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Steuer-Milliarden, um Unterrichtsausfall zu kompensieren: Netzwerke machen sich die Taschen voll, Schüler gucken in die Röhre

Lesezeit: 6 min
17.06.2021 09:54
Die Milliarden, mit denen Corona-geschädigten Schülern geholfen werden soll, sind rausgeschmissenes Geld. Kindern und Jugendlichen muss auf andere Weise geholfen werden.
Steuer-Milliarden, um Unterrichtsausfall zu kompensieren: Netzwerke machen sich die Taschen voll, Schüler gucken in die Röhre
Kinder freuen sich normalerweise, wenn die Schule ausfällt - aber viele Monate lang nicht zur Schule gehen zu können, stellte für die meisten eine massive Belastung dar. (Foto: dpa)

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Die Bundesregierung hat kürzlich ein Milliardenprogramm verabschiedet, mit dem Kinder und Jugendliche in der Corona-Pandemie unterstützt werden sollen. Die Deutschen Wirtschaftsnachrichten haben sich dazu mit dem Publizisten Bernd Liske unterhalten, der sich analytisch-konzeptionell schon über zwei Jahrzehnte mit dem Bereich „Bildung“ befasst.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie beurteilen Sie die jüngsten Maßnahmen der Bundesregierung, um Schüler und Jugendlichen zu unterstützen?

Bernd Liske: Lassen Sie uns auf die eine Milliarde konzentrieren, mit der die Lernrückstände abgebaut werden sollen. Sie soll dazu genutzt werden, in den Sommerferien Sommercamps und Lernwerkstätten durchzuführen und mit Beginn des neuen Schuljahres unterrichtsbegleitende Fördermaßnahmen in den Kernfächern anzubieten. Um das zu ermöglichen, soll eine Zusammenarbeit mit Stiftungen, Vereinen, Initiativen, Volkshochschulen und kommerziellen Nachhilfeanbietern gesucht werden. Auch pensionierte Lehrer und Lehramtsstudenten sollen mit einbezogen werden.

Schauen wir uns - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - die Lage an. Seit über einem Jahr bekommt ein großer Teil der Schüler keinen anständigen Unterricht. Das ifo-Institut hat dazu im April eine Studie veröffentlicht. Danach haben die Schüler sich durchschnittlich 4,3 Stunden pro Tag mit schulischen Tätigkeiten beschäftigt. Bei fast jedem vierten Kind waren es nicht mehr als zwei Stunden. Nur ein Viertel der Schüler hatte täglich gemeinsamen Unterricht, und etwas mehr als ein Drittel (39 Prozent) maximal einmal pro Woche. Nachhilfeunterricht wurde nur von 21 Prozent der Schüler genutzt. Digitalisierung heißt vielfach, wöchentlich Aufgaben per E-Mail zu versenden oder zum Download bereitzustellen. Deutsche Grundschüler sind in den naturwissenschaftlichen Fächern nur Durchschnitt und dürften in höheren Klassen Probleme bekommen. Ein großes Problem ist ihre unzureichende Lesekompetenz.

Und nun sollen aus den genannten Kreisen eine Vielzahl von Personen dieses Manko beheben – ohne dass es irgendwelche Standards gibt, ohne Erfolgskontrolle, ohne ein Nachdenken darüber, wieviel Zeit und Personal es benötigt, ein Jahr Rückstand in dieser Weise auszugleichen? Vom Prinzip her wird auch der Beruf des Lehrers entwertet, wenn „Leute von der Straße“ ausreichen, um die Defizite abzubauen.

Daher bin ich mir ziemlich sicher, dass dieses Programm die Lernrückstände der Corona-Generation nur sehr beschränkt abbauen wird. Aber sicher ist es eine Gelddruckmaschine für die Netzwerke, aus denen heraus dieses Projekt initiiert wurde.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Warum sucht man nicht nach substanzielleren Lösungen?

Bernd Liske: Ein Aspekt unserer auf Eigennutz statt Gemeinnutz orientierten Gesellschaft ist es, dass die Systemrelevanz der

Bildung immer mehr in den Hintergrund gedrängt wird, dass sie stattdessen ein zu bedienender Markt und eine schöne Spielwiese für endlose politische Debatten und substanzarme Reformen zu sein scheint.

Ich beobachte seit Jahrzehnten, wie der Bildungsnotstand jedes Jahr durchs Dorf getrieben wird, ohne dass wir ihm den Garaus machen – oder besser, machen wollen, weil das mit dem schönen Effekt verbunden ist, im nächsten Jahr die Anstrengung für die Generierung neuer Ideen in Grenzen halten zu können, doch dafür mehr Geld zu bekommen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was ist aus ihrer Sicht notwendig?

Bernd Liske: Wir müssen uns bewusst werden, dass uns in China ein Wettbewerber erwachsen ist, der uns mehr und mehr aus dem schieren Ausstoß an überaus gut ausgebildeten Arbeitskräften, der wachsenden Finanzkraft und einer Leistungsbereitschaft, die schon im Kindesalter anerzogen wird, überlegen ist. Darauf mit Handauflegen und provinziellem Egoismus antworten zu wollen, erscheint mir wenig hilfreich.

Wir brauchen, was den Bildungsbereich betrifft, rasch umfassende Lösungen für Probleme, die uns daran hindern, das uns zur Verfügung stehende Humankapital bestmöglich in den Wettbewerb einzubringen. Diese Lösungen sind zunehmend dergestalt, dass ihre Komplexität es erfordert, Sachverhalte tiefer zu durchdringen und Lösungen zu finden, die der Komplexität angemessen sind. Singuläre Lösungen verschaffen vielleicht Genugtuung, entledigen uns aber nicht der bestehenden Probleme. Sicher müssen wir auch einige weitere Probleme tiefer durchdringen. So brauchen wir Innovationen, die das Denken verändern.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sie haben in diesem Jahr einen eigenen Vorschlag erarbeitet, wie der Bildungsmisere begegnet werden kann. Was hat es damit auf sich?

Bernd Liske: Zunächst müssen wir berücksichtigen, dass die Bildungsmisere in Deutschland ein vielschichtiges Problem ist: Wir haben die Corona-Generation mit ihren Lernrückständen, weiterhin den Lehrermangel, die Überalterung der Lehrerschaft, einen hohen Krankenstand, viele Fehlstunden, unzureichende Motivation sowie Distanzunterricht mit fragwürdiger Qualität. Jedes einzelne dieser Probleme ist selbst schon so komplex, dass es uns in der Art, wie wir in Deutschland an Probleme herangehen, zunehmend schwerer fällt, sie separat zu lösen. Sie müssen aber gelöst werden, wenn die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands nicht auch darüber noch weiter Schaden nehmen soll.

Mein allgemeiner Lösungsansatz für derartige Probleme ist: Verlasse die Spur und erhöhe die Komplexität. Insofern habe ich vorgeschlagen, dass die ARD den gesamten Unterricht aller Klassenstufen entlang der Lehrpläne mit den am besten dafür geeigneten Lehrern in verschiedener Weise abbildet und dauerhaft in seiner Mediathek zur Verfügung stellt.

Ich sehe dabei verschiedene Nutzen: Kompensation von Lehrerausfall, permanente Möglichkeit der Reflektion beliebigen Lehrstoffs, Qualifizierung der Prüfungsvorbereitung über alle Lebenssituationen hinweg, Unterstützung des lebenslangen Lernens, Qualifizierung des Präsenz- und Distanzunterrichts durch Best Practice, Einfluss auf die Leistungsbereitschaft der Lehrer, verfügbares digitales Gedächtnis für den Fall einer erneuten Katastrophe. Eine Folge dessen wäre sicher auch, das begleitende Angebote eine ganz andere Qualität und eine Bindung an konkrete Lernziele hätten.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: An wen haben Sie sich mit ihrem Vorschlag gewandt?

Bernd Liske: Nachdem ich den Vorschlag auf Grund zurückliegender Erfahrungen am 12. Januar zunächst getwittert hatte, wandte ich mich an den Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Dr. Reiner Haseloff, seinen Bildungsminister sowie die Intendantin des MDR. Als es von dort keine Reaktion gab, bemühte ich mich unter anderem auch um die Fraktionen im Landtag von Sachsen-Anhalt – die hatten kurz vorher den Lehrermangel thematisiert –, die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, den Bundeselternrat, die Sendung „Campus & Karriere“ des WDR, nachdem der Bundeselternrat am 21. Januar bei Campus & Karriere eine Reihe von Problemen thematisiert hatte, sowie den Intendanten des NDR, der in einem Interview zum Ausdruck gebracht hatte, er wolle die Menschen zum Nachdenken anregen, Gärungsprozesse initiieren, Meinungsvielfalt schaffen und Leute schlauer machen.

Wir müssen Worte auf ihre Belastbarkeit hin prüfen. Es ist meine Überzeugung, dass wir als Bürger allgegenwärtiges Versagen nicht immer wieder bemängeln sollten, ohne uns gleichzeitig selbst aufzuerlegen, engagiert und mit eigenen Beiträgen Lösungen für identifizierte Probleme anzubieten. Der hessische Ministerpräsident, Volker Bouffier, hat das mal sehr schön zum Ausdruck gebracht: „Als Bewohner ist man noch kein Bürger. Wenn jeder nur das täte, was er muss, wäre unsere Gesellschaft kälter und ärmer.“

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sie haben Vorschläge unterbreitet – auf welche Resonanz sind diese gestoßen?

Bernd Liske: Es wurde überwiegend gar nicht reagiert, oder es wurden eigene Leistungen herausgestellt – die uns erst in die Bildungsmisere geführt haben –, ohne sich mit meinem Vorschlag überhaupt auseinanderzusetzen. Von Campus & Karriere hieß es, „dass wir nicht jede Perspektive aufgreifen können“.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Nun gut: Könnte es eventuell sein, dass ihr Vorschlag einfach unausgereift, ja weltfremd ist?

Bernd Liske: Ich versichere Ihnen: Ich fände es toll, Argumente zu hören, aus denen sich das ergibt. Die Erfahrung lehrt jedoch, dass mir derartiges immer wieder hilft, meine Analysen und Konzepte substanziell anzureichern. Kritik ist einer der wertvollsten und leider in unserer Gesellschaft unzureichend genutzten Impulsgeber. Kritik ist wie ein Schmerz, mit dem Ihr Körper Ihnen signalisiert, dass Sie sich um etwas kümmern sollten, dass Ihnen bisher nicht bewusst ist.

Es wäre im Übrigen ja auch schon ein Effekt, wenn der geäußerte Vorschlag zu Ideen führt, die vielleicht praktikabler sind. Mein Herangehen ist es doch nicht, meinen Gedanken durchsetzen zu wollen. Ich suche nach Lösungen für bestehende Probleme und habe mir auf Grund der Freiheit, mit der ich das praktiziere, vielfältige Möglichkeiten geschaffen, dabei originär, originell und substanziell zu sein.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Haben Sie andere Erklärungsversuche?

Bernd Liske: Nun ja, wie schon zum Ausdruck gebracht: In unserer Gesellschaft dominiert der Eigennutz. Er schränkt die Freiheitsgrade bei der Problembewältigung massiv ein. Aus ihm erwächst der Lobbyismus. Die Netzwerke funktionieren inzwischen wie Selbstbedienungsläden, in denen man für den schönen Schein inzwischen nicht nur mit Millionen, sondern mit Milliarden belohnt wird, weil er das Sein so ausreichend bestimmt, dass dem eigentlich von Versagen bestimmten Handeln dadurch trotzdem Legitimation zuteilwird.

Hinzu kommt die Trägheit. Da wir es nicht gewohnt sind, uns mit Gedanken abseits der gewohnten Spuren substanziell zu beschäftigen, fehlt die Erfahrung, sich mit Gedanken abseits der gewohnten Spuren substanziell zu beschäftigen.

Ein weiteres kommt hinzu.: Die Diskrepanz zwischen der Politik und verschiedenen Interessengruppen auf der einen Seite sowie den Bürgern auf der anderen Seite. Die Bürger werden nur als zu bemutterndes Objekt statt als kreativ-schöpferisches Subjekt betrachtet, aus dem heraus substanzielle Beiträge für Problemlösungen erwachsen können. Wir müssen die kognitive Diversität unserer Gesellschaft besser nutzen und massiv ausbauen. Von einer lernenden Organisation Deutschlands, in der die politische Führung als Spinne im Netz wirkt, sind wir jedoch weit entfernt.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Haben Sie es insofern aufgegeben, ihren Vorschlag weiter zu verfolgen?

Bernd Liske: Nein. Ihn hier zu diskutieren, enthält implizit ja die Bereitschaft, mich über ihn gern auszutauschen. Da Worte Werte beschreiben, ihr Gewicht sich aber erst durch Handlung entblößt, sehe ich eine gute Gelegenheit, dazu einen Beitrag leisten zu können.

Generell sollten wir uns alle bewusst sein, was auf dem Spiel steht. Und da gilt: Wir sind eine Gemeinschaft, die nur zusammen eine Zukunft hat.

Bernd Liske ist Inhaber von „Liske Informationsmanagementsysteme“. Seine Bemühungen sind darauf gerichtet, die Leistungsfähigkeit von Individuen und die Wirksamkeit von Strukturen zu stärken. Im BITKOM war er seit dessen Gründung bis Mai 2015 Mitglied des Hauptvorstandes.

Die Bücher von Bernd Liske sind erhältlich über Amazon.


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