Politik

China nicht mehr größtes Land der Welt: Regierung gerät in Panik, fälscht Volkszählung

Lesezeit: 4 min
19.09.2021 12:12  Aktualisiert: 19.09.2021 12:12
China hat viel weniger Einwohner als offiziell behauptet - ein schwerer Rückschlag im Kampf um die weltweite politische und wirtschaftliche Vormachtstellung.

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Kaum jemals hat ein Volkszählungsbericht so viel Aufmerksamkeit erregt wie der, den China im Mai dieses Jahres veröffentlicht hat. Angesichts der langen chinesischen Tradition der Manipulation demographischer Daten war es zumindest verdächtig, dass die Ergebnisse des Zensus von 2020 erst einen Monat später als ursprünglich geplant veröffentlicht wurden. Aber was kurz darauf geschah, hat die düstere demographische Wirklichkeit des Landes effektiv bestätigt.

Offiziell ist die chinesische Bevölkerungsentwicklung nicht alarmierend: Laut der Volkszählung 2020 hat die Bevölkerungszahl des Landes die erwartete Höhe von 1,41 Milliarden erreicht und steigt weiter. Aber weniger als einen Monat nach der Veröffentlichung dieser Daten kündigten die chinesischen Behörden an, die Regeln zur Familienplanung zu lockern, so dass Haushalte statt zwei künftig drei Kinder haben dürfen. Außerdem wurde ein umfangreicher Plan vorgestellt, mit dem die Fertilitätsrate gesteigert werden soll.

Diese Maßnahmen legen nahe, dass Chinas demographische Struktur tatsächlich viel schlechter ist, als uns die Behörden weismachen wollen. Tatsächlich lässt eine Analyse der Altersstruktur des Landes darauf schließen, dass dort viel weniger Bürger leben als behauptet und dass die Bevölkerungszahl bereits zurückgeht.

Frühere Volkszählungen deuten darauf hin, dass die chinesische Fertilitätsrate bereits 1991 unter die Reproduktions-Rate (normalerweise etwa 2,1 Kinder pro Frau) gefallen ist – elf Jahre, nachdem landesweit die Ein-Kind-Politik eingeführt wurde. In den Jahren 2000 und 2010 lag die Fertilitätsrate bei nur 1,22 beziehungsweise 1,18, aber die Zahlen wurden auf 1,8 und 1,63 angepasst.

Diese Anpassungen erfolgten aufgrund von Daten zur Einschulung von Kindern. Aber solche Daten sind weit davon entfernt, verlässlich zu sein. Die lokalen Behörden melden oft mehr Schüler, als sie tatsächlich haben – in vielen Fällen 20 bis 50 Prozent mehr – um sich höhere Ausbildungssubventionen zu sichern. Beispielsweise hat die Stadt Jieshou in der Provinz Anhui laut Bericht des chinesischen Staatsfernsehens CCTV im Jahr 2012 51.586 Grundschüler gemeldet, obwohl die tatsächliche Zahl bei nur 36.234 lag. Dadurch konnte sie sich zusätzliche 10,63 Millionen Yen (1,4 Millionen Euro) an staatlicher Finanzierung sichern.

Angeblich gab es in China zwischen 2004 und 2009 104 Millionen Erstklässler. Dies stimmt mit den 105 Millionen Geburten überein, die Chinas Nationales Statistikbüro für die Jahre 1998-2003 verzeichnete. Aber 2010 waren nur 84 Millionen Menschen im Alter von sieben bis zwölf Jahren im obligatorischen Hukou-System (offizielle Wohnsitz-Kontrolle – Anm. d. Red.) registriert, und in den Jahren 2012-2017 nur 86 Millionen Neuntklässler.

Als die Volkszählungen von 2000 und 2010 eine viel kleinere Bevölkerungszahl ergaben als erwartet, korrigierten die Behörden die Zahlen nach oben. Beispielsweise ergab sich für die Provinz Fujian 2010 ein Wert von 33,29 Millionen, der dann aber auf 36,89 Millionen nach oben angepasst wurde.

Aber diese Veränderungen konnten die Fehler in den aufgeschlüsselten Zahlen nicht verschleiern. Aus der Anzahl der Menschen im Alter von bis zu neun Jahren (laut Volkszählung 2000) lässt sich schließen, dass zwischen 1991 und 2000 ganze 39 Millionen weniger Babys geboren wurden, als aus den überarbeiteten Daten ersichtlich ist. Dementsprechend könnte die tatsächliche Bevölkerungszahl im Jahr 2000 eher bei 1,227 Milliarden gelegen haben als bei den 1,266 Milliarden, die offiziell angegeben wurden.

Auch die Volkszählung von 2020 führt in die Irre. Das Nationale Statistikbüro behauptet, in der Zeit zwischen 2006 und 2019 seien 227 Millionen Babys geboren worden, und der Zensusbericht zeigt, dass es im Jahr 2020 241 Millionen Chinesen im Alter zwischen 1 und 14 Jahren gab. Dies würde aber bedeuten, dass Chinas durchschnittliche Fertilitätsrate zwischen 2006 und 2019 bei 1,7 bis 1,8 lag. Angesichts dessen, dass in dieser Zeit strenge Maßnahmen zur Bevölkerungskontrolle galten (am 1. Januar 2016 wurde die Zwei-Kind-Politik eingeführt), ist dies jedoch sehr unwahrscheinlich.

Nun waren aber Chinas ethnische Minderheiten von der Ein-Kind-Politik des Landes ausgenommen, also gab es keinen Grund, ihre Geburten zu verstecken. Trotzdem lag ihre Fertilitätsrate im Jahr 2000 bei 1,66 und im Jahr 2010 bei nur 1,47. Und angesichts dessen, dass die Han-Chinesen häufig wohlhabender und besser ausgebildet sind, dürfte ihre Fertilitätsrate sogar noch geringer gewesen sein – selbst wenn sie keine strengeren Familienplanungsregeln hätten beachten müssen.

Die Wahrheit ist, dass Chinas Bevölkerungszahl im Jahr 2020 wahrscheinlich bei 1,28 Milliarden lag – etwa 130 Millionen weniger als angegeben. Damit ist nicht China das bevölkerungsreichste Land der Welt, sondern Indien (circa 1,38 Milliarden – Anm. d. Red.).

Natürlich war es klar, dass die letzte chinesische Volkszählung mit den vorherigen konform gehen würde. Für ihre Durchführung sind nach wie vor die Beamten des Nationalen Statistikbüros und der ehemaligen Familienplanungskommission zuständig, und wenn die Daten inkonsistent sind, werden sie zur Verantwortung gezogen. Aber angesichts dessen, wie wichtig die Demographie für den zukünftigen Wohlstand Chinas ist, erweisen diese Verzerrungen dem Land einen schlechten Dienst.

Sicherlich ist eine sinkende Fertilitätsrate eine erwartete Begleiterscheinung der Entwicklung – und vor allem ein Hinweis auf Verbesserungen im Gesundheits- und Ausbildungsbereich. Taiwan beispielsweise verzeichnete in den Jahren 1991 bis 2006 lediglich eine Fruchtbarkeitsrate von 1,55, und 2006 bis 2020 sogar von nur 1,09. Aber Taiwan ist China bei Gesundheit und Ausbildung um etwa 15 Jahre voraus, und die Festlandchinesen zeigen bereits heute weniger Bereitschaft, Kinder zu bekommen, als ihre taiwanesischen Nachbarn.

Nein, in China geschieht etwas anderes, und es ist nicht schwer zu sehen, was es ist: Nach 36 Jahren einer strengen Ein-Kind-Politik und der folgenden Zwei-Kind-Politik hat sich die Einstellung der Chinesen gegenüber Heirat und Kindergeburten grundlegend verändert (die Scheidungsrate ist in Festland-China 1,5mal so hoch wie in Taiwan).

Aber die chinesische Führungsspitze hat die demographischen Herausforderungen, vor denen sie steht, noch nicht völlig begriffen. Natürlich trifft sie Maßnahmen, um die Fertilitätsrate zu steigern. Aber sie scheint auch von den – auf (verzerrten) offiziellen Daten beruhenden – Prognosen der staatlichen Ökonomen überzeugt zu sein, Chinas BIP würde immer weiter wachsen, bis es dasjenige der Vereinigten Staaten übertrifft. Es ist dieser Glaube an Chinas unaufhaltsamen Aufstieg, der sie dazu veranlasst hat, strategisch zu expandieren.

Auch der Westen glaubt an dieses Narrativ. Indem sie die demographischen Herausforderungen Chinas unterschätzen, überschätzen die westlichen Politiker die wirtschaftlichen und geopolitischen Aussichten des Landes. Sie sehen einen feuerspeienden Drachen, aber in Wirklichkeit haben sie eine kranke Eidechse vor sich. Dies erhöht die Gefahr strategischer Fehleinschätzungen auf beiden Seiten.

Bis etwa 2035 wird China bei allen demographischen Kennzahlen schlechter abschneiden als die USA – und auch hinsichtlich des Wirtschaftswachstums. In der Tat wird das chinesische BIP wahrscheinlich nicht größer werden als das der USA. Dies müssen Chinas Politiker erkennen – und strategisch einen Schritt zurück gehen.

Copyright: Project Syndicate, 2021.

www.project-syndicate.org

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

Über den Autor: Yi Fuxian ist leitender Wissenschaftler auf dem Gebiet der Geburtsheilkunde an der „University of Wisconsin“. Sein Bestseller „Big Country With an Empty Nest“ über Chinas Ein-Kind-Politik wurde in der Volksrepublik verboten.

***

Yi Fuxian, Senior Scientist in den Forschungsbereichen Geburtshilfe und Gynäkologie an der University of Wisconsin-Madison, ist Autor von Big Country with an Empty Nest (China Development Press, 2013).


Mehr zum Thema:  

DWN
Panorama
Panorama Corona-Querdenker: Michael Ballwegs Rolle in der Pandemie - und darüber hinaus
05.10.2024

Während der Corona-Pandemie war die Querdenken-Bewegung, die Michael Ballweg initiierte, eine zentrale Plattform für Maßnahmenkritiker....

DWN
Finanzen
Finanzen DAX schließt schwache Woche im Plus
04.10.2024

Der DAX konnte trotz einer insgesamt schwachen Börsenwoche am Ende zulegen. Der deutsche Leitindex stieg durch einen starken...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft US-Arbeitsmarkt übertrifft Erwartungen - Zinsschritt wohl weniger wahrscheinlich
04.10.2024

Der US-Arbeitsmarkt hat sich im September überraschend erholt und zeigt sich nach einer Phase der Schwäche wieder deutlich stärker. Die...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Störung bei Flugsicherung - schon wieder: Flugausfälle und Verspätungen an deutschen Flughäfen
04.10.2024

Eine Störung bei der Deutschen Flugsicherung hat erneut zu massiven Verzögerungen und Flugausfällen geführt. Besonders betroffen war...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Abwanderung nach Osteuropa: Zughersteller Alstom schließt Werk im sächsischen Görlitz
04.10.2024

Die Abwanderung der Industrie geht weiter: Der französische Zugbauer Alstom kündigt die Werk-Schließung an und verlässt Deutschland...

DWN
Politik
Politik EU-Mitgliedstaaten ermöglichen Auto-Zölle gegen China
04.10.2024

Die EU hat den Weg für Auto-Zölle gegen China geebnet, trotz Bedenken aus Deutschland. Es fand sich keine Mehrheit der EU-Staaten gegen...

DWN
Politik
Politik Bürgergeld: Auswirkungen der höheren Ausländerquote
04.10.2024

Die Anzahl der ausländischen Bürgergeldempfänger ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen und erreichte zuletzt 2,7 Millionen....

DWN
Finanzen
Finanzen Versicherungspflichtgrenze: Wen trifft die Steigerung im Jahr 2025 und wer profitiert?
04.10.2024

Ab 2025 wird der Wechsel in die private Krankenversicherung deutlich schwieriger – die Versicherungspflichtgrenze steigt auf 73.800 Euro....