Deutschland

Berliner Staatsrechtler: „Wir befinden uns in einer Form von Gesundheits-Notstand“

Corona: Der Staatsrechtler Professor Christian Pestalozza gibt im DWN-Interview eine Einschätzung, wie Lockdowns, Grundrechts-Eingriffe und Restriktionen aus verfassungsrechtlicher Sicht zu bewerten sind.
21.03.2021 10:08
Lesezeit: 6 min
Berliner Staatsrechtler: „Wir befinden uns in einer Form von Gesundheits-Notstand“
Der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts. (Foto: dpa)

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Gab es in der Geschichte der Bundesrepublik schon mal solche Eingriffe in die Grundrechte, wie wir sie derzeit erleben?

Christian Pestalozza: Dies ist eine einmalige Situation. Eine solche Pandemie haben wir in den vergangenen Jahrzehnten nicht erlebt. Deswegen sind jetzt viele Maßnahmen nötig geworden, die sonst nicht notwendig sind. Dies ist aus verfassungsrechtlicher Sicht schon eine Premiere.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welche Restriktionen sind denn rechtlich gesehen besonders problematisch?

Christian Pestalozza: Grundsätzlich lässt sich dies nicht pauschal bewerten. Man kann sich nicht auf eine einzelne konkrete Handlung konzentrieren und klar sagen, dies ist rechtlich problematisch. Denn der deutsche Staat hat eine Vielzahl von Maßnahmen getroffen. Darüber hinaus wechselt die Art der Maßnahmen ständig, die sich immerfort an die neueste Entwicklung der Pandemie anpassen müssen. Beispielsweise richten sie sich nach der Intensität der Verbreitung des Virus. Da es eine solche Pandemie früher nicht gegeben hat, müssen die Vertreter des Staates immer wieder dazu lernen – genauso wie wir alle. Es ist schwer, irgendeine Maßnahme herauszugreifen, weil es auf die jeweilige Situation ankommt, ob die betreffende Grundrechtseinschränkung verhältnismäßig ist. Sie muss ein legitimes Ziel verfolgen, erforderlich sein, geeignet sein und für den Betroffenen auch zumutbar sein. Zusätzlich muss man differenzieren, welche Gruppe davon betroffen ist.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Das bedeutet, die Pandemie zeichnet aus, dass es ein ganzes Bündel von Maßnahmen gibt, die man in dieser Fülle nie angewendet hat. Lässt sich dies so interpretieren?

Christian Pestalozza: Es sind sehr viele unterschiedliche Maßnahmen, die sehr verschiedene Gruppen betreffen. Darüber hinaus werden die meisten von uns Bürgern gleichzeitig von mehreren Eingriffen tangiert: Beispielsweise müssen wir in einer bestimmten Situation oder an einem besonderen Ort eine Maske tragen, oder wir müssen besondere Hygiene-Vorschriften einhalten. Zusätzlich können wir von Ausgangssperren oder Reiseeinschränkungen betroffen sein. Dann existieren auch Beschränkungen, die etwas spezieller sind – beispielsweise die Zeit für die Ladenöffnungen. Diese betreffen uns als Kunden natürlich auch, aber in erster Linie die Ladeninhaber, die ihre Geschäfte nicht oder nur unter eingeschränkten Voraussetzungen öffnen dürfen. Im Einzelfall muss man die bestimmten Beschränkungen für eine Gruppe sammeln und analysieren, ob sie der Besonderheit der betreffenden Gruppe gerecht werden.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Der Strafrichter am Berliner Landgericht, Pieter Schleiter, ist der Ansicht, dass die deutsche Corona-Politik verfassungswidrig ist. Deshalb hat er am Bundesverfassungsgericht Karlsruhe eine Beschwerde gegen die Bundes- und Landesnormen zur Corona-Bekämpfung eingereicht. Der Jurist sagte unter anderem im Gespräch mit der Tageszeitung „Die Welt“:

„Was gerade in Deutschland stattfindet, hat eine Dimension, die man sich eigentlich nur in einer Notstandsverfassung vorstellen kann (…) Die Rechtswirklichkeit ähnelt der einer Notstandsverfassung ...“

Wie bewerten Sie diese Einschätzung?

Christian Pestalozza: Ja, wir befinden uns durch die Pandemie in einer Art Notstand. Und natürlich ist es nicht so, wie unser Grundgesetz das kennt. Dort geht es beispielsweise um den Verteidigungsfall oder die Abwehr einer Revolution, die die Verfassung außer Kraft setzen will. Da die Gesundheit betroffen ist, haben wir eine Form von „Gesundheits-Notstand“. Dafür hat die Verfassung keine besonderen Vorkehrungen.

Es gibt nur diesen eingeschränkten Ausnahmezustand, wo manche alltäglichen Regeln nicht gelten, die sonst die Verfassung vorschreibt. Eine solche Vorkehrung haben wir für pandemische Situationen nicht. Wenn wir keine Verfassungsänderung wollen, müssen wir uns halt darauf verständigen, mit dem Instrumentarium auszukommen, das uns die Verfassung gibt – also mit der Gesetzgebung und mit dem Vollzug. Wir müssen versuchen, das Beste daraus zu machen. Ein pauschaler Vorwurf, die Restriktionen seien alle verfassungswidrig, weil die Verfassung das nicht kennt, ist abwegig. Denn das Grundgesetz kennt zwar in der Tat keinen Ausnahmezustand wegen einer Pandemie. Doch heißt das nicht, dass sie den Versuch verbietet, die Pandemie mit grundrechtseinschränkenden Mitteln zu bekämpfen.

Im Gegenteil: Die Verfassung verlangt das sogar, weil sie den Staat dazu verpflichtet, unsere Gesundheit zu schützen. Der Staat ist nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, das zu unternehmen, was nach menschenmöglichem Ermessen und dem Stand der Wissenschaft möglich ist, um unser Wohl zu wahren. Eine pauschale Verdammung, das alles sei verfassungswidrig, ist völlig abwegig.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Das wichtigste Gremium ist die Bund-Länder-Konferenz, die von Bundeskanzlerin Angela Merkel geleitet wird. Das Parlament bleibt außen vor. Eigentlich sollten die Volksvertretung in solche wesentlichen Entscheidungen über Grundrechtseingriffe eingebunden werden.

Wie bewerten Sie dies?

Christian Pestalozza: Wie stark das Parlament eingebunden ist, hängt vom Parlament selbst ab. Es ist nicht so, dass dem Bundestag und dem Bundesrat von der Bundesregierung Kompetenzen aus der Hand genommen worden sind, die sie nicht freiwillig abgegeben hätten. Dass manche sagen, dass noch mehr und Genaueres im Infektionsschutzgesetz geregelt sein sollte, verstehe ich allerdings schon.

Da hat man aber schon einiges nachgebessert, nach welchem Programm die Bundesregierung und die Landesregierungen tätig werden dürfen. Da könnte man zwar noch mehr verlangen. Doch ist dort alles grundsätzlich in Ordnung. Darüber hinaus hat das Parlament jederzeit die Möglichkeit, die gesamte Macht wieder zurückzurufen. Bundestag und Bundesrat können immer das Infektionsschutzgesetz so ändern, dass noch mehr in das Gesetz hineingenommen wird und weniger den Verordnungsgebern auf Bundes- und Landesebene überlassen bleibt.

Doch hat das Parlament derzeit offenbar den Eindruck, dass die Dinge bei der Exekutive – bei den Regierungen – in guten Händen sind. Deswegen hat es zum Erlass von Verordnungen ermächtigt und ziemlich genau beschrieben, in welchen Bereichen welche Maßnahmen ergriffen werden können.

Zusätzlich man muss immer wieder betonen, dass das Parlament jederzeit die Kompetenzen wieder zurückholen kann. Wenn die Parlamentarier wollen, dann können sie innerhalb nur einer Woche ein entsprechendes Gesetz ausarbeiten.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Ein sehr wichtiges Gremium ist nach wie vor das Bund-Länder-Treffen, das von der Bundeskanzlerin Angela Merkel angeführt wird.

Ihr Kollege, Professor Ulrich Battis, sagte dazu im Oktober 2020 im Sender „Phönix“ [23:25 bis 23:42]: „Dieses Treffen der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten ist juristisch gesehen ein Nullum, das gibt es überhaupt nicht. Die können Empfehlungen abgeben, ja. Doch in der Öffentlichkeit heißt es immer, die Chefin muss die Richtung vorgeben. Dabei hat die Chefin überhaupt nichts vorzugeben.“

Christian Pestalozza: Die Verfassung sieht ein gemischtes Gremium dieser Art aus Bundes- und Landesregierung zwar nicht vor. Doch geht es gar nicht darum, dass dort formell rechtlich verbindliche Beschlüsse gefasst werden, sondern darum, dass die 17 Ebenen aus Bundesregierung und Landesregierungen über alle Kompetenzgrenzen hinweg kontinuierlich miteinander sprechen, sich informieren, sich beraten und voneinander lernen in einem Bereich, der für alle neu und herausfordernd ist. Ich hätte umgekehrt größte Bedenken, wenn es eine solche Plattform nicht gäbe.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Andere kritische Stimmen – beispielsweise die FDP – fordern eine langfristige Strategie zur Pandemie-Bekämpfung.

Wie stehen Sie dazu?

Christian Pestalozza: Das ist eine Forderung, zu der wir alle neigen. Das hätten wir gerne. Die Pandemie-Verläufe lassen sich aber vorher nicht mit Gewissheit abzeichnen und vorhersagen. Man weiß nicht, in welche Richtung und mit welcher Intensität sich das Virus ausbreiten wird, vor allem, wenn die Impfungen nicht vorankommen. Darüber hinaus ist nicht klar, wie sich die Mutationen entwickeln. Zusätzlich wissen wir noch nicht, wie wirksam die Impfungen sein werden. Da möchte ich denjenigen sehen, der einen vernünftigen Plan aufstellen kann, in dem steht, was wir in sechs Monaten machen müssen. Wir alle lernen täglich dazu. Das gilt für die Medizin, für die politisch Verantwortlichen und für uns Bürger. Selbstverständlich muss man auch unverzüglich alle Restriktionen wieder zurücknehmen, sollte die Gefahrenlage vorbei sein.

Das ist auch klar. Doch wann das sein wird, weiß momentan ja noch niemand. Ich verstehe natürlich, dass die Einschränkungen für sehr viele Bürger kaum zumutbar und tragbar sind – beispielsweise, wenn man an die normale Familie mit schulpflichtigen Kindern denkt, wo die Eltern arbeiten. Ihnen wird sehr viel zugemutet – durch Schulschließungen, Bewegungsbeschränkungen und die Verringerung der Kontakte. Das richtet immense wirtschaftliche, psychologische und familiäre Schäden an. Das ist auch klar.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sie haben die wirtschaftlichen Schäden angesprochen. Derzeit bereitet der Einzelhandel Klagen gegen den Lockdown vor. Der Berliner Anwalt Nico Härting, der entschädigungslose Betriebsschließungen für verfassungswidrig hält, wird „im Tagesspiegel“ folgendermaßen zitiert: "Auch muss Paragraf 28a des Infektionsschutzgesetzes beachtet werden, der bei sinkenden Inzidenzen Öffnungsschritte vorschreibt."

Darüber hinaus ist in dem Beitrag der Zeitung davon die Rede, dass monatelange Betriebsschließungen sogar eine Art Enteignung seien.

Wie kommentieren Sie dies?

Christian Pestalozza: Pauschal lässt sich dies kaum beantworten. Doch kann es im Einzelfall durchaus sein, dass die Restriktionen für einen einzelnen Unternehmer eine Art Enteignung darstellen, die auch entschädigt werden müssen. Man muss auch betonen, dass der Staat in vielen Fällen nicht darauf wartet, bis die Entschädigungsansprüche erhoben werden, sondern er zahlt von sich aus. Das können beispielsweise Überbrückungshilfen sein. Deshalb muss das Entschädigungsrecht oft gar nicht angewendet werden.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was sollten die politisch Verantwortlichen aus Ihrer Sicht verbessern?

Christian Pestalozza: Welche Regeln auch immer die Politik erlässt, modifiziert oder wieder aufhebt – wichtig scheint mir, dass sie die Bevölkerung unablässig und uneingeschränkt auf dem Laufenden hält, das heißt, die erlassenen Regeln erläutert und die Menschen in ihre Planungen einweiht. Darüber hinaus muss die Politik deutlich machen, dass sie weiß, in welchem Maße sie auf das Vertrauen und die Kooperation der Bevölkerung angewiesen ist, dass es also um eine gemeinsame Sache geht. Mein Eindruck ist, dass wir da trotz aller Belastungen auch durch die schiere Dauer der Pandemie und auch trotz mancher Fehler auf beiden Seiten auf einem guten gemeinsamen Weg sind.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herr Pestalozza, herzlichen Dank für das Gespräch.

Zur Person: Albert Rudolf Christian Graf von Pestalozza ist emeritierter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht der Freien Universität Berlin.

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