignete sich der aktuelle Zwischenfall zwischen der Türkei und Frankreich nur wenige Tage nachdem bekannt wurde, dass Trump ohne vorherige Absprache mit den amerikanischen Nato-Verbündeten beschlossen hatte, tausende US-Soldaten aus Deutschland abzuziehen.

Anders als im Kalten Krieg befindet sich Deutschland zwar nicht mehr an vorderster Frontlinie, aber die dort stationierten US-Streitkräfte dienen immer noch als überzeugende Abschreckung einer ausländischen Aggression entlang der Nato-Ostflanke. Mit dem Abzug dieser Streitkräfte sendet Trump eine grundlegende Botschaft aus: die Gewährleistung der europäischen Sicherheit ist nicht mehr eine der obersten Prioritäten der USA.

Auch wenn sich die Abwendung Amerikas von Europa unter Trump beschleunigt hat – sie setzte schon vor einem Jahrzehnt ein. Als Trumps Vorgänger Barack Obama im Jahr 2011 seinen „Schwenk nach Asien” bekanntgab, warnte der damalige US-Verteidigungsminister Robert Gates, dass die USA das Interesse an der Nato verlieren könnten, wenn sich in Zukunft erwiese, dass sie nicht mehr wirklich relevant sein. Doch bei der Nato setzte diese Aussage keinen Denkprozess in Gang: Bis zum vergangenen Dezember wurden in den Gipfelerklärungen nicht einmal die mit dem Aufstieg Chinas verbundenen Herausforderungen thematisiert. Zu diesem Zeitpunkt hatten die USA das Interesse schon verloren. Und jetzt, unter Trump, ist aus diesem Desinteresse offene Feindschaft geworden.

Ohne die USA als steuerndes Element haben die Nato-Verbündeten begonnen, sich in unterschiedliche Richtungen zu bewegen. Die Türkei bildet dabei das eindrücklichste Beispiel. Bereits vor dem jüngsten Streit mit Frankreich kaufte die Türkei trotz amerikanischer Einwände ein russisches S-400-Raketenabwehrsystem. Außerdem interveniert sie schamlos in Libyen und stellte der Regierung der nationalen Einheit in Tripolis Luftunterstützung, Waffen und Kämpfer zur Verfügung.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan scheint zuversichtlich zu sein, dass sein direkter Draht zu Trump ihn davor bewahrt, Konsequenzen für sein Verhalten tragen zu müssen. Die Entscheidung des US-Präsidenten, keine über den Ausschluss der Türkei aus dem F-35-Kampfjetprogramm hinausgehenden Sanktionen zu verhängen, scheint Erdoğans Kalkül zu bestätigen.

Aber die Türkei steht nicht allein da, wenn es darum geht, auf eigene Faust loszuschlagen: Frankreich hat dasselbe getan, und zwar auch in Libyen. Mit dem militärischen Beistand für den von Russland im Kampf gegen militante Islamisten unterstützten General Khalifa Haftar, der den Osten Libyens kontrolliert, hat sich Frankreich gegen seine Nato-Verbündeten gestellt. Obwohl Präsident Emmanuel Macron leugnet, im Bürgerkrieg auf Haftars Seite zu stehen, hat er kürzlich Ägyptens Drohung unterstützt, militärisch gegen die Türkei vorzugehen, die laut Macron eine „strafrechtliche Verantwortung“ in Libyen trägt.

Aufgrund der zunehmenden Spannungen mit der Türkei beharrt Frankreich mehr denn je darauf, dass ein – defacto von Frankreich angeführter - europäischer Sicherheits- und Verteidigungsansatz unerlässlich sei. Die Tatsache, dass Macrons Beliebtheit unter der französischen Bevölkerung nachlässt, verstärkt sein Gefühl der Dringlichkeit nur noch.

Abgesehen von politischen Beweggründen hat Macron aber laut ausgesprochen, was wenige andere zugeben: dass nämlich die Nato aufgrund des nur schwach ausgeprägten Bekenntnisses von Trump, Amerikas Verbündete im Ernstfall auch tatsächlich zu verteidigen, „hirntot“ sei. Angesichts der Tatsache, dass die Abwendung der USA von der Nato lange vor Trump einsetzte, besteht wenig Grund zur Annahme, dass sich dieser Trend umkehren wird, auch wenn er sich möglicherweise verlangsamt, sollte Trump die Wahlen im November verlieren. Wenn Europa nicht beginnt, sich selbst als geopolitische Macht zu begreifen und Verantwortung für seine eigene Sicherheit zu übernehmen, wird der Kontinent, so Macron, „sein Schicksal nicht mehr selbst in der Hand haben“.

Im vergangenen Dezember gedachte die Nato der 70 Jahre, in denen sie auf beiden Seiten des Atlantiks für Frieden, Stabilität und Wohlstand sorgte. Doch die Risse im Bündnis vertiefen sich, und das lässt ernsthafte Zweifel daran aufkommen, ob die Allianz ihr 75-jähriges Bestehen noch erleben wird. Für Europa ist es nun an der Zeit, seine Verteidigung und sein Potenzial auszubauen.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

Ana Palacio war von 2002 bis 2004 spanische Außenministerin und von 2006 bis 2008 Mitglied des Vorstands der Weltbank.

Copyright: Project Syndicate, 2020.www.project-syndicate.org

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen Gold als globale Reservewährung auf dem Vormarsch

Strategische Relevanz nimmt zu und Zentralbanken priorisieren Gold. Der Goldpreis hat in den vergangenen Monaten neue Höchststände...

DWN
Finanzen
Finanzen Trumps Krypto-Coup: Milliarden für die Familienkasse
30.06.2025

Donald Trump lässt seine Kritiker verstummen – mit einer beispiellosen Krypto-Strategie. Während er Präsident ist, verdient seine...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Streit um Stromsteuer belastet Regierungskoalition
30.06.2025

In der Bundesregierung eskaliert der Streit um die Stromsteuer. Während Entlastungen versprochen waren, drohen sie nun auszubleiben –...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft PwC: Künstliche Intelligenz schafft Jobs nur für die, die vorbereitet sind
30.06.2025

Künstliche Intelligenz verdrängt keine Jobs – sie schafft neue, besser bezahlte Tätigkeiten. Doch Unternehmen müssen jetzt handeln,...

DWN
Unternehmen
Unternehmen United Internet-Aktie unter Druck: 1&1 reduziert Prognose
30.06.2025

1&1 senkt überraschend seine Gewinnprognose trotz zuletzt guter Börsenstimmung. Der Grund: deutlich höhere Kosten beim nationalen...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Inflation in Deutschland sinkt im Juni auf 2,0 Prozent: Energiepreise entlasten
30.06.2025

Die Inflation in Deutschland hat im Juni einen überraschenden Tiefstand erreicht – doch nicht alle Preise sinken. Was bedeutet das für...

DWN
Politik
Politik Trumps Schritte im Nahen Osten: Nur der Anfang eines riskanten Spiels
30.06.2025

Donald Trump bombardiert den Iran, erklärt die Waffenruhe – und feiert sich selbst als Friedensbringer. Experten warnen: Das ist erst...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Raucherpause im Job: Ausstempeln erforderlich?
30.06.2025

Raucherpause im Job – ein kurzer Zug an der Zigarette, doch was sagt das Arbeitsrecht? Zwischen Ausstempeln, Betriebsvereinbarung und...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Lufthansa sichert sich Anteile an Air Baltic – trotz Bedenken
30.06.2025

Die Lufthansa steigt bei der lettischen Fluggesellschaft Air Baltic ein – jedoch nicht ohne Bedenken der Kartellwächter. Was bedeutet...