Der schwedische Sonderweg in der Corona-Krise war geprägt von Maßnahmen, die weitaus zurückhaltendenr waren als in Deutschland. Am 29. September werden nun fast alle noch verbleibenden Corona-Beschränkungen aufgehoben. Anders Tegnell, der führende Epidemiologe des Landes, fühlt sich durch die Entwicklungen der letzten 18 Monate bestätigt. Er betrachtet den schwedischen Umgang mit der Krise, den er entscheidend geprägt hat, im Rückblick als den richtigen.
"Ich denke, wir haben von Anfang an versucht zu argumentieren, dass wir lernen müssen, mit dieser Krankheit zu leben", so Tegnell im Interview mit Unherd. Immer mehr Länder würden jetzt diesen Standpunkt vertreten. Denn man könne die Krankheit kontrollieren, sie aber nicht ausrotten. "Wir müssen ein gewisses Maß an Verbreitung in der Gesellschaft akzeptieren. Wir müssen wahrscheinlich akzeptieren, dass es in unseren Krankenhäusern auf absehbare Zeit einige Fälle von Covid-19 geben wird, genauso wie wir einige Fälle von Grippe oder vielen anderen Krankheiten akzeptieren."
Im Hinblick auf die Impfungen gegen Corona steht der schwedische Chef-Epidemiologe im Einklang mit den meisten seiner ausländischen Kollegen. Er betrachtet sie als "fantastisch", da sie seiner Ansicht nach einen gewaltigen Unterschied im Kampf gegen Covid-19 ausmachen. "All die anderen Dinge, die wir ausprobiert haben, werden nicht mehr so wichtig sein, denn die Erreichung einer hohen Impfquote ist der einzige Weg, wie wir diese Pandemie überwinden können. Einen anderen Weg scheint es wirklich nicht zu geben."
Tegnell geht davon aus, dass der kommende Winter viel leichter sein wird, als der letzte Winter. "Denn 95 oder 96 Prozent der Menschen, die im letzten Winter schwer erkrankten, sind jetzt geimpft und haben einen guten Schutz. Und ich denke, wir haben allen Grund zu der Annahme, dass dieser Schutz den Winter über bestehen bleibt. Es könnte Gruppen geben, die eine weitere Impfung benötigen. Wir haben genügend Impfstoffe und Ressourcen. [...] Es wird definitiv einige Fälle geben, die im Krankenhaus behandelt werden müssen."
Tegnell räumt ein, dass Corona im letzten Winter gefährlicher war, als er erwartet hatte. "Aber viele nordische Länder hat es viel schlimmer erwischt. Wenn man sich die Übersterblichkeit ansieht, hat Schweden zum Beispiel gar nicht so schlecht abgeschnitten, vielleicht vier oder fünf Plätze über den Schlusslichtern in der Europäischen Union. Aber es war definitiv ein viel höheres Maß an Immunität in einer Bevölkerung erforderlich, die sich nur durch Impfung wirklich verändern kann, um diese Krankheit in irgendeiner vernünftigen Weise zu kontrollieren."
Den Sonderweg Schwedens im Hinblick auf Corona erklärt Tegnell mit dem "hohen Maß an Respekt und Vertrauen", dass die Schweden ihrer Regierung und ihren Behörden entgegenbringen. "Deshalb konnten wir auf freiwilliger Basis ziemlich viel bewirken."
"Der andere Aspekt ist, dass wir durch das bestehende Rechtssystem gezwungen sind, uns auf Bereiche zu konzentrieren, wo wir wirklich eine hohe Bedrohung sehen, wo ein hohes Übertragungsrisiko besteht. Daher haben wir Restaurants sehr stark reguliert und andere Bereiche der Gesellschaft offener gelassen. Wir konnten nämlich feststellen, dass sich die Krankheit in Restaurants ausbreitete. Aber wir konnten nicht feststellen, dass sich die Krankheit durch junge Leute verbreitet hätte, die Fußball spielten oder ähnliches."
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Besonders stolz ist Tegnell darauf, dass die Schulen in Schweden offen geblieben sind. "In den Schulen haben wir definitiv keine große Verbreitung gesehen. Wenn man schwedische Kinder fragt, sind sie definitiv von der Pandemie betroffen, aber in einem viel geringeren Ausmaß, als es der Fall gewesen wäre, wenn wir die Schulen geschlossen hätten. [...] Auf globaler Ebene weisen die Vereinten Nationen und viele andere darauf hin, dass die geschlossenen Schulen für die Kinder eine der größten Katastrophen sind, die diese Pandemie hervorgebracht hat."
Ein entscheidender Vorteil des schwedischen Sonderwegs bestand laut Tegnell darin, dass es in Schweden relativ friedlich war. "Wir hatten keine so große Spaltung wie in den USA und anderen Ländern, ob man nun die Maske aufsetzen sollte oder nicht." Zwar gebe es die übliche Kritik an der Regierung, und viele Leute hätten ihm in Emails geschrieben, dass sie einige Maßnahmen für falsch halten, so Tegnell. "Aber wenn ich auf die Straße gehe, gibt es nur Daumen nach oben."